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Beate Broßmann: LUFTMENSCH IN DER DRECKSWELT – ANVERWANDLUNG EINES ROMANS VON TILL RÖCKE

  • 6. Okt.
  • 6 Min. Lesezeit

Das Ungenügen. Die Scham. Sie sind immer im falschen Film. Der ihre ist noch nicht gedreht. Die Projektion des eigenen Elends auf die Welt, auf die Menschen, deren Leben gelingt, denen zu leben gelingt, die nicht überwältigt werden von Schmutz, Häßlichkeit, Grobheit, Blödsinn. Die nicht hassen müssen oder verachten. Weil ihnen die Welt gehört, weil sie ihre Gestalt angenommen hat. Das Nichtdazugehören, das Abseitsstehen, die Menschenflucht. Das Alleinsein, das auch nicht froh macht. „Einsamkeitsschübe“. Mehr als ein Quäntchen Erleichterung ist nicht drin. Und dann wieder hinaus. Mühsam die Barrikaden überwinden und nackt ins Getümmel.


Was muß ich heute befürchten? Wer macht mich heute zur Schnecke? Wem gehe ich aus dem Weg? Wem kann ich mich zumuten? Woraus kann ich Lebenssaft saugen? Wie halte ich den Tag aus? Diesen Tag und den nächsten und den übernächsten. Und wozu eigentlich? Warum tue ich mir das an? Mir und den anderen, denen ich über den Weg laufe und denen ich mit meiner Elendsfigur aufs Gemüt gehe, wenn sie nicht so klug sind, mir auszuweichen und die Konfrontation zu vermeiden. Das Sich-Entziehen als Lebensbewegung: ein Schritt nach links, zwei nach rechts, drei nach hinten. Auch so kommt man über den Tag, wenn auch nicht voran. Aber wo ist schon vorn? Dort, wo alle hingehen, auf jeden Fall nicht. Wo endet das Bekenntnis und wo beginnt das Selbstmitleid?



Jerzy Hulewicz: Dzwon (Wisielec) / Glocke (Erhängter), 1917
Jerzy Hulewicz: Dzwon (Wisielec) / Glocke (Erhängter), 1917

Sehen wir uns die sprachgewaltige „Nihilprosa“ des Romans DRECKSWELT von Till Röcke im Original an:


„Die Lage war abartig. Für ihn, den letzten Rest-Menschen im Gehege. Die Lage war normal. Für die anderen, das Geschmeiß mit Befugnis. Es lebte, daran bestand kein Zweifel. Es lebte knallhart und ohne Illusionen.“ (11f.)


„Bleib weg mit deiner Normalität. Alles, was ich bin, ist Anti-Normalität. Das ist das Gegenteil von dir. Genau das Gegenteil von dir und so soll es auch sein, so soll es bleiben.“ (47) Die Verachtung, die Überheblichkeit: paradoxe Projektion. Ich leide, also bin ich. Ich leide an Euch und Eurer Welt. Also bin ich was Besseres. Bleibt mir fern mit Euch. Infiziert mich nicht mit Eurem Gelingen, mit Eurer Oberflächlichkeit und guten Laune. Ihr versteht es nicht, aber ich sage Euch: Ihr habt keine Ahnung.


„Er würde sich den Dingen dieser Dreckswelt entziehen, so gut es ging. Bis es nicht mehr ging… . Aber noch war ein bisschen Zeit, und selbst wenn dann keine mehr sein würde, ihn sollten sie nicht bekommen. Niemals. Noch als Krepierender würde er sich selbst gehören. Noch als Krepierender würde er herrschen über seine eigene Gestalt.“ (34)


Angst


Ein chronisches Unbehagen, das sich auswächst zu einer Ermattung – das Stimmungsbild eines Mannes unbestimmbaren Alters. „Ihre Ursache lag in einem erniedrigenden Anfang. Dieser Anfang war ein abruptes Kinderende.“ (73)


Scham, Schmach und Pein – das war sein Schulanfang. „Er siechte vor sich hin. Er wollte tot sein.“ (75)


Erniedrigung „schärfte seine Instinkte. Sie lehrte ihn die Einsicht in die Ausweglosigkeit. Er ahnte fortan jede Erniedrigung.“ (80) Er war immer auf der Hut. Vertrauen konnte er nicht wagen. Hingabe folglich ebenso wenig.


Das eigene Ungenügen oder auch nur die Überzeugung, nicht zu genügen, läßt den Protagonisten immer wieder in Angststarre verfallen. Drängende Frage: Entsteht hier gerade ein günstiger Anlaß, ihn auszulachen?


In den Jahren seiner Grundschulzeit hatte er Angst. „Entsetzliche Angst, die ihn lähmte und betäubte und straucheln ließ, wo immer er sich fortbewegte. Er hatte Angst und spürte Ekel… . Angst und Ekel waren die ersten Lektionen in Unversöhnlichkeit.“ (85)


Alles um ihn herum war nur dazu geschaffen, ihn zu erniedrigen, „denn er war in eine widrige Welt hineingestoßen worden von seiner Mutter. Der Vater war Mittäter. Seine Eltern waren Kriminelle. Sie schickten ihn zur Schule.“ (85)


Scham, „abartige Trauer“, Angst, Entsetzen. Das „gefühlsmäßige Elend, das nur nachlassen, aber nie ganz verschwinden würde.“ (63)


„Die ganze Dreckswelt war ein einziges Lager.“ (87)


Abstand


Seine Kinderjahre verliefen „zwar mühsam und schwer, aber immerhin gelang ihm damals noch jene Absetzbewegung in die Abgeschiedenheit von allem und jedem. In die kostbare Einsamkeit als ein von aller dreckigen Menschendummheit geschiedenes Kind. Es dauerte nicht lange und es wurde endverbraucht durch das Schicksal einer heimtückischen Welt. Sie war ein schlechter Scherz. Alles war ein schlechter Scherz.“ (182)


„Nun war er in der Welt, in dieser einen, die der Mensch nur hatte, und diese eine Welt erniedrigte und verhöhnte ihn immer und immer wieder durch ihre nackte Existenz und ihr zersetzendes Schicksal.“ (179)


„Das war die Welt der letzten Menschen. Feindseligkeiten austauschen und Seelen zerrütten. Das war das Leben in der Dreckswelt.“ (81)


„Hier handwerkte das dreckige Schicksal. Grässlich streute es Unglückssplitter aus.“ (72)

Das ist der Sound von Trakls Poesie der Finsternis.


Eine Beziehung zu seinen Kollegen ist nicht vorhanden, ebenso wenig wie eine zu den Hausbewohnern. Von Freunden oder eigener Familie ist keine Rede. Wahrscheinlich sind da ebenfalls keine Beziehungen vorhanden.


Abkehr


Doch der Antiheld leidet nicht nur unter der allgemeinen Dummheit und Ignoranz, sondern auch unter seiner Physiognomie. „Er hasste seinen Körper. Er hasste seinen verbogenen Dreckskörper. Er war ein Krüppelkind... . Seine Erscheinung war eine untilgbare Schande in der Geschichte der Körperkultur.“ (121) Superlative, nur weil der Held hochgewachsen und schmal gebaut ist.


„Du gestörte Giraffe“ (123), „Du Angeknackster“ (134), „Du lange lebende Lücke“ (137) – man weiß als Leser nicht: Sind das Fremdzuweisungen oder ist es das eigene Urteil und Befinden?


Er möchte sein „schwarzlichtverseuchtes Leben“ (192) hinter sich lassen und fortgehen und „sehen, ob die Dreckswelt anderswo nicht anders dreckig sein konnte“. (156) Nur weg von hier. Weg von den Menschen, seinen Eltern und den anderen Drecksmenschen und ihren Drecksleben.


„Alles reizte ihn zum Brechen. Zum Abbrechen. Zum Weg- und Niederbrechen… . Das war die Dreckswelt. Sie ließ ihn alles wahrnehmen, was ihr Ekelwille hervorbrachte.“ (174f.)


„Er gierte trotzig nach der Abkehr von allem. Nach der großen Wegdrehbewegung von allem dort draußen, was unecht war, ist und bleiben würde… . Er hasste dagegen an.“ (196)


„Er durchlebte die totale Seelenabstinenz. Er spürte eine unbändige humane Unlust und litt fürchterlich an mentaler Unterernährung.“ (206)


In abgerissenen Anekdoten gibt eine Bekannte „Einblicke in ein überflüssiges und widriges Leben. In ein überflüssiges und widriges Leben,…, das noch überflüssiger und widriger war als das eigene.“ Die „durchlebte Entartung“. (40) Auch derartige Bekenntnisse führen nicht zur Solidarisierung der an den Menschen und an sich selbst Leidenden.


„Was ihm einzig blieb, das war ein gelegentliches Zufließen von Energie, deren Herkunft ihm unerklärlich war. Eine Art Gnadenzufluss, den er gerne aufnahm. Er nährte seinen Widerstandswillen…Er nahm an, dass er einen hatte. Er ging davon aus, dass das, was er aufbrachte, um nicht vollends irre zu werden an dem, was war, eben das sein konnte: ein Widerstandswille.“ (182)


„Er spürte seinen ganzen Körper nicht mehr. Sein heruntergekommener verfluchter Körper hatte sich aus der Wahrnehmung verabschiedet. Alles war plötzlich ganz gut und von irgendwoher floss ihm Energie zu.“ (153)


Eine Grufti-Feier des Anders-Seins


Ganz in diesem Sinne ist das Happy End zu verstehen: „Er riss sich zusammen. Er riss zusammen, was noch da war. Alles war plötzlich gut und von irgendwoher floss ihm Energie zu.“ (215f.) Dreimal im Roman das Motiv des Zufließens von Energie aus unbekannter Quelle. Mirakulös oder Autosuggestion?


Was die Grundstimmung des Romans betrifft, so kann man Ähnliches in Max Frischs „Stiller“ und Heinar Kipphardts „März“ lesen. Die Beschreibung weltkranker Persönlichkeiten, die um Akzeptanz ringen. Die Akzeptanz ihrer Fremdheit und ihrer Unzugehörigkeit. Die Beschreibung ihres täglichen Kampfes um Akzeptanz anderen Menschen gegenüber und ihres gleichzeitigen Kampfes mit sich um Selbstakzeptanz. Diese Motive durchziehen die bürgerliche Literatur von Beginn an. Nichts Neues im Westen. Wenn man von Kleinigkeiten absieht, die ausschließlich zum Heute gehören, regnet es Déjà-vus – doch in welch poetischer Sprache!


Die Grufti-Feier des Anders-Seins in Tragik und Romantik. Steppenwolf. Schopenhauer. Nietzsche. Französische Misanthropie: Mauriac, Cioran, Céline, Sartre, Houellebecq. Kafkas Sensitivität und Wahrnehmungsekstase, Ulrich Horstmanns „Untier“, die Verachtungstiraden Thomas Bernhards.


Doch haben die älteren Romane und Texte die Entfremdung des Individuums von sich als Gattungswesen, also dem idealen und potenziellen Menschen, und von der Mitwelt meist einen Bezug zur gesellschaftlichen oder zivilisatorischen Situation der Zeit. Die meisten dieser literarischen Helden leiden an ihr und unter der Art, wie Menschen sich organisieren und ihr Leben führen.


In Till Röckes Roman gibt es diesen Rekurs auf gesellschaftliche Verhältnisse nicht. Es ist kein Gemeinwesen denkbar, in dem der namenlose Anti-Held nicht leiden würde. Es ist ein privates Leiden, das nicht Pate steht für etwas Allgemeines: pars pro toto. There is no such thing as society. Er leidet privat. Er steht da wie ein Pechvogel. Bereits beim kleinen Menschen ist etwas schiefgelaufen, das dessen ganzes Leben unterhöhlt.


Was das Heute auszeichnet: Nichts ist notwendig oder wird von allen erbracht. Man kann etwas tun oder lassen – es ist ohne Folgen. Die große Beliebigkeit. Vielleicht ist das ein Motiv, das auch auf Röckes Protagonisten zutrifft – vorstellbar, aber nicht zu belegen. Der vereinzelte Einzige (Max Stirner), bar aller Beziehungen, ist alles, wovon noch zu sprechen ist: ein Luftmensch.

 

Till Röcke: Dreckswelt. Edition Acéphale: Wien 2025


Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.


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