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Beate Broßmann: KASSIBER

Aktualisiert: 16. März

Vor ein paar Jahren erfuhr ich durch einen Beitrag in einem Kulturmagazin von der erfolgreichen Eröffnung einer Galerie für verstorbene Bilder in W. Jeder, der in der Erbmasse seiner Verwandten Fotografien vorfindet, mit denen er nichts anfangen kann, weil sie ihn – aus welchem Grund auch immer – nicht interessieren, möge sie zu jener Galerie bringen, lautete die Aufforderung der beiden Betreiber. Ja nicht entsorgen! war die eindringliche Bitte. Abhängig von Umfang und Qualität der Bilder würden die Eigentümer auch vergütet. Die Objekte würden gesammelt und ausgestellt. Liebhaber alter Fotos könnten sich diese ansehen und, bei Gefallen, käuflich erwerben. Wenn ich mich recht erinnere, verwendeten die beiden Galeristen sogar den Begriff Adoption. Das interessierte mich.



Leipzig, frühe 90er: Verlebte Stadt
Leipzig, frühe 90er: Verlebte Stadt

Ich hatte eine Zeitlang selbst mit Vorliebe schwarz-weiß fotografiert und die Filme in der eigenen Dunkelkammer entwickelt und vergrößert. Das Flüchtige der Welt um uns, insbesondere das Verschwinden ganzer Lebensorte nach dem Wechsel des gesellschaftlichen Systems, traf auf meine Melancholie und das daraus hervorgehende Bedürfnis, festzuhalten.


Leipzig ist ein Ort par excellence für Liebhaber des Verfalls gewesen. Man hörte: wäre die „Wende“ erst zehn Jahre später „gekommen“, hätte sich das Problem der Erhaltung und Renovierung der Gründerzeithäuser, die die Stadt dominieren, von selbst erledigt. Es wäre nur noch darum gegangen, abzureißen und neu zu bauen. Eine sterbende Stadt. Eine aufgegebene Stadt.


Westdeutsche empfanden den Anblick der rußgeschwärzten Fassaden manchmal als pittoresk. Sie meinten auf einer Zeitreise in die dreißiger, vierziger oder fünfziger Jahre zu sein. Zusammen mit dem fehlenden Wohnkomfort eigneten sich die Immobilien hervorragend als Kulisse für Filme zum Thema „deutsche Geschichte“. Kaputte Dachrinnen, lückenhafte Dachziegel. Abbröckelnder Putz und freiliegende Ziegelsteine. Schüsseln und Badewannen auf dem letzten Treppenabsatz als Antwort auf undichte Dächer. Unverschlossene und unverschließbare Häuser, die von jedem und jederzeit betreten werden konnten. Funzeliges Hausflurlicht, das in kurzen Intervallen erlosch. Fehlende Beleuchtung der Lichtschalter, so dass der Besuch oder der Eindringling ohne Taschenlampe verloren war. Ausgetretene Treppenstufen, die schon seit Ewigkeiten keine Farbe und kein Bohnerwachs gesehen hatten und laut knarzten. Vollkommen leerstehende Häuser, denen nicht mehr zu helfen war und die den Begriff „Haus“ nicht mehr verdienten. Namenszüge von Besitzern oder Pächtern kleiner Handwerksbetriebe und Ladengeschäfte in melancholischer Eintracht neben Bannern, Plakaten und Schildern mit abstrusen Propaganda-Parolen, die die behauptete Überlegenheit des Sozialismus vor diesem Hintergrund Lügen straften. Verbeulte Briefkästen. Toilette einen halben Stock tiefer. Sanierungsstau allerorten.


Ich liebte diese verlebte Stadt – eine alte Dame ohne Schminke. Das ganze 20. Jahrhundert war in ihren Gründerzeithäusern erhalten geblieben. Man lebte hier nicht nur in der Gegenwart. Fehlende Häuser in den langen Straßenzügen wirkten wie Zahnlücken, wurden nicht gefüllt und hielten die Erinnerung an den Krieg wach. Der Begriff Lückenbebauung existierte schlicht nicht.


In den frühen neunziger Jahren flanierte ich durch Stadtteile, die mir bis dahin kaum bekannt waren, lichtete atmosphärische Straßenzüge, Gebäude, Plätze und verlassene Industriebetriebe mit ihren gigantischen Hallen ab. Manche von ihnen widerstanden den stärksten Weitwinkel-Objektiven.

Einmal war ich im „Industriegelände West“ unterwegs, nahm Fassaden offenkundig leerstehender Gebäude auf und entwickelte die Fotos zu Hause. Und dann hatte ich mein „Antonioni-Erlebnis“.


In dessen Film „Blow up“ von 1967 stieß ein Journalist bei der Entwicklung eines Negatives auf ein Detail, das er beim Ablichten überhaupt nicht bemerkt hatte: ein Mord war vor seiner Linse geschehen. Und er besaß den Beweis. Mein Erlebnis mit einem Bild, das mehr gesehen hat als ich, war harmloser: Die Silhouette eines Mannes war deutlich hinter einer der Fensterscheiben des Verwaltungsgebäudes zu erkennen. Der Mann hatte mich gesehen und drohte mir mit einer ausladenden Armbewegung, die mich verscheuchen sollte. Es war die Kamera, die mir die Sicht auf die Realität versperrte und mich erst nach der Vergegenständlichung dessen, was er gesehen hatte, einweihte. Der Mann wollte offensichtlich keine Zeugen – aber wovon? Im Unterschied zum Journalisten im Film ging ich der „Sache“ nicht nach. Ich genoß nur die Magie, die im Abbilden der Welt liegen kann.


Der Meldung, daß eine Galerie für verstorbene Bilder gar nicht so weit von mir entfernt existieren soll, ging ich aber selbstverständlich nach. Ich hatte keinerlei Kontaktdaten und versuchte zunächst, den Fernsehbeitrag im Internet zu finden. Nichts. Ich wandte mich an den Fernsehsender. Keine Antwort. Ich fragte im Bekanntenkreis herum. Niemand hatte je davon gehört. Zu guter Letzt rief ich bei einer alten Klassenkameradin an, die in W. lebte. Sie wußte ebenfalls nichts von einer derartigen Galerie, und auch ihr Befragen anderer in dieser Stadt Lebender verlief im Sand. Vielleicht war es nur eine Ente oder ein joke der Redaktionsmitarbeiter, befürchtete ich inzwischen. Ich hätte so gern in den Aufnahmen fremder Menschen von fremden Menschen gestöbert und mir Lebensläufe dazu ausgedacht…


Auf andere als die erhoffte Art und Weise gelangte dann aber doch noch ein solch verstorbenes Bild in meine Hände: Ich kaufte in einem Gebrauchtwarenhaus für Möbel einen Schreibtisch, dessen Geburt ich in den zwanziger, spätestens dreißiger Jahren vermutete. Er war braun und hatte naturgemäß einige Alterserscheinungen: Die linke Tür ließ sich nur schwer öffnen. An der rechten Tür fehlte der Schlüssel. Nur dort, wo die Schreibunterlage sich befunden hatte, war das Holz nicht abgenutzt. Sie benötigte dringend eine Behandlung mit Möbelpolitur. Die Tintenflecke waren nicht mehr zu beseitigen. Macht nichts – mir gefiel das Möbelstück ja gerade deshalb, weil man ihm seine Lebensleistung ansah.


Beim Öffnen der Schublade erlebte ich die kleine, schöne Überraschung: Dieser ganze Schreibtisch war leer. Aber in der Schublade, an ihrem tiefsten Ende, wartete ein kleines Bild auf mich. Es besaß die feine Ziselierung der Bildkanten , die es schon lange nicht mehr gibt, und war ein schwarz/weiß-Foto von der Größe, die in einen Bilderrahmen paßt, wie man sie gewöhnlich auf Schreibtischen oder auf Möbelvorsprüngen sieht. Darauf war eine kleine dicke Oma im Schürzenkleid und ein ebenfalls betagter, hagerer und wesentlich größerer Mann im feinen schwarzen Anzug und mit einer kreisrunden Brille zu sehen, die zusammen in die Kamera blickten. Ich adoptierte die beiden sofort. Bestimmt war dieser Mann der ursprüngliche Besitzer meines verlebten Möbelstücks gewesen. Ich rahmte das Bild ein und wies ihm einen dauerhaften Platz auf dem linken Flügel der Tischplatte zu. Wer nach den Personen auf dem Bild fragte, bekam die Auskunft, das seien meine Großeltern. Ich selbst hatte keine gehabt. Die Adoptierten sehen mich an, wenn ich arbeite, und lenken mich so manches Mal von meinen professionellen Gedanken ab. Na, scheinen sie zu fragen, weißt Du inzwischen, wer wir sind? In welcher Gegend lebten wir? Sind wir verheiratet oder verwandt? Magst Du uns? Natürlich mag ich Euch! Sonst würde ich Euch doch nicht vor mir aufbauen!


Ich selbst habe das Fotografieren aufgegeben. Es ist trivial geworden, seitdem allerorten herumgeknipst wird, vorzugsweise, um sich selbst zu (re-)produzieren. Ein narzißtischer Spaß ohne jede Tiefenschärfe. Alle Winkel der Erde sind totgeschossen. Und meine Lieblingsmotive trifft man kaum noch an. Ich halte die Vergangenheit nicht mehr fest. Ich lasse sie los. Und sehe, was kommt.


  *


Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.



Titel- und Beitragsfoto im Original: Colomen, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia



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