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Till Kinzel: HUSARENSTÜCK ODER HUSARENRITT? UNGARNS ANDERE STRATEGIE DER SELBSTBEHAUPTUNG

Osten ist Osten und Westen ist Westen und niemals werden die beiden sich treffen – so hieß es einst in einem Gedicht Rudyard Kiplings, das auf das Verhältnis Europas zu Asien gemünzt war. Aber Ost und West können auch anders gedacht werden – so etwa im Falle Ungarns. Denn die Ungarn seien „sowohl ein westliches als auch ein östliches Volk“, weil es an der Grenze zwischen westlicher und östlicher Zivilisation lebe. So könne der Eindruck entstehen, in der langen Geschichte der Ungarn sei es immer auch um die Entscheidung gegangen, ob sie den Osten oder den Westen wählen sollten. Das hat man auch Schaukelpolitik genannt, wie sie immer dann nötig werden kann, wenn es um den Abgleich von Interessen in solcher spezifisch geopolitischen Lage geht. Nur ist der Begriff der Schaukelpolitik negativ konnotiert und deshalb wenig beliebt – in der Sache aber bleibt er aktuell, weil Realpolitik immer auf einen Interessenausgleich hinausläuft.

 

Ungarn geopolitisch

 

Aus dieser besonderen Lage heraus entwickelt der Jurist, Politologe und Politiker Balász Orbán das ungarische strategische Denken, dem er inzwischen zwei Bücher gewidmet hat. Diese verdienen es, genau studiert zu werden. Denn Balász Orbán ist der Politische Direktor des ungarischen Ministerpräsidenten, seines Namensvetters Viktor Orbán. Und als solcher unternimmt er den mindestens aufschlußreichen Versuch, aus einer Sicht, für die Ungarn selbst der Dreh- und Angelpunkt ist, auf die sich rapide ändernde Weltlage zu blicken. Das erste Buch über Das strategische Denken von Ungarn, 2023 in deutscher Übersetzung erschienen, wird ergänzt durch das bisher nur ins Englische übersetzte neueste Werk Hussar Cut (2024), das sich mit der Rolle Ungarns im Gefüge einer multipolaren Welt befaßt. Balász Orbán erweist sich hier als Geopolitiker, der deshalb für Nicht-Ungarn erhellend zu lesen ist, weil sich das Gefüge der Mächte vom Karpatenbecken aus betrachtet anders darstellt als von westlicheren Positionen.



David Spigiel, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

 

Beachtung verdient der Umstand, daß ungarische Politiker überhaupt vor dem Hintergrund einer sehr langen Geschichtsperspektive heraus denken und agieren – und dabei auch selbstbewußt in Rechnung stellen, daß es zutreffende nationale Eigenheiten oder auch Stereotypen gibt. So behauptet Balász Orbán, die Ungarn besäßen bestimmte Tugenden, die sich bei anderen nicht in gleicher Weise fänden. Sie hätten aus historischer Notwendigkeit heraus eine bestimmte Klarsichtigkeit entwickelt, die es ihnen erlaube, zwischen Wirklichkeit und Phantasmagorie, Freund und Feind sowie Krieg und Frieden zu unterscheiden. Niemand könne besser als ein Ungar die Stille vor dem Sturm empfinden. Die besondere Sichtweise der Ungarn auf die Wirklichkeit habe damit zu tun, daß sie ein Gespür dafür entwickelt hätten, wann die Zeit einer Idee abgelaufen sei. Zwar scheiterte der ungarische Aufstand von 1956, aber er ließ doch eine nicht mehr heilende Wunde am Leib des Kommunismus zurück. Dieser habe es nicht vermocht, das eherne Gesetz der ungarischen politischen Identität auszuschalten, wonach Freiheit und Unabhängigkeit die Voraussetzung des Wohlstands sei.

 

Erhalt normativer Substanz

 

Wenn von Seiten der ungarischen Regierung seit 2010 die sogenannte liberale Demokratie kritisiert werde, so sei das mit einer Werteorientierung verbunden, die mehr als nur formalen Charakter habe; eine solche liberale Demokratie ohne normative Substanz stelle aus ungarischer Sicht ein gescheitertes Politikmodell dar, weil sie die Werte der Gemeinschaft (insbesondere der Nation und der Familie) nicht hinreichend berücksichtigte. Die Nation aber sei die erfolgreichste politische Ordnungsform, die in der Menschheit entwickelt wurde, und deshalb sei die negative Konnotation, die mit den Begriffen „Nation“ und „Nationalismus“ verbunden werde, keineswegs gerechtfertigt. Die Nation könne gerade als integrierendes Prinzip unterschiedlicher Identitäten begriffen werden, in deren Rahmen es möglich sei, ein Gemeinwohl in umfassender Weise in den Blick zu nehmen.

Nur kurz seien die von Balász Orbán herausgearbeiteten ungarischen Leitvorstellungen genannt, die auch für die Strategie der Regierung im europäischen Kontext wichtig sind: Grundlegend ist nicht nur ein christliches Menschenbild und Kulturverständnis sowie die Betonung der Einzigartigkeit des Individuums und der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur. Aufbauend darauf wird betont, daß Privateigentum ein unveräußerlicher Teil der menschlichen Natur und Arbeit ein wesentlicher Teil eines erfüllten Lebens sei. Grundlage der Gesellschaft aber sei die Familie, bestehend aus ihrer Keimzelle der Verbindung von Mann und Frau. Das Individuum aber existiere nur in Gemeinschaft, weshalb eine starke Gemeinschaftsorientierung bis hin zur Nation von wesentlicher Bedeutung sei. Daraus folgt auch die Wertschätzung des Staates, denn dieser repräsentiere von Alters her das Gemeinwohl bzw. die Interessen der Gemeinschaft. Der Staat habe sich aber aus dem Alltagsleben seiner Bürger weitgehend herauszuhalten und somit die Privatheit zu schützen.

 

Der souveräne Staat gestaltet

 

Was nun Ungarn als Staat im Karpatenbecken angeht, so werde anerkannt, daß hier auch andere Völker ihre Heimat haben, mit denen gemeinsam allein eine stabile Ordnung geschaffen werden kann. Ungarn könne und solle, obwohl es ein eher kleines Land ist, künftig eine Rolle als einflußreicher „Player“ der Region spielen. Leitideen sind dabei die Bewahrung der Freiheit und Unabhängigkeit – zentral ist also die nationale Souveränität, die das wichtigste Ziel der ungarischen Politik darstelle. Nur solcherart souveräne Staaten werden weiterhin eine gestaltende Kraft in der internationalen Ordnung sein – übernationale Organisationen werden die bestimmende Macht der Einzelstaaten nicht ersetzen können.

 

Das liege auch daran, daß Staaten über den historischen Wandel hinweg nach wie vor durch die Verfolgung eigener Interessen gekennzeichnet seien. Daraus ergibt sich aber, daß Ungarn nicht auf sich allein gestellt agieren kann, sondern seine Position im Zusammenspiel mit anderen entwickeln muß. Dazu gehören nicht nur die sogenannten Višegrad-Staaten, sondern auch wichtige Handelspartner wie Deutschland, Rußland und China. Ob und wie sich hier in den kommenden Jahren Möglichkeiten des Ausgleichs zeigen werden, wissen die Götter. Aber es ist bei Ungarn mit einem kleinen, aber selbstbewußten Akteur zu rechnen, dessen Denkweise zu studieren unabdingbar sein wird.

 

Ungarn genießt Mißtrauen

 

Ein neues Buch von Bence Bauer, dem Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest, rundet die teils gewagten Analysen Orbáns mit dem spezielleren Fokus auf die ungarischen Deutschlandbeziehungen ab. Denn Bauer spiegelt hier deutsches Ungarnverständnis und ungarisches Deutschlandverständnis auf eine Weise wider, daß sich daraus ein Erkenntniszuwachs über die Hintergründe aktueller Politik ergibt. Ungarns Rolle im europäischen Konzert kommt dabei besonders zum Tragen, denn während das Land selbst sich seit nunmehr 14 Jahren auf einem politischen Erfolgskurs freiheitlich-konservativer bzw. bürgerlicher Politik befinde, fremdelt das west- und mitteleuropäische Establishment massiv damit. Die linke Dominanz in den Medien, die selbstverordnete babylonische Gefangenschaft der CDU mit ihren unnötig eingeschränkten Koalitionsmöglichkeiten („Brandmauer“) und eine grundlegende Uninformiertheit über das, was außerhalb Deutschlands in einem auch sprachlich eher unzugänglichen Land vor sich geht, tragen dazu bei.

 

Aufgrund dieser Lage täten sich, so Bauer, vor allem die Politiker der bürgerlichen Mitte in Deutschland sehr schwer, sich zu einer robusten konservativen Politik nach ungarischem Vorbild zu bekennen – die in der CDU immer noch tonangebenden Merkelisten wollten so etwas ohnehin nicht, aber auch die anderen scheuten davor zurück. Denn: „Schon die Sympathie für die Politik des ostmitteleuropäischen Landes wäre [in Deutschland] ein Tabubruch und würde vom medialen Mainstream sanktioniert werden.“ Die falsche Anlehnung der CDU an die grüne und „woke“ Sonderideologie – auch erkennbar daran, daß nur marginale Gruppen in der Partei wie die um den Historiker Andreas Rödder offensiv die grünlinke Hegemonie angreifen – spiegelt die Sprach-, Orientierungs- und Handlungslosigkeit der bürgerlichen Mitte. Und die ideologische Schlagseite der deutschen Medien vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich macht es in hohem Maße unwahrscheinlich, daß dort Bücher wie die hier vorgestellten überhaupt zur Kenntnis genommen, geschweige denn sachlich-neutral referiert werden.

 

Isolation muß nicht sein

 

Eben das aber wäre eine erste Voraussetzung dafür, den Blick unvoreingenommen auf das Potential zu richten, daß für die gesamteuropäische Entwicklung aus einem besseren Verständnis der ungarischen Eigenheiten und der strategischen Konzeption seiner Regierung folgen könnte. Das positive Freiheitsverständnis, das durchaus in Spannung zur Gemeinschaftsorientierung steht, paart sich mit einem selbstbewußten positiven Verhältnis zur eigenen Nation – für entnationalisierte Deutsche sicher eine Herausforderung, wenn nicht sogar Provokation. Aber damit ist auch eine deutlich entschlossenere Position zu Fragen wie der Migrationskrise verbunden, als sie in Deutschland bisher möglich war, weil hier aufgrund der inneren Leere eines ahistorischen und werterelativistischen Verfassungspatriotismus kein angemessen selbstbewußtes Verhältnis zum Eigenen mehr existiert.

 

Ungarn nun könnte uns lehren – vorausgesetzt seine eigene Strategie gehe auf – wie man mit anderen Staaten und Völkern in Verbindung treten und bleiben könne, ohne seine eigene Identität aufzugeben. Auch wenn die ungarische Sprache und Kultur einzigartig seien, müsse daraus keine Isolation folgen. Vielmehr setzt die Suche nach Verbindungen und Gemeinsamkeiten die Existenz einer genuinen Differenz voraus. Nationale Selbstbestimmung stehe nicht im Widerspruch zu weitgehender Kooperation und zur Entwicklung starker Wirtschaftsmacht und nachhaltiger Infrastruktur. Ohne eine effiziente Sicherheitspolitik ist solches heute jedoch nicht möglich: Für Ungarn bedeute dies einerseits die klare Artikulation nationaler Interessen in der Außenpolitik, andererseits auch die Forderung nach einer Friedenspolitik, deren Notwendigkeit sich aus der besonderen geopolitischen Lage Ungarns ergebe.

 

Wagnis strategisches Denken

 

Vieles von dem, was B. Orbán und Bence Bauer in ihren Büchern beschreiben und als Deutungsangebote zur Verfügung stellen, mag für manche Ohren befremdlich klingen. Wie wahrscheinlich wird es sein, daß Ungarn mit seinen klar artikulierten Positionen erfolgreich ist? Vielleicht wird das Ganze bloß in einem Husarenritt enden, spektakulär, aber ohne nachhaltige Auswirkung für den Gesamtverlauf der Geschichte – wie die eintägige Besetzung Berlins durch den ungarischen Husarengeneral András Hadik im Jahre 1757. Aber es besteht immerhin die Möglichkeit, daß eine konsequent verfolgte Strategie auch zu (symbolisch gesprochen) dauerhaftem Landgewinnen führt. Dann könnte es sich auszahlen, auch für Europa insgesamt, daß man in Ungarn das strategische Denken nicht scheut. Ob die ungarische Husarenstrategie aufgehen wird, ist freilich eine offene Frage. Ein Wagnis ist sie in jedem Falle, zumal viel davon abhängt, ob es Donald Trump gelingen wird, nochmals zum Präsidenten der USA gewählt zu werden. Gelingt es ihm nicht, dann hat die ungarische Regierung auf die falsche Karte gesetzt. Aber auch das wird die Ungarn gewiß nicht entmutigen, sondern danach Ausschau halten lassen, wie sie in einer äußerst volatil gewordenen Welt ohne Sekurität weiterhin ihre geistige, politische und ökonomische Selbstbehauptung gewährleisten können.

 

 

Literaturhinweise

 

Balász Orbán: Das strategische Denken von Ungarn. Übersetzt von Krisztina Varga. Budapest: MCC Press, 2023. 228 Seiten, ISBN 978-963-644-014-5, EUR 15.00.

Balász Orbán: Hussar Cut. The Hungarian Strategy for Connectivity. Übersetzt von Thomas Sneddon. Budapest: MCC Press, 2024. 288 Seiten, ISBN, EUR 15.00.

Bence Bauer: Ungarn ist anders (Beiträge zur deutsch-ungarischen Verständigung 1). Budapest: MCC Press, 2023. 261 Seiten, EUR 15.00.


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Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).




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