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Hans-Georg Deggau: LINKE TRANSZENDENZ? KLEINE ÜBERLEGUNGEN ZU HARTMUT ROSA UND BERND STEGEMANN


Es mag etwas verwegen klingen, Hartmut Rosa als linken Soziologen zu bezeichnen, aber zu dem kleinen Band, um den es hier geht, nämlich Demokratie braucht Religion (München: Kösel 2022), hat Gregor Gysi das Vorwort beigesteuert – mehr Linke geht kaum. Zudem entschuldigt er sich dafür, dass „eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden“ konnte. Er hat sich selbst in einem Interview mit der taz FUTUR ZWEI als „nah der adornitischen Linie“ bezeichnet. Darum sei die abgekürzte und vereinfachende Redeweise gestattet.



Bernd Stegemann, um dessen Buch Die Öffentlichkeit und ihre Feinde (Stuttgart: Klett-Cotta 2015. vgl. Kapitel 5 Die Krise der Öffentlichkeit im Anthropozän und Ende) es hier geht, war Mitinitiator und Stratege der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ und ist schon nach seiner Selbstbeschreibung ein „Linker“. Trotz aller Problematik indiziert „links“ eine bestimmte Vorstellungswelt und weckt Erwartungen, die alltäglich als „links“ bezeichnet werden.

Die Linke, die sich traditionell eher auf die Realisierung oder Ausarbeitung weltlicher Programme konzentriert und sich für die Armen und Geknechteten einsetzt, ist von dem Begriff der Transzendenz weit entfernt; einem Begriff, den viele schlicht mit „Gott“ oder „Jenseits“ übersetzen. Deshalb ist a priori ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen „links“ und „Transzendenz“ gegeben. Umso aufschlussreicher ist es, den Umgang dieser „Linken“ mit der Transzendenz zu beobachten. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass kluge Linke sich in ganz ungewohnter Weise von Dogmatismus und alten Wahrheiten entfernen und mehr an den realen Problemen als an Parolen und einer sich wiederholenden Phraseologie interessiert sind. Das wäre eine überraschend positive Perspektive!


Vielleicht ist es unsinnig, Transzendenz als „rechts“ oder „links“ zu bezeichnen. Trotzdem ist darauf aufmerksam zu machen, dass Transzendenz hier überhaupt von politischer oder soziologischer Seite thematisiert wird, ohne zu moralisieren. Bemerkenswert ist das, weil eventuell neue Perspektiven entstehen, die man nicht mit linken Ideen zusammenbringt. Linke Transzendenz hört sich also merkwürdig an. Sie überrascht mit dem Versuch, Transzendenz zu denken und so die üblichen Muster und Polaritäten in Frage zu stellen. Der Sinn ist, Abstand zu nehmen und das eigene Denken und die eigene Vorstellungswelt mit etwas zu konfrontieren, dass nicht vorgesehen und nur schwer zu denken ist, aber sehr hilfreich werden kann, ja sogar Bestand oder Rettung bieten könnte.


Vorab aber ein Hinweis auf die unterschiedlichen Thematiken der beiden Texte. Bernd Stegemann sieht die demokratische Öffentlichkeit und damit auch den linken Diskurs am Abgrund und zeigt scharfsinnig, wie die herrschenden Identitätspolitiken und Kommunikationsstrukturen den demokratischen Diskurs insgesamt blockieren. Er sieht die moderne Gesellschaft in einen Strudel geraten, „dessen permanente Beschleunigung in den Untergang führt“.


Hartmut Rosa will den Titel seines Vortrages bestätigen: Demokratie braucht Kirche. Er rekurriert auf seine Theorie der Resonanz. Er glaubt, ohne eine Verstärkung der gesellschaftlichen Resonanz werde die aktuelle Gesellschaft untergehen. Sie sei so stark im Prozess notwendiger Beschleunigung befangen, dass sie ihr Überleben dadurch aufs Äußerste gefährde. Beide Texte weisen bis in die Wortwahl ähnliche Strukturelemente auf. Sie halten den aktuellen Zustand der Gesellschaft für katastrophisch und rekurrieren zur „Rettung“ auf Transzendenz.


Stegemann analysiert die sich blockierende Gesellschaft. Er plädiert explizit für eine „ökologische Transzendenz“, um dem „allgemeinen Transzendenzverlust“ entgegenzuwirken. „Die Suche nach der verlorengegangenen Transzendenz (ist) vielleicht die wichtigste Anstrengung“. Er sieht das Anthropozän „als ein transzendentes Ereignis“, das „sich unserem rationalen Denken und unserem sinnlichen Vorstellungsvermögen“ entzieht. „Das Anthropozän ist für uns noch zu groß, um es zu begreifen, und zu kompliziert, um es denken zu können“. Es lässt sich weder durch rationales Denken noch durch Aktivismus erreichen, es ist nicht erzwingbar. In erstaunlicher Konsequenz scheut sich unser Marxist nicht, einen göttlichen Akt zu evozieren: „Es braucht immer den Akt göttlicher Gnade, der die Transzendenz ins Jetzt der Menschen holt“. Ein Hören auf ein Anderes, ein Vernehmen, dass erst das Göttliche oder die Transzendenz ins Offene rückt. „Eine Empfänglichkeit, die Öffnung für eine solche Resonanz liegt aber nicht allein in unserer Hand.“ Das Bewirkenkönnen, lineare Kausalitätsvorstellungen, die auf Erfolg und Effizienz ausgerichtet sind, hält er hier zur Lösung der Zentralfrage der Epoche für problematisch.


Für Stegemann ist der Tranzendenzbezug zwar notwendig; er kann Transzendenz aber nicht näher bestimmen. Theologische oder philosophische Literatur nimmt er nicht zur Kenntnis. Für die Hörenden mit den offenen Ohren und die, die sich um die Zukunft sorgen, ist für ein neues Denken vielleicht sogar ein passives Hören der richtige Weg. Stegemann setzt auf ein Geschehenlassen (nicht Bewirkenkönnen), das dem Denken der Zweckrationalität und ihren Implikaten entsagt, sie jedoch nicht aufheben will. Er versucht, sie in andere Bezüge einzuordnen und ihr damit in einem transzendenten Verhältnis einen neuen Platz zuzuweisen. Ihm geht es also darum, „in welcher Form sie (die Transzendenz, HGD) für die immanente Welt real werden kann“.



Damit ist der politisch-ökologische Diskurs tendenziell zu einem religiösen geworden. Da die Transzendenz „sich dem immanenten Geist entzieht“, hätten die Religionen Gebet, Meditation und Gottesdienst entwickelt, um „durch die rituell geformte Begegnung mit dem Nicht-Menschlichen ein besonderes Band zwischen Menschen und Welt“ zu stiften. Als Anknüpfungspunkt anerkennt Stegemann Opfer, Gebet oder göttliche Gnade und weist ihnen wichtige Funktionen zu. Das führt dazu, andere Dimensionen zu integrieren, also perspektivisch zu sehen, manche herrschenden, auch wissenschaftliche Gewissheiten und Sicherheiten als unsicher oder konstruiert zu begreifen, ohne ihre Realität und Wirksamkeit zu leugnen. Dem Unverfügbaren wird Raum im Weltbezug und im Denken eingeräumt. Damit gewinnt eine Dimension fundamentale Bedeutung, die dem politischen Diskurs, gleichgültig ob rechts oder links, fremd oder sogar unvorstellbar ist. In der praktischen Folge heißt das: „Die neue, noch nicht öffentliche Einsicht besteht darin, dass der Kampf um die Erde nur gewonnen werden kann, wenn er nicht als Kampf geführt wird.“ Das ist eine Absage an alle Kämpfer, was bei diesen auf wenig Gegenliebe stößt. Stegemann will, dass ein „Weg zu einem anderen Denken“ gefunden wird, das ökologisch sein soll. Er will „eine neue Form der geistigen Einstellung“, damit wir „die Erde anders denken“. Er fordert Demut und offene Ohren, denn es gilt „anzuerkennen, dass wir leben, weil es etwas gibt, das sehr viel komplexer und mächtiger ist als wir Menschen. Demut ist die psychologische Antwort auf die Transzendenz der Ökologie“.


Das erinnert in vielen Aspekten an Hartmut Rosa. Dieser beginnt auch mit „einer Diagnose der Gesellschaft“, die sich im „atemlosen, rasenden Stillstand“ befinde, die ihre Stabilität nur der Dynamik permanenter Steigerung verdanke; sie müsse, um zu bestehen, dauernd beschleunigen. Dass sie „immer mehr Energie“ brauche, nur um sich zu erhalten, zeige „die Irrationalität dieser Gesellschaft“. Eine solche Gesellschaft „ist pervers“, was „systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt stiftet.“ Im Aggressionsmodus verliere sich der Dialog, und es bleibe gegenüber dem anderen nur ein „Maul halten!“, denn „die Menschen halten sich gegenseitig für Idioten“. Die Kommunikationsprozesse der sich wandelnden politische Kultur führten zu einer cancel culture, dazu, dass der „politisch Andersdenkende als ekelerregender Feind“ gesehen werde, der „zum Verstummen“ gebracht werden soll – Exklusion, Hass, Mord? Eine Struktur, die auch Stegemann auf das Höchste beunruhigt.


Die Lösung besteht für Rosa ebenfalls in einer Art von Transzendenz, auch wenn er sie nicht so bezeichnet. Er spricht in Umschreibungen davon. Etwa davon, dass ich „aufwärts höre, nach außen lausche, mich erreichen lasse“ oder von der „Resonanzverbindung zu einer anderen Welt“. Die Rede ist auch von „der umgreifenden Realität, dem Kosmos“. Die Kirchen böten ein „vertikales Resonanzversprechen“, auch der Betende stehe „am Grund seiner Existenz in einer Beziehung zum umgreifenden Anderen, wie Jaspers es ausdrückt“ in „einer Beziehung zum umfassenden Ganzen“. Das soll Trost spenden, denn „am Grunde meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung.“ Und was ist mit diesem kalten Kosmos?


Das ist der Hintergrund seiner großen Resonanztheorie, die Rosa knapp vorstellt: Zunächst muss man sich affizieren lassen, also ansprechen oder anrühren lassen. Derjenige kommt auf diese Weise mit einem Anderen in Verbindung, und reagiert aus Selbstwirksamkeit. Diese Reaktion kann zu einer von Rosa hochgeschätzten Transformation führen: Ich „verwandele mich, komme in eine andere Stimmung und auf andere Gedanken. Ich fange an, die Welt anders zu sehen oder anders zu denken“. Grundlegend ist aber, dass dieser Effekt nicht steuerbar ist, dass man ihn „nicht erzwingen kann“. Deshalb ist Resonanz „unverfügbar“, unplanbar, nicht bewirkbar. Sie scheint für Rosa aber immer positiv konnotiert. Jedoch hat schon Hans Joas angemerkt: „Nicht alle solche Erfahrungen der Selbsttranszendenz sind moralisch gut“. Ein Beispiel, das genau vom Hören ausgeht, findet sich mit der Kindergärtnerin Hildegard Murschhausen. Sie beschrieb ihre Transformation so: „Seitdem ist in mir alles anders. In mir erwachten ein Glaube und Vertrauen, wie ich dies noch nie fühlte und kannte. Ich wurde wieder froh – alle Angst, alle Zweifel fielen zusammen.“ Sie hatte 1936 Hitlers Rede auf dem Reichsparteitag gehört. Von solchen Ambivalenzen spricht Rosa nicht.


Indem er Resonanz empfiehlt, gewinnt dieser Begriff eine appellative und normative Dimension. Die einzelnen sollten in ihrem Leben der Resonanz einen größeren Raum einräumen, auf welchem Gebiet auch immer. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Rosa als Autor qualitativ hochstehender Ratgeberliteratur gedeutet wird – gleichsam mit Handbüchern zur Entschleunigung und zur lebenspraktischen Gewinnung von Resonanz. Es ist auch kein Zufall, dass er sich nicht auf inhaltliche Kernelemente des christlichen Glaubens bezieht, etwa Menschwerdung, Opfer, Auferstehung oder Erlösung, sondern die formale Seite in den Vordergrund rückt: „Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, entsprechender Gesten, entsprechender Räume, entsprechender Traditionen und entsprechender Praktiken“, die Gemeinschaftsgefühle und Resonanz gewähren können. Wenn die Kirchen aber Resonanzräume zur Verfügung haben oder stellen, die der „tief verwurzelten Resonanzsehnsucht“ der heutigen Menschen entsprechen – warum sind die Kirchen dann leer? Warum verlassen hunderttausende jährlich diese Institutionen, wofür der Missbrauchsskandal kaum der Grund, höchstens der letzte Anstoß sein dürfte?

Gelänge es der Linken aber, den angedeuteten Weg einzuschlagen, wäre sie allen anderen Parteiungen überlegen, ohne dass es ihr darauf ankäme. Zugleich verlöre sie tendenziell ihren Charakter, gewänne eine neue Identität, was den wenigsten gefiele. Aber vielleicht wäre es eine Option für vorausblickende Theoretiker oder Denker, für die metaphysisch Musikalischen. Es geht um den Frieden, nicht um das Glück. Diese Kritik aber an den links-grünen Klimakämpfen mit ihren linearen und monokausalen Vorstellungen, mit ihrer stark unterkomplexen, häufig sachlich inadäquaten Weltsicht, wird nicht fruchten. Sie setzen nicht auf Überzeugungen, sondern auf Verlust, Zwang und Ausschließung, indem sie ihre eigene Meinung zur absoluten Wahrheit deklarieren. Sie dürften mit den Transzendenzvorstellungen der Autoren Stegemann und Rosa nicht viel anfangen können.


Vielleicht hätte Stegemann mit Heidegger (Überwindung der Metaphysik) tiefere Erkenntnisse gewonnen als mit Latour. Er zitiert am Ende den berühmten Satz Heideggers aus dem Spiegel-Interview: „Nur ein Gott kann uns retten.“ Dessen heute aus moralischen Gründen unpopuläre Philosophie gibt Hinweise darauf, wie vielleicht zu denken wäre, um dem Unheil zu begegnen. Heidegger hatte sich gegen „die Raserei des ausschließlich rechnenden Denkens und seiner riesenhaften Erfolge“ ausgesprochen. Schon vor der Mitte des letzten Jahrhunderts hatte er erkannt und in seiner eigenwilligen Sprache formuliert, was heute die Schlagzeilen bestimmt. Er sprach dezidiert von der „Verwüstung der Erde“. Für den herrschenden (Un)Geist erscheine „der Verbrauch des Seienden für das Machen der Technik der einzige Ausweg“. Er sprach von „Fabriken zur künstlichen Zeugung von Menschenmaterial“ und behauptete die „Vernutzung aller Stoffe, eingerechnet den Rohstoff ‚Mensch‘“. Eine „Kreisbewegung der Vernutzung um des Verbrauchs willen im Dienste der Sicherung der Leere“ findet heute ihren Widerhall. Die bedingungslose Macht des Menschen, des Subjekts, des Ego, des Ich habe in der klassischen europäischen Philosophie ihren Ausdruck gefunden und sich nach Heidegger in der Philosophie Nietzsches und seinem Willen zur Macht vollendet. Nur wenn der Mensch sich zurücknimmt, sich dem Sein zuwendet und lauscht, horcht und vernimmt, könnte so etwas wie Rettung entstehen.


Die Autoren Stegemann und Rosa beurteilen die gegenwärtige Lage der Gesellschaft also mit hoher Skepsis. Um „den Weltuntergang aufzuhalten“ hält Stegemann „die demütige Arbeit an der Transzendenztauglichkeit“ für nötig. Gleichwohl ahnt er, in Anspielung auf Heidegger, „dass sich kein Gott finden wird, um uns zu retten“. Ähnlich meint Rosa, die Gesellschaft dürfe ihre Resonanzfähigkeit als „Form der Beziehungsmöglichkeit“ nicht vergessen, denn sonst „ist sie (die Gesellschaft, nicht die Demokratie!) endgültig erledigt“.


Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion, Kösel-Verlag, 80 Seiten, 12 Euro


Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, Klett-Cotta, 304 Seiten, 22 Euro


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Über den Autor: Hans-Georg Deggau beobachtet als Essayist im schönen Freiburg die deutsche Gegenwart mit philosophischem, theologischem, historischem und soziologischem Interesse.






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