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Beate Broßmann: PROSTITUTIONSZYKLUS. Fünf Anekdoten in Kleist'scher Manier (I)


„Die neunziger Jahre waren in der ehemaligen DDR und den anderen Ostblock-Staaten Zeiten des totalen Umbruchs. Die Biografien aller, mit Ausnahme der Rentner, veränderten ihren Lauf. Man wurde ins kalte Wasser geworfen und hatte dort Schwimmen zu lernen. Dabei offenbarten sich nicht nur Naturtalente in Flexibilität. Viele Menschen, auch Freunde und Bekannte von mir, legten eine bis dato unerkannten Zynismus und Utilitarismus, ja Kaltschnäuzigkeit an den Tag. Dagegen konnte ich mich nur wehren, indem ich beobachtete und beschrieb, d.h.: mich entäußerte.


Die neunziger Jahre sind inzwischen Geschichte. Aber man denke nicht, dass soziales Verhalten, wie ich es in den Anekdoten beschrieben habe, inzwischen passé ist. Die kreative Disruption, die uns als einziger Ausweg aus den globalen Dilemmata schmackhaft gemacht werden soll, führt zwangsläufig zu neuen Orgien des Überlebenskampfes. Bekanntlich ist der Firnis der Zivilisation sehr dünn. Dies ist keine Zeit für Idealisten und Moralisten. Dem kategorischen Imperativ, einen anderen Menschen nie als Mittel zu eigener Bedürfnisbefriedigung zu benutzen, gehen die Grundlagen verloren.“





I.


Im Sommer des Jahres 199..., während eines Urlaubes in den Masuren, hörte Z. von Landsleuten, dass es möglich sei, von zwei Orten der polnischen Ostseeküste aus - Elblag und Gdansk - mit dem Schiff Tagesfahrten zum zur Russischen Föderation gehörigen Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, zu unternehmen. Das Reisebüro xy organisiere diese Fahrten und besorge innerhalb einer Woche auch die immer noch erforderlichen Visa beim russischen Konsulat. Der Gedanke, ohne große Umstände in den Genuss zu kommen, diese noch vor wenigen Jahren für Ausländer vollständig unzugängliche Stadt anschauen und damit zumindest einen kurzen Blick auf russische Kultur und gegenwärtige Lebensweise werfen zu können, reizte Z., und er meldete sich umgehend für eine solche Tagesreise an. Am vorletzten Tag seines Urlaubes legte sein Schiff gegen zehn Uhr am Kaliningrader Hafen an. Zum Befremden der russischen Reiseleiterin erwies sich, dass er trotz zahlreicher Anmeldungen an diesem Tage aus Gründen, die darzulegen hier nicht der Platz ist, der einzige deutsche Tourist war, dem sie die Stadt zeigen sollte. Ein Reisebus war somit überflüssig, und beide führten die Rundfahrt im Taxi durch.


Wie sich schnell herausstellte, hatte Lidia, eine ehemalige, arbeitslos gewordene Lehrerin aus St. Petersburg, ihre Führung ausschließlich an den Bedürfnissen der seit dieser Zeit so von Z. genannten „Betroffenheitstouristen“ ausgerichtet, dahingehend, dass sie eher mehr als weniger bejahrte, aus dem ehemaligen Königsberg vertriebene oder geflüchtete Westdeutsche oder deren Nachkommen von einem noch erhaltenen deutschen Kulturgut - Gebäude oder Gedenkstein - zum nächsten führte und den Heimatvertriebenen dadurch Gelegenheit verschaffte, Vertrautes wiederzusehen. Z. war überzeugt davon, dass er angesichts des doppelten Glücksfalls, allein mit ihr zu sein und fließend Russisch sprechen zu können, keine Schwierigkeiten damit haben würde, sein Ziel einer alternativen Kaliningrad-Besichtigung, mit einer Akzentsetzung auf russische Kulturgeschichte, zu erreichen. Wie überrascht war er daher, als Lidia auf seine dahingehend geäußerten Wünsche mit kaum verhohlenem Widerwillen, Missbehagen, ja fast möchte ich sagen: Verachtung reagierte und sie in der Folge sogar, soweit es irgend ging, ignorierte.


Weder ließ sie sich auf eine Unterhaltung mit ihm in russischer Sprache, die ihm angesichts seiner jahrelang entbehrten Sprachpraxis gut getan hätte, ein, noch gestattete sie ihm einen direkten Kontakt zur einheimischen Bevölkerung - und seien es nur Verkäuferinnen oder Kellner gewesen - ohne sich als vermeintlich unentbehrliche Übersetzerin einzumischen, ja zwischen sie zu stellen. Sein Insistieren darauf, nun, nach dem nicht zu vermeiden gewesenen Ablaufen einer neu entstandenen Konsummeile, angefüllt mit für Einheimische kaum bezahlbaren Artikeln aus westeuropäischer Produktion, auch einmal ein russisches Warenhaus von innen sehen zu wollen, kam sie nur widerwillig und ihn mit Einsilbigkeit strafend nach. Auf dem großen Trödelmarkt, dessen Besichtigung er ihr unter Mühen abrang und den sie durcheilte, als sei einer der gelangweilt am Straßenrand lümmelnden Polizisten hinter ihr her, versäumte sie es nicht, sich für das Aussehen der Händler und die Schäbigkeit ihrer Waren zu entschuldigen und ihn dazu zu ermahnen, seine Tasche festzuhalten, da es von Dieben nur so wimmele.


Obwohl er aus gegebenem Anlaß mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass ihn die deutschen architektonischen Überbleibsel der Stadt, die ohnehin von geringer Zahl waren, wenig interessierten, da er derlei zu Hause en masse fände, ließ sie zu guter Letzt den Taxichauffeur vor der Büste irgend eines deutschen Wissenschaftlers halten - sein Name war ihm unbekannt und er vergaß ihn sofort wieder - und forderte ihn auf, diese zu fotografieren. Das täten alle Touristen. Langsam wütend werdend, blieb er wort- und bewegungslos im Taxi sitzen, worauf Lidia nach einigen Momenten des Schweigens dem Chauffeur das Zeichen zur Weiterfahrt gab. Zurück im Hafen bedankte er sich höflich und selbstverständlich in deutscher Sprache für die interessante und beeindruckende Stadtführung, und Lidia gab mit strahlendem Lächeln ihrer Hoffnung Ausdruck, Z. werde Königsberg und sie in guter Erinnerung behalten. Seinen Landsleuten könne er sagen, ein Besuch dieser Stadt werde Jahr für Jahr lohnender, denn die Anzahl der renovierten und wiedererrichteten deutschen Kulturgüter steige ständig.



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Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.

Seit 2018 Autorin bei www.anbruch-magazin.de.


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