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Rainer Willert: ZEITZEUGENSCHAFT - DIE FRAU, DIE MEINE MUTTER WURDE


Die beste Zeit meines Lebens, sagte diese Frau, begann mit der Vertreibung. Drei Monate später war das Beste vorbei.


Was war das, dieses Beste, das meine spätere Mutter so kurz und dann nie wieder verspürte? Es war Stolz, freudig erfüllender, kein hoffärtiger Stolz, und wirklich, stolz konnte sie sein, auf sich, auf eine einzig durch sie getroffene Entscheidung, mit der sie einen eigenen Weg einschlug, einen anderen als den, der ihr damals, im Mai 45, vorbestimmt war.


Der Krieg ging zu Ende, die junge Frau, 23, hochschwanger, war aus Hindenburg, dem deutschbesiedelten Oberschlesien, nach Zwittau, zur Schwiegermutter ins Sudentenland gekommen, fort aus dem durch die Sowjets von den Deutschen befreiten Polen, um hier, unter familiärem Beistand, ihr zweites Kind zu gebären, und dabei ihr erstes, die noch nicht einmal einjährige Christel, in guter Obhut zu wissen. Ein Kinderwagen, komplett, mit Zudeckchen und Kissen, stand schon bereit.


Welch friedliches Bild muss das gewesen sein; der rund geschwungene, erstaunlich modische Korbwagen mit den kleinen, flink wirkenden Rädern und darin das mit bunten Papierchen spielende Kind … Kenner, die einen Blick darauf hätten werfen können, hätten gestaunt; nicht über die Idylle, meine ich, sondern über den Haufen Geld, mit dem die Kleine da spielte, gültiges Alliiertengeld aus den besetzten Zonen.


Hier im Sudetenland allerdings brachte dieses Geld nichts, schon gar nicht gegen die wilde Vertreibung; die Schwiegermutter, panisch, wurde Ende Mai fortgerissen. Die Schwangere, stoisch, blieb. Das hatte sie entschieden: Die Stadt verlasse ich nicht. Das Kind werde ich nicht auf der Straße bekommen.



Bundesarchiv, Bild 183-1985-0319-301 / Sturm, Horst / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons


Damit es so kam, brauchte es hilfreiche Menschen. Zuallererst Tschechen, denn die hatten jetzt wieder das Sagen, auch im Rathaus, hinter schwerer Türe; dort stand sie nun, die Hochschwangere mit ihrem Kind, ihr gegenüber eine durch eine Balustrade abgeschirmte Vertreterin der Macht … und dann, von oben herab, gab es Mitleid im Leid, nahm das Wunder seinen Lauf. Eine Ausnahme wurde gemacht. Die Bittstellerin erhielt ein Papier. Mit eindrucksvollen Stempeln, die Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate Zwittau. Anstatt sich mit den anderen in die Bezirksstadt nach Troppau zu schleppen, um sich dort für den weiteren Marsch zu sammeln, konnte sie bleiben.

Auch die deutsche Trafikbesitzerin Babička „Oma“ Gagulak musste nicht auf die Straße. Leute wie sie – eine Sozialdemokratin, die sich im Dritten Reich zu ihrer Haltung gegen die Hitlerei bekannt hatte – blieben verschont von der Vertreibung aus der Tschechoslowakei. Frau Gagulak aber wollte zu ihrem Sohn in den Westen. Verkaufe, was du noch hast, aber nur gegen Alliiertengeld, hatte ihr der Sohn auf Umwegen geschrieben; die Zustellung der Post besorgten befreite Fremdarbeiter, Tschechen, die aus dem „Reich“ in die Heimat zurückkehrten. Ein Zehner im Umschlag, als Muster für das Alliiertengeld, kam selbstverständlich ebenfalls an.


Einen ganzen Haufen von diesem Geld besaß ein Offizier mit glänzenden Stiefeln aus Juchtenleder, der sich mit einem Trupp Russen über Nacht in Vierzighuben bei einem Bauern einquartiert hatte, drei, vier Kilometer vor Zwittau, gelegen an der Bahnlinie Prag-Brünn. Meine spätere Mutter bekam dort ab und zu Milch; diesmal stieß sie auf Russen … Kinder haben hier Kinder, sagte der Offizier zu der erschrockenen Frau; er sagte es freundlich, behandelte sie höflich, ein feiner Mensch sei er gewesen, für Schutz habe er gesorgt – und auch die Milch nicht vergessen, während man sprach.

Der Ehemann der Frau mit dem Kinderwagen, so erfuhr der Wohltäter, sei in Constanza am Schwarzen Meer in amerikanische Gefangenschaft geraten; später in Wien hätten die Amerikaner die Gefangenen den Russen übergeben. Tut mir leid, meinte der Russe, ja, nickte sie, zum Glück aber sei er bald frei gekommen und arbeite jetzt als Desinfektor in Wien. So, so, in Wien, auch wir sind dorthin unterwegs, erwähnte er beiläufig, schaute kurz in die Ferne und gleich wieder auf sie. Wie ihr Mann den Russen entkommen konnte, wollte er wissen. Eine russische Ärztin habe ihn auf die Seite der für Sibirien Tauglichen nach rechts geschickt. Er sei nach links gegangen. Keiner habe ihn verpfiffen.


Das Bekenntnis der Frau schien den Russen zu freuen, und das machte ihr Mut, ihn zu fragen, ob er sie und das Kind nicht mitnehmen könne zu ihrem Mann nach Wien. Die Ablehnung folgte prompt: Unmöglich, viel zu gefährlich mit unseren Muschiks hier. Wenn die betrunken sind, kann niemand garantieren. Sein Blick ging ins Leere, kehrte beruhigend zurück, erst zu ihr, dann zu der Kleinen, und nach kurzem Zögern brachte er ein buntes Bündel Alliiertengeld hervor, um daraus Spielgeld zu machen. Langsam faltete er die Farbenpracht aus, legte sie sachte in den Wagen. Das Kind öffnete die Ärmchen, lächelte in die Welt, in die Herzen.


Und besonders galt das Lächeln wohl ihm, dem feinen Menschen in Uniform, der sich, kaum zu glauben, als Vladimir Pavlov, Stalins Dolmetscher vorgestellt hatte; 1939 schon sei er als Übersetzer an den Verhandlungen zum Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt beteiligt gewesen. Natürlich wussten wir, so Pavlov, dass der Vertrag nicht das Papier wert war, auf dem er geschrieben stand. Trotzdem haben wir unterschrieben, weil wir zum Kampf noch nicht gerüstet waren. Was die Sowjetunion damals brauchte, war Zeit.


Ohne die Bedeutung der Milch zu unterschätzen, die wieder ein Stückchen Überleben brachte, oder das gewachsene Selbstwertgefühl zu ignorieren, das die junge Frau mit dem Kinderwagen als Gesprächspartner von einer so wichtigen Person verspürte, so wird man doch ahnen, dass es letztlich diese unscheinbaren Papierchen waren, das Alliiertengeld, das die Wendung markierte.


Als Bindeglied, um den in Vierzighuben angelegten dramatischen Umschlag wahr werden zu lassen, diente die aufgeweckte Frau Witlaschil in Zwittau, eine Tschechin, die wirklich selbstlos schon vielen Deutschen geholfen hatte. Sie vermutete – und der Vergleich mit dem mitgeschickten Zehner gab ihr recht – dass die geschenkten bunten Scheine dem von Sohn Gagulak bezeichneten Alliiertengeld entsprachen. Eine Begegnung der möglichen Tauschpartner wurde arrangiert, rasch kam die Einigung zustande, mit der sich das vermeintliche Spielgeld glücklich in einen Schrank voller Tabakwaren verwandelte. Frau Gagulak erhielt die vom Sohn ersehnten Mittel und konnte sich mit voller Börse zu ihm in den Westen begeben. Und bei der Gegenseite, meiner zukünftigen Mutter, wurde eine Schwarzmarktkarriere begründet, die mit der Gagulakschen Ware lange nicht endete und das Schicksal meiner Familie ganz wesentlich fügte … somit ein anderes Thema. Gegenstand hier ist jener Teil des Dramas, das sich in und um Zwittau abspielte.


Zwittau. Der Markt war hart, die Frau, so selbständig auf sich alleine gestellt wie niemals zuvor und nie mehr danach, sie lernte schnell, handelte umsichtig, weise. Und dieserart machte sie das Unmögliche möglich, konnte einigermaßen zivilisiert, mit Dach überm Kopf, mit Hebamme, mit warmem Wasser in der Schüssel ihr zweites Kind gebären. Nicht mich übrigens, sondern noch einmal ein Mädchen. Am 30.07.45 zur Welt gebracht, gerettet aus den, in den Trümmern einer Zeit, die nachträglich, aus der Sicht der Protagonistin, zum besten Stück ihres Lebens avancierte. Bis Mitte August 45, dann war Schluss, die Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen, die Vertreibung nachgeholt, die Sonderrolle beendet.


Geblieben sind die viel späteren, hier wiedergegebenen Erzählungen dieser Zeitzeugin, die inzwischen längst meine Mutter geworden war. Zweifel an ihren Worten kamen mir erst in den Sinn, als ich sie nicht mehr fragen konnte. Am wundesten Punkt allerdings, an ihrer – höchst unwahrscheinlichen – Begegnung mit Vladimir Pavlov, zweifle ich hartnäckig nicht. Verrückt. Historiker sagen: unmöglich! Der Pavlov, alles andere als in militärischen Diensten, hatte als „Stalins Stimme“ (Jörn Happel) diplomatischen Status. So einer plappert nicht vor sich hin. Und überhaupt, wozu sollte Pavlov durch Böhmen marschieren? Auf ihn wartete Wichtigeres, etwa die Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Franzisco (ab 25.06.1945) sowie kurz darauf Potsdam (ab 17.07.).


Außerdem: Warum, und zu allererst wie? Wie hätte meine nach Vierzighuben sich aufgemachte, auf Milch hoffende, stattdessen auf einen Trupp Russen stoßende spätere Mutter dann eben schnell mal einen schillernden Dolmetscher erfunden? Wie sollte sie, eine einfache Frau, keine Studierte, auf so einen kommen, von dem nicht nur damals, sondern bis heute lediglich in engsten Fachzirkeln die Rede war/ist?


Todesangst, zehrende Not, wimmernde Sorge um das vor ihr und in ihr vegetierende Leben, das war es, was die Frau antrieb; sie machte keinen Spaziergang, war nicht auf der Suche nach weltbewegenden Begegnungen, sondern einfach nach:  Milch, nach einer kleinen Ration Rettung. Und dann das: Russen. Ich fühle den Stich, der sie traf – einerseits. Andererseits fehlt mir komplett die Phantasie, mir – Pavlov hin oder her – mir einen, irgendeinen Menschen, Uniformierten, Offizier vorzustellen, dem es mir nichts dir nichts gefiel, in die Rolle von Stalins Dolmetscher zu schlüpfen. Noch dazu im Angesicht des Elends, der Misere dieser mageren, verschreckten Kreatur, eine Schwangere mit Kind.


Mein Entschluss, kurzum, mich nicht umstimmen zu lassen, steht: Sie, meine spätere Mutter, hat ihn, behaupte ich, tatsächlich getroffen, ihn, Stalins Dolmetscher, den echten Vladimir Pavlov. Im Mai 45. In Vierzighuben. Punktum. Das Leben hat gesprochen. Und posthum ihm, Vladimir Pavlov, gilt hiermit – ohne die mildtätigen Bauern zu vergessen – mein aufrichtiger Dank. Im Namen der ganzen Familie. Er sorgte für Milch. Und für die schicksalhaft glückliche Wendung dieser Geschichte.


So und nur so kann es gewesen sein. Woran ich jedoch zweifle, fundamental zweifle, sind wesentliche Inhalte, Worte, die meine Mutter in ihren späteren Schilderungen dem Pavlov in den Mund legte. Seine prompte Absage zum Beispiel, als er auf ihr Ansinnen, sie nach Wien zu eskortieren, jene despektierliche Charakterisierung der sowjetischen Bauernsöhne als betrunkene „Muschiks" formuliert haben soll. Diesen Pavlov, den ihr gegenüber so feinen Menschen, ließ sie da, als es um seine eigenen Landsleute ging, klingen, als ob er den gängigen Nazisprech vom „russischen Untermenschen“ etc. teilte, anstatt ihn höflich, aber bestimmt sagen zu lassen: „In ihrem Zustand, Madame, viel zu gefährlich“. Und sogar ihm selbst, ihrem Gönner, unterstellte sie eine gewisse, wenn auch gutmütige Beschränktheit, indem sie den Anschein erweckte, im Alliiertengeld habe er letztlich bloß bunte Fetzchen gesehen, wertloses Zeug, von dem er sich leichtfüßig trennte … stattdessen hätte sie dem schönen Gedanken Raum geben können, er habe da ein bewusstes Opfer gebracht, in der Hoffnung, die weiteren Umstände mögen der Flüchtlingsfrau gnädig sein und bewirken, dass die von ihm selbst zunächst ja gehorteten, dann aber verschenkten Scheine ihr eventuell zum Segen gereichten.


Von nichts dergleichen handelten die späteren Berichte meiner Mutter. Stattdessen ließ sie Pavlov über den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt herziehen, Dinge aussprechen, die einem wie ihm nie über die Lippen gekommen wären, denn: Der Pakt war und blieb lange Staatsgeheimnis in der Sowjetunion; erst Gorbatschow öffnete die Archive. Feigheit vor dem Feind, militärische Schwächen, kein Thema. „Dem Gegner das Schwert“, das war die einzig gültige Lesart der Zeit.

Ja, ja, die Zeit und ihre Zeugen, Zeitzeugen, mit ihrer formbaren Erinnerung, sie mischen die Phänomene, vollführen Seiltänze, wie meine hin- und hergerissene Mutter, die noch Jahrzehnte später bemüht war, sich zu rechtfertigen, weil sie das eigentlich Unmögliche tat, im Feind den Menschen zu sehen, umso mehr da, wo sie sich gar einem Haufen Russen anvertrauen wollte. Da braucht es die Betonung der Ausnahme – des feinen Menschen, des mit seinem Namen bürgenden Offiziers, inmitten einer anonymen Horde von Muschiks. Und auch Kontraste sind hilfreich, Bilder der Unbeflecktheit, Pavlovs glänzende Stiefel, die weiche, sanft stimmende Materialität des Juchtenleders, die im Gegensatz steht zu der in der Vorstellung herrschenden klobigen Härte des soldatischen Knobelbechers.


Die alte Propaganda, verpuppt in der Erinnerung, so überlebt sie, fort und fort; wie lange, ob gar in alttestamentarischen Dimensionen, bis hin ins dritte, vierte Glied? Ich hoffe nicht. Mir zumindest, dem Spätgeborenen der ersten Nachkriegsgeneration, sind manche der Ungereimtheiten schließlich doch fraglich geworden. Aber nicht in allem will ich misstrauisch sein. Pavlovs geradezu erfreute Reaktion auf die von meinem späteren Vater bewerkstelligte Selbstbefreiung von der drohenden sibirischen Gefangenschaft nehme ich dem Gespann – meiner Mutter mit Pavlov – durchaus und weiterhin ab.

 

Mehr zum Autor Rainer Willert finden Interessierte auf der Webseite rainerwillert.de 



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