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Bettina Gruber: UNBLUTIGE HINRICHTUNG: Gergiev, Netrebko, Russisch Zupf.

Aktualisiert: 4. März 2022

Dass der Münchner Oberbürgermeister den russischen Dirigenten Valery Gergiev entlassen hat, hat mittlerweile viel Staub aufgewirbelt. OB Reiter erklärt auf der offiziellen Seite der Stadt München wörtlich: „Valery Gergiev hat sich trotz meiner Aufforderung, sich ‚eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg zu distanzieren, den Putin gegen die Ukraine und nun insbesondere auch gegen unsere Partnerstadt Kiew führt‘ nicht geäußert.“ Gergiev hatte den Brief des Oberbürgermeisters unbeantwortet gelassen. Hier verliert also jemand nicht aufgrund von etwas, was er gesagt hätte, sondern von etwas, was er nicht gesagt hat, seine Position. Man muss es sich vor Augen führen: Ein Kommunalpolitiker versucht, einen Bekenntniszwang im Kulturbetrieb zu etablieren. (Reiter ist Sozialdemokrat, aber die Parteizugehörigkeit dürfte hier keine Rolle spielen.) Der Bayerische Rundfunk benennt den Entlassenen gar nicht erst als Dirigenten, sondern schreibt in seiner Headline: „Putin-Freund Georgiev muss gehen“.


Dass es sich nicht um eine Provinzposse vom Alpenrand handelt, zeigt die Tatsache, dass der Münchner Westentascheninquisitor sich in hoher Gesellschaft befindet: Distanzierungen hatten zuvor der Mailänder Bürgermeister und der Chef der Scala gefordert, die Wiener Philharmoniker hatten Gergiev zuvor gleich ohne weiteren Komment gecancelt. Zudem ist der Parallelfall der großen Sopranistin Anna Netrebko in aller Munde, der nach dem gleichen erpresserischen und ehrabschneidenden Muster gestrickt ist: Soeben zitierte die Stuttgarter Zeitung den grünen baden-württembergischen Finanzminister Danyal Bayaz, der erklärte, die Sängerin habe „bei uns keinen Platz.“ Dass Netrebko sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hatte, spielt offenbar keine Rolle – ohne den vollständigen Kotau mit Selbstbezichtigung geht es offenbar nicht mehr.


Die gleichbleibende Struktur dieser Angriffe sagt im Kern alles: Der Kunst- und Kulturbetrieb wird restlos den Bedürfnissen politischer Propaganda unterworfen, in diesem Fall, was hier wohl niemand mehr für möglich gehalten hätte, der Kriegspropaganda. Künstler, sofern sie hinreichend „progressiv“ sind, gelten ja ansonsten gemeinhin als heilige Kühe. Dazu kommt, dass klassische Musiker keine politischen Botschaften verbreiten, sondern ein den unmittelbaren Zeitläuften enthobenes Repertoire abspulen. Eine Donizetti-Arie oder Mahlers Symphonien sind keine politischen „Statements“, egal wie Dirigent oder Solistin persönlich politisch ticken und was immer sie gesagt oder beschwiegen haben. Gewiss, es gibt Situationen, in denen die Wahl des Repertoires politische Spitzen transportieren kann – in einer Demokratie, die ihren Namen verdient, sollte auch das allerdings kein Problem darstellen – sie ist als Form durch eine Polyphonie unterschiedlicher Meinungen gekennzeichnet, die auch mal kakophonisch werden darf. Kunst ist kein Wurmfortsatz von Politik, sondern Kunst. Dass sie instrumentalisiert werden kann und mehr oder weniger unausgesetzt auch instrumentalisiert wird, ändert daran nichts. Die Organisationen, die Gergiev und Netrebko jetzt hinausdrängen, intervenieren mit sachfremden Kriterien ins Kunstsystem und sehen darin offenbar einen Akt der vielbeschworenen „Haltung“. Dass niemals dazugesagt wird, um welche Haltung es sich denn nun handelt, weil das eh klar ist, ist kennzeichnend für die traumwandlerische Selbstgewissheit hegemonialer Meinungsgruppen, die ihr Lieblingswort „hinterfragen“ grundsätzlich niemals auf sich selbst anwenden.


Die Süddeutsche Zeitung illustriert diesen Haltungszwang, indem sie ihren höchst sachlich „Von Teufels Gnaden“ übertitelten Artikel mit einem „einerseits -andererseits“ eröffnet: „Der 68-jährige Dirigent Valery Gergiev ist einer der begehrtesten Dirigenten, er ist Chef des Petersburger Mariinski-Theaters und der Münchner Philharmoniker, sein traditioneller und leidenschaftlicher Aufführungsstil hat ihn zu einem der populärsten Musiker weltweit gemacht. Einerseits. Andererseits gilt Gergiev als Anhänger von Russlands Staatschef Putin. Er hat wie die Sängerin Anna Netrebko für die Wiederwahl Putins geworben, er hat dessen Antischwulengesetz unterstützt, er hat im syrischen Palmyra dirigiert nach der Befreiung vom ‚Islamischen Staat‘ durch Putins und Assads Truppen. Er hat Putins Krim-Politik unterstützt. … Doch seine Karriere nahm keinen Schaden, zumal er mal vorsichtig zurückruderte und in letzter Zeit dann lieber schwieg.“ Und in letzter Zeit dann lieber schwieg. Hätte er für den Islamischen Staat geworben, wären Medien und Kulturbürokratie wahrscheinlich leichthändig darüber weggegangen, obwohl auch dieser leider nicht als Schutzherr homosexueller Menschen in die Geschichte eingehen wird, sondern (im Gegensatz zu Putin) als blutiger Verfolger.


Dass ein solcher Angriff auf Künstler unter Angabe derartig fadenscheiniger Gründe möglich ist, bedeutet viel mehr als eine Absage, als ein gekündigtes Engagement, als eine Entlassung. Es ist eines der vielen weiteren Zeichen für einen gravierenden Einschnitt in unserer ganzen Lebensordnung, einen Switch zum Totalitären. Es bestätigt jene Beobachter, die schon länger von Fassadendemokratie oder Postdemokratie sprechen. Und es zeigt, was ohnehin jeder vife Beobachter wusste: nämlich, dass die Interpretation des Politikwissenschaftlers Colin Crouch, der den Begriff der Postdemokratie bekannt machte, die Bedrohung der Demokratie ginge wesentlich von einem „Populismus“ aus, nichts als eine apologetische Pirouette ist.[i] Die Bedrohung kommt, wie Ryszard Legutko plausibel machen konnte, aus dem Herzen der „liberalen Demokratien“ selbst.[ii] Und es wäre im Interesse derjenigen, die sich als Verteidiger der Demokratie begreifen, diese Wahrheit nicht beiseite zu schieben, sondern zur Kenntnis zu nehmen.


Vieles von dem, was hier vorgeht, erinnert mich an „Unblutige Hinrichtung“, den Bericht des jüdischen Literaturwissenschaftlers Efim Etkind über seine Ausbürgerung aus der Sowjetunion, eine Lektüre, die ich wegen ihrer faszinierend genauen Beobachtung nur empfehlen kann. [iii] Es ist irritierend, dass der „Westen“ zu einem, wenn auch fernen und verzerrenden, Spiegel dieser Zustände zu werden droht. Noch irritierender ist es, dass er sich dabei an einer historisch jüngeren Form des Totalitarismus, nämlich dem chinesischen, orientieren kann und ihm dafür ungleich raffiniertere technische Mittel zur Verfügung stehen. Seltsam überschneiden sich futuristisch wirkende Bedrohungen und hundertjährige Erinnerungen. Denn die Kriegsrhetorik all der westwertedurchtränkten Zeitgenossen erinnert stark an das, was Karl Kraus aus der Zeit des Ersten Weltkriegs für uns verewigt hat, wenn auch die allerkrassesten phraseologischen Verirrungen bislang auszubleiben scheinen. Und nicht nur die Rhetorik, sondern auch die Symbolpolitik im Alltag, in dem ein auf die Ukraine verschobener Hurra-Patriotismus selbst die Bäcker ereilt, gemahnt an eine Zeit vor hundert Jahren:











[i] So in Postdemokratie Revisited. Berlin 2021. Vgl auch Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Berlin 2020, der von dieser Idee geradezu besessen scheint. [ii] Ryszard Legutko: Der Dämon der Demokratie. Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften. Wien und Leipzig 2017. [iii] Efim Etkind: Unblutige Hinrichtung. Warum ich die Sowjetunion verlassen musste. München 1978.




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Über die Autorin:


BETTINA GRUBER, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber / Rolf Parr (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen−Gesamtkunstwerke. Paderborn 2015.




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