Wer kennt sie nicht, die Zeilen, die Bertolt Brecht nach der Niederschlagung des Arbeiter- und Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 unter der auch hier verwendeten Überschrift schrieb:
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
Noch einfacher fasst es der alte Spontispruch, »wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten«. In Thüringen sind wir am 26. September Zeugen der Selbstabschaffung der parlamentarischen Demokratie geworden. Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat schon 1926 in seiner Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus darauf hingewiesen, dass die der Gedankenwelt des Liberalismus entstammende Idee eines »government by diskussion« mit der Wirklichkeit des massendemokratischen Parteienstaats hinter der Fassade nicht mehr viel zu tun hat. Der westdeutsche Parteienstaat hat in Erfurt mit begeisterter Unterstützung des Bündnisses Sahra Wagenknecht auf offener Bühne praktiziert, was Schmitt einst diagnostizierte: »Zur Demokratie gehört notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.« Die Homogenität des Parteiensyndikats speist sich aus ihrem inszenierten »Antifaschismus«, der alle Unterschiede von CDU bis Linkspartei einebnet. Ausgeschieden – mancher denkt wohl auch »vernichtet« – werden soll die »rechte« Opposition. Dass das Volk sie bei freier Wahl zur mit Abstand stärksten politischen Kraft gemacht hat, geschenkt. Diese Wähler haben das Vertrauen der Obrigkeit verspielt.
Die letzten Reste der Würde des Parlaments sind bei der Inszenierung in Thüringen vor allem von den Vertretern der CDU ad absurdum geführt worden. In erster Linie nicht von der AfD (wie von der üblichen Hofberichterstattung behauptet), sondern von den sich als alleinige Demokraten herausputzenden Syndikatsparteien von Linkspartei bis CDU. Das BSW ist als Lückenbüßer in atemberaubendem Tempo in die Rolle der aus dem Landtag gewählten Grünen geschlüpft und hat gemeinsam mit der CDU rechtswidrig den Weg dazu öffnen wollen, die stärkste Partei im Landtag von grundlegenden parlamentarischen Verfahrensrechten auszuschließen. Man möchte nicht glauben, dass das Sahra Wagenknechts neuer Politikstil sein soll. Einziges Ziel ihrer Attacken auf Tradition und Geist der parlamentarischen Demokratie: Zu verhindern, dass die AfD als stärkste Fraktion die Parlamentspräsidenten vorschlägt.
Ein Landtag, der sich noch nicht endgültig konstituiert hat, kann sich schwerlich eine neue Geschäftsordnung geben, die neue Mehrheiten vorher zu ihren Gunsten in Hinterzimmern ausgehandelt haben. So die Rechtsauslegung des Alterspräsidenten Jürgen Treutler von der AfD. Damit steht er nicht alleine, für diese Auslegung gibt es gute Gründe: Die Präsidentin des vorigen Landtags, die kein Mandat mehr hat, ist darauf beschränkt, den neuen Landtag einzuberufen. Sie kann aber nicht Anträge einer Fraktion des neuen Landtags gegen den Willen der größten Fraktion eigenmächtig nachträglich auf die Tagesordnung heben. Das genau ist aber geschehen. Die erneuerte Tagesordnung vom 19. September enthält den Antrag von CDU und BSW zur Änderung der Geschäftsordnung unter Tagesordnungspunkt (TOP) 4 – also noch vor der Wahl des Landtagspräsidenten. Die Tagesordnung vom 16. September enthielt diesen Punkt nicht. Ein Schelm, wer da nicht an Manipulation denkt, um unliebsame »rechte« Parteien von jeglichem Einfluss im parlamentarischen Verfahren fernzuhalten. Gipfel der Geschmacklosigkeit war der Zwischenruf aus Reihen der CDU, hier praktiziere der sich an die alte Geschäftsordnung haltende Alterspräsident die »Machtergreifung« der AfD. Zitieren wir gegen die geballte Hofberichterstattung deutscher Mainstreammedien die liberale Schweizer NZZ: »Tatsächlich verhielt sich Treutler korrekt, während die CDU in beispielloser Weise Obstruktion betrieb.«
Wer unmittelbar vor der Wahl des Landtagspräsidenten zu seinen Gunsten die Spielregeln ändern und langjährige parlamentarische Traditionen abschaffen will, untergräbt das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Dass das Syndikat sich bei diesem Angriff auf Grundlagen des Parlamentarismus erneut als einzige demokratische Kraft und seine Machtdemonstrationen sogar dreist als antifaschistischen Widerstand »zum Schutz der demokratischen Ordnung« inszenierte, ist würdelos, undemokratisch – und menschenverachtend gegenüber immerhin jedem dritten Wähler in Thüringen.
Thüringen zeigt, dass sich dieses zu alleinigen Demokraten umdeutende Syndikat beim Machterhalt mit der Beschwörung des ewigen »Nazi« nicht einmal mehr die Mühe gibt, die demokratische Fassade des Parlaments aufrechtzuerhalten. Sinnvolle Herrschaft in ihrem Sinn wird zur Herrschaft der Erleuchteten umgedeutet, der allein Wissenden. Die Demokratie deuten sie um zur Epistokratie, weil nur sie als selbsternannte Solodemokraten die »freiheitlichen Werte« des Westens sichern können. Dass ausgerechnet das hilflos agierende politische Spitzenpersonal in Berlin, Dresden oder Erfurt glaubt, allein grundlegende ökonomische und politische Zusammenhänge besser zu begreifen als große Teile des Volks, grenzt schon an Satire.
In Thüringen entscheidet jetzt das Landesverfassungsgericht bis zum Wochenende darüber, welche Rechtsauffassung gilt. In Erfurt vollzieht sich auf offener Bühne in diesen Tagen der vielleicht letzte Akt des Schauspiels, dass das Parlament vor aller Augen zu einem bloß praktisch-technischen Mittel degradiert wird. Die Mehrheit im Landtag führt vor, daß das Parlament als Institution der politischen Kompromisssuche und des freien Meinungsaustauschs via facti nur noch Fassade ist – und damit als demokratisches Zentrum erledigt. Dazu braucht es keine offen autoritären Regime; es reicht schon irgendein Verfahren.
Über den Autor: Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung
Titelfoto: Alupus, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
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