Hat man von der Niveaulosigkeit und Konventionalität heutiger Filme genug, begebe man sich in die Filmgeschichte. Viele Perlen sind in Vergessenheit geraten oder haben es nie in die großen Kinos geschafft. Arthouse eben. Programmkino. Filmkunst.
In einem Stadtteil von Paris sehen die Straßen und Häuser im Jahre 1973 aus wie in der damaligen DDR. Hier leben die „kleinen Leute“ – schicksalsergeben, trost- und freudlos. Der Bauarbeiter und Anstreicher Themroc kocht Kaffee. Seine Vermieterin betritt die Küche und zeigt wortlos auf die Kuckucksuhr: Es ist sechs. Sie wird in dem Film keinen Satz sagen. Ab und zu entweicht ihr ein Hickser, der klingt, als würde sie nach Luft ringen. Themroc hustet. Der Zuschauer weiß noch nicht, daß in den folgenden anderthalb Stunden kein gesprochenes Wort zu identifizieren sein wird.
In der Umkleide des Industriebetriebes geht es temperamentvoll zu. Die Männer foppen und keilen sich, streiten und lachen. Aber in keiner menschlichen Sprache, sondern in ans Französische erinnernde Lautmalerei. Der ganze Film ist eine Art Pantomime mit lautlichen Hieroglyphen. Michel Piccoli (Nanu? War er in jungen Jahren tatsächlich rothaarig? Ich glaube nicht…) tobt in einer Toilettenzelle wie ein wildes Tier. Jahrzehntelang hatte er funktioniert – nach Maßgabe der Stechuhr. Jetzt wurde er wegen einer Kleinigkeit gerügt und vielleicht sogar entlassen (die Pantomime im Büro des Chefs ist nicht eindeutig) und fällt aus der Rolle. Mit unheimlicher Wut und Kraft – der Kraft der Wut – demoliert er die Spinde seiner Kollegen und verläßt die Fabrik. Auf den Gleisen im Tunnel der U-Bahn stehend, schreit er die vorüberrasenden, ohrenbetäubenden Lärm machenden Züge an und hetzt nach Hause. Ein Mädchen hängt sich an ihn, fasziniert von seiner Kraft und Wildheit. Er schnappt sich eine Schubkarre, lädt große Zementsteine eines abgerissenen Hauses darauf und schiebt die Fuhre in seinen Innenhof. Anschließend vermauert er seine Wohnungstür im dritten Geschoß und schlägt in Berserkermanier das Fenster zum Hof einschließlich der gesamten Wand in Trümmer. Den Steinen wirft er sein gesamtes Mobiliar und seine Kleidungsstücke nach – direkt in den Innenhof. „Michel Piccolli [sic!] grummelt, schreit, röhrt, grunzt, knurrt und grölt sich bewundernswert durch den sprachlosen Film und zerstört radikal sein Salonlöwen-Image“ war 1974 in der ZEIT zu lesen.
Die Nachbarn treten aus ihren Häusern und schauen dem befremdlichen Treiben zunächst neugierig, aber stumm zu. Die Polizei versucht, dem Rasenden Einhalt zu gebieten, aber Themroc schubst sie sanft von der Strickleiter. Die Tränengaspatronen wirft er mit der Frau von gegenüber, die dabei ist, ihre Außenwand zu zerschlagen, spielerisch hin und her. Der Werwolf kopuliert mit ihr und seiner Schwester, und alle Welt sieht und hört ihnen dabei zu. Viele Nachbarn folgen seinem Beispiel, öffnen ihre Behausungen und verwandeln sie in Höhlen. Des Nachts schleicht der Wüstling durch die Straßen, sucht nach Eßbarem und trinkt aus Pfützen. Er tötet zwei Polizisten und schleppt sie in seine Höhle. Sie werden am Bratspieß gedreht und ernähren das ganze Karree. Und dann ertönt ein Heulen, wölfisch, orgastisch, aus hundert Kehlen gleichzeitig. Alles Aggressive mündet in Lust und Lebensgenuß.
Ein solcher Film würde heutzutage nicht mehr gezeigt. Zum einen ist er hochgradig antifeministisch. Die schönen jungen Pariserinnen verfallen dem Tier im Mann reihenweise. Zudem ist er politisch inkorrekt und verstößt in skandalöser Art und Weise gegen das heutige Ideal der fleischlosen Ernährung. Und der Zeitgeist steht heute auch nicht mehr auf „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Anarchie ist out. Die Menschen laufen am Gängelband. Die Welt wurde so zugerichtet, daß sie nichts anderes mehr kennen und wollen. Eruptionen gelten heute nur noch dem herbeimanipulierten politischen Feind und nicht mehr dem gesellschaftlich-ökonomisch-kulturellen System.
Übrigens: Bevor Themroc die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu fahren, betrat er vorsichtig und leise das Zimmer seiner Schwester, die unbekleidet schlief, und sog genüßlich den Duft ihres Körpers ein, seine Nase so nah wie möglich an ihrem Körper entlang wandern lassend – wie einst Jean-Baptiste Grenouille.
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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.
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