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Hans Günter Holl: SHARED REALITY – EIN NEUER STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT

Aktualisiert: vor 24 Stunden

Der englische Philosoph A. N. Whitehead, bekannt für seine prozessual angelegte, die Welt als Organismus begreifende Kosmologie, hat Anfang des 20. Jahrhunderts prinzipiell zwischen Realität (reality) und Wirklichkeit (actuality) unterschieden. Da die beiden Begriffe meist als Synonyme verwendet wurden, erschien die Betonung ihrer heterogenen lateinischen Wurzeln res und actus, auf der seine Distinktion beruhte, als ziemlich manieriert. Damals erkannte oder durchschaute man offenbar noch nicht, welche brisanten Konsequenzen dieser unscheinbare ontologische Dualismus für den sozialen Stellenwert und Effekt aller Arten von Publikationen in sich barg.

 

Betrachten wir zum Beispiel Streitschriften, Partituren oder Dramen. Sie alle bildeten Realitäten, die abgestufte Formen der Verwirklichung vorbereiteten. Zunächst wurden sie von Einzelnen durch Lektüre, Einübung oder Imagination zum inneren Leben erweckt. In einer nächsten Phase konnten sie durch Austausch, Vorträge oder Inszenierungen aktiv mit anderen geteilt werden, ohne schon eine breitere Öffentlichkeit einzubeziehen. Doch selbst wenn sie im Druck und später als Lesungen, Appelle, Konzerte oder Aufführungen ein größeres Publikum erreichten, blieb ihre Wirkung begrenzt, da die Einzelnen oder Gruppen das ihnen Präsentierte je für sich verarbeiten mussten und so keine Macht als Kollektiv entfalten konnten. Man möchte sagen, dass sie in multiplen monadischen

Wirklichkeiten isoliert blieben.

 

Im dritten Strukturwandel

 

Jürgen Habermas hat in seinem besten Werk, „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, bereits 1962 darauf hingewiesen, dass ab dem späten 18. Jahrhundert die Presse ein neues Verhältnis zwischen jener hermetischen Privatsphäre und einem bürgerlichen Gemeinwesen begründete: Sie habe die „Kaffeehäuser, Salons und Tischgesellschaften“ – nicht zu vergessen Kanzeln, Lehrstühle und Bühnen – als Agenturen der Publizität abgelöst und „im öffentlichen Raisonnement“ dem Kriterium „der Vernunft“ unterworfen. Fast könnte man von einer „Dialektik der Aufkärung“ sprechen, wenn Habermas bei der weiteren Entwicklung schon wieder ein „Ende der Öffentlichkeit“ diagnostizierte, da die Medien, schließlich um den Rundfunk erweitert, nicht mehr dem kritischen Räsonnement eines bürgerlichen Publikums dienten, sondern unter die Räder kommerzieller und politischer Interessen gerieten.

 

Angesichts solcher Vereinnahmung und ihrer dramatischen Folgen spricht man heute von „einem dritten Strukturwandel“ respektive „einer digitalen Transformation der Öffentlichkeit“. Diese wird überwiegend als verschärfte Entmündigung aufgefasst, obwohl die neue „Netzwerköffentlichkeit“ durch eine gewisse „Reflexivität des Diskurses“ geprägt sei. Dem stehe jedoch gegenüber, dass sich der Diskurs insgesamt im Kontext finanzieller und politischer Macht abspiele, wobei Macht im Sinne Max Webers definiert wird als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Dabei geht es zunächst einmal nicht um die geteilten Inhalte der Akteure selbst, sondern um das Vermögen, Social Media, Blogs oder Portale frei von Zensur und Verboten bereitzustellen und am Leben zu erhalten. Dieses vor allem ökonomische, aber auch strategische Potenzial ist heute die conditio sine qua non aller Bestrebungen, sich in öffentliche Debatten einzumischen und sich in ihnen Gehör zu verschaffen.

 

Diffuse, aber atmende Öffentlichkeit

 

Hier kommt, gerade was die „User“ angeht, Whiteheads ontologische Differenz ins Spiel. Nicht nur sind die „Follower“ der Social Media vielfach zugleich Redaktion und Publikum; auch ein Großteil der Portale und Blogs hat rege genutzte Kommentarfunktionen, die laufend Resonanz, Rückkopplung oder, wie es in der Informatik heißt, Feedback ermöglichen. Während die klassischen Medien ihr Publikum nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters (in der Pädagogik Frontalunterricht genannt) mit „Informationen“ und „Interpretationen“ abfüllen, wogegen nur „gar nicht erst ignorieren“ hilft, eröffnen die Social Media einen öffentlichen Raum, in dem die Einzelnen miterleben können, wie aus dem Wirrwarr von Reden und Gegenreden wechselnde Stimmungen und Meinungen emergieren. Derart sind sie Teil einer diffusen, aber atmenden und pulsierenden Öffentlichkeit, die es erlaubt, hinter der Realität von Texten, Zeichen & Bildern die Wirklichkeit wohltemperierter oder heftiger Reaktionen live zu erfassen. Auf diese Weise wird der monadische Autor und Rezipient überwunden, und es entsteht momentan eine durch kollektive Wirklichkeit vermittelte geteilte Realität.

 


Alfred North Whitehead: Überall Prozesse
Alfred North Whitehead: Überall Prozesse

Gewiss kann dieser Austausch kaum als „bürgerliches Raisonnement“ gelten, zumal er nicht, wie es Habermas vorschwebte, dem Kriterium des Strebens nach Vernunft genügt. Eher ist er, auch durch den Impuls prompter Replik und das Motiv, sich möglichst kurz zu fassen, würzig, spontan und affektbetont, mit wohlüberlegten Einsprengseln. Oft geht es in erster Linie darum, sich abzureagieren, wenn etwas auf der Seele brennt, und genau diese Ventilfunktion lässt ein viel realistischeres oder wahreres Bild der öffentlichen Stimmung entstehen als Meinungsumfragen oder sozialpsychologische Analysen.

 

Ist die Regierung der Staat?

 

Ein solches Abbild ist jedoch nicht erwünscht. Die Einzelnen sollen mit ihrer Wut, ihrem Frust und ihrer Verzweiflung in ihren privaten, monadischen Wirklichkeiten eingeschlossen bleiben, ohne sie zum Sprengsatz einer geteilten Realität konglomerieren zu lassen. Deshalb bemüht man sich zunehmend um eine möglichst prophylaktische Kontrolle der Netzwerköffentlichkeit, die vor allem durch Einschüchterung und harte generalpräventive Strafen erreicht werden soll. Sie wird, verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig, mit dem „gebotenen“ Einschreiten gegen „Hass und Hetze“ sowie gegen die zersetzende „Delegitimierung des Staates“ begründet – wobei man bewusst Regierung mit Staat verwechselt. Beide Auswüchse der Unzufriedenheit gelten als so gefährlich, dass man zum Schutz der fdGO auch schon bei Fehlverhalten „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ Exempel statuieren müsse.

 

Das Interessante und „Gefährliche“ der Social Media, womit sie den Regierenden ein Dorn im Auge sind und kujoniert werden müssen, besteht nämlich genau darin, dass sie die subversiven „Kaffeehäuser, Salons und Tischgesellschaften“ früherer Zeiten in einer neuartigen, „digitalen“ Form wiederbeleben. Wie jene wollen sie sich im Idealfall nicht darum scheren, ob die Beiträge vernünftig, moderat oder freundlich sind, solange sie nicht offen zum Umsturz aufrufen. Und wie jene schaffen sie durch Wirklichkeiten eine geteilte Realität.

 

Digitale Bevormundung ist Willkür

 

Der engagierte Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel hat in einem 2024 publizierten Bestseller die Übergriffe von Behörden und NGOs auf die magischen Netzwerke, denen es zum Verdruss des Regimes gelingt, widerspenstige Wirklichkeiten in geteilte Realität zu verwandeln, als „digitale Bevormundung“ tituliert. Diese beruht im Wesentlichen darauf, unliebsame Beiträge zu löschen (wogegen er mit Erfolg vielfach klagte), User zu sperren und bei Bedarf generalpräventiv zu bestrafen. Allerdings sind das alles keine „digitalen“ Maßnahmen, sondern ganz banal und brachial repressive Willkürakte der Exekutive und der Judikative. Die „Bevormundung“ der digitalen Netzwerker mit dem Ziel, diese Schöpfer einer neuartigen Gegenrealität mundtot zu machen, wäre kaum möglich, ohne die systematische Aufhebung der Gewaltenteilung und anderer rechtsstaatlicher Prinzipien.



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Über den Autor: Hans Günter Holl, geb. 1949, ehemals Übersetzer (Whitehead, Bateson), heute Essayist und Rechtsanwalt.


Titel- und Beitragsfoto: Wellcome Trust, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons



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