Ralf Rosmiarek: GEFANGEN IN DER ERZÄHLUNG
- 28. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Alleinsein ist die Sache des Menschen nicht. Jedenfalls nicht auf längere Sicht. Wie auch? Das Menschenjunge hat beträchtliche Defizite, ist bei Geburt völlig hilflos und muß über Jahre hinweg aufgezogen, ernährt wie beschützt werden. Dafür ist es erstaunlich formbar und biegsam. Für die Reifung eines Kindes bedarf es einer Vielzahl von Menschen. Verwandte, Freunde, Nachbarn werden dafür sorgen, aus dem Menschenkind einen Christen, Muslimen, Buddhisten, Atheisten, Kommunisten, Faschisten, Bellizisten, Pazifisten, Fetischisten, Humanisten oder schlicht einen Taediosus (Langweiler) herauszuschälen. Aber Alleinsein ist von Anbeginn seine Sache nicht. Die Welt um ihn verunsichert. Was war anzufangen in den Phasen zwischen Helligkeit und Finsternis?

Die Natur fordert(e) ihren Tribut und so füllten das Jagen und Sammeln, das Essen und Zeugen und Schlafen den Tageslauf. Doch solches Tun erschöpfte und so blieb noch immer Zeit genug, sich unbehaglich zu fühlen. Der Mensch fühlte sich als Waisenkind, doch mit der Tierwelt als Verwandtschaft wollte man nichts zu schaffen haben. Schließlich verfügte man über einen immer effizienter werdenden, wenn auch energieaufwendigen Denkapparat. Nimmt sich das Gewicht des menschlichen Gehirns im Vergleich zum Gesamtkörpergewicht (zwei oder drei Prozent) bescheiden aus, so ist es selbst im Ruhezustand ein ungeheurer Energiefresser, gute 25 Prozent der Körperenergie benötigt es. Doch der Ruhezustand ist kein Zustand der Ruhe. Bilder schießen in wilder Folge in das Gehirn ein. Träumen heißt solches Geschehen. Wundert es somit, daß alsbald Geschichten erzählt wurden? Traumbilder verknüpf(t)en sich zu einfachen, bald immer komplexer werdenden Erzählungen. Geschichten entwickelten sich entlang des menschlichen Gefühlsspektrums. So wächst der Mensch hinein in eine Kultur und übernimmt in der Regel auch ein Weltbild.
Ohne Irrtum die Wahrheit lehren
Himmelhoch jauchzende Erzählungen sprudelten hervor und wurden zu Gehör gebracht, wie solche, die zu Tode betrübten. „Gerade die Menschen verfügen über die außergewöhnliche Gabe, an langen, kalten Winterabenden die haarsträubendsten Schauermärchen zu ersinnen. Und einmal erzählt, werden sie bei jeder Gelegenheit weiterverbreitet und ausgeschmückt“, weiß man im Roman „Zwei Akkorde“ des österreichischen Schriftstellers Robert Pucher. Alsbald reihten sich Schöpfungsgeschichten an Apokalypsen. So entstanden die großen Erzählungen der verschiedenen religiösen Strömungen. Solcherart Erzählung bedarf des Glaubens und so geht der Glaube in die Offensive und formiert seinen Anspruch: „Der Glaube ist gewiß, gewisser als jede menschliche Erkenntnis“, so lehrt es der Katholische Katechismus (KK 157). Mit dem Vater der Geschichtsschreibung, Herodot, wird immer wieder beschrieben, daß wohl alle Gesellschaften irgendeine Form von Religion und Glauben kennen. Die antike Philosophie leitete daraus sogar einen Beweis für die Existenz von Göttern ab, ex consensu gentium. Götter, Götzen, Geister tummelten sich jahrtausendlang in der menschlichen Vorstellungswelt, einvernehmlich, streitlustig, vielfältig jedenfalls. Ihre Wurzeln, die prägend noch für unsere kulturelle Tradition, finden sich in den nahöstlichen und mediterranen Gegenden, Ägyptens, Mesopotamiens, Israels, Kleinasiens, Griechenlands, später auch des römischen Reichs. Verschiedene Völker verehrten verschiedene Götter, die Wirklichkeit dieser jeweils fremden Götter wurde nicht bestritten. Die antiken Polytheismen kannten keine unwahren Gottheiten, Götter der fremden Völker galten nicht als falsch oder fiktiv. Doch diese alten Göttergestalten, mit ihnen die alten Religionen sind kein Gegenstand der Verehrung mehr, weder schrecken, trösten, noch fordern sie uns. Auch fehlte diesen alten Religionen die systematische Ausformung in Theorie wie Organisation.
Mit dem Monotheismus veränderte sich die Situation radikal und beendete die antike polytheistische Gemütlichkeit. Die Erzählung des Monotheismus erhielt ihre feste Rahmung. Katholischerseits glaubt man bis in unsere Tage: „Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden; denn aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer Heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihrem Teilen als heilig und kanonisch, weil sie unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben …, Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind … Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren“ (2. Vatikanisches Konzil. Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung). Evangelischerseits: „… und bleibt allein die Heilige Schrift als … Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem ein(z)igen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht seien“ (Konkordienformel, Bekenntnisschrift der evangelisch-lutherischen Kirche). Bei Luther selbst heißt es luzid und ohne Umschweife: „Vollkommen und ausnahmslos, ganz und alles geglaubt, oder gar nichts geglaubt. Der Heilige Geist lässt sich nicht trennen noch teilen, dass er ein Stück sollte wahrhaftig und das andere falsch lehren oder glauben lassen.“
Doch welcher Christ ist noch vertraut mit seinen Glaubensgrundlagen? Die Schrift, die Erzählung, lehrt „ohne Irrtum die Wahrheit“. Doch angesichts von dreiundzwanzigtausend (als Zahl: 23.000) „Korrekturen“ innerhalb der ältesten Bibelfassung, des Codex Sinaiticus, ist das einigermaßen erstaunlich für ein erklärt verbal oder göttlich inspiriertes Buch. Es könnte also durchaus lustig sein, sich mit den Religionserzählungen zu beschäftigen. Die Erfindungen und Ausschmückungen verschiedenster himmlischer Paradiese könnten zum Lachen animieren, zum herzhaften gar. Da sind dann, bedingt jeweiliger Visionen, Engel, geflügelt oder auch nicht, Jungfrauen in endloser Zahl oder angesichts eines Mißverständnisses – enttäuschend genug – doch nur süße weiße Rosinen; siebenköpfige Drachen treiben ihr Unwesen oder explodieren gar nach dem Genuß von Kuchen. Auch wird zum genußvollen Schauen der Höllenqualen der Ungläubigen eingeladen, endlos ertönt musikalisches Spiel (soll’s gar die Schreie der Verdammten übertönen?). Schon stellt sich die Frage, muß im Paradies doch gearbeitet werden oder entsteht die Musik aus sich selbst, nebst Harfe, Orgel und dergleichen? Wiederauferstehungen kannte das Altertum noch zuhauf, jeder Kult, der etwas auf sich hielt, berichtet von denen, „die aus den Gräbern gingen“. Uneinigkeit besteht unter Christen weiterhin darüber, ob es am Tage des Jüngsten Gerichts, dann den alten Körper zurückgibt, inklusive transplantierter Organe und Endoprothesen, oder der Verstorbene eine Neuausstattung des Leibes erhält.
Strapazierte Geldbeutel
Doch diese Art zu fabulieren und zu träumen, sich in Narretei und Zumutungen zu verlieren, verursacht uns zu hohe Kosten. Horrend die Summe allein der Staatsleistungen an die Kirchen in Deutschland für das Jahr 2023. Die märchenhafte Summe von 602 Mio. Euro (602.244.200) wurde dem deutschen Steuerzahler aus dem Geldbeutel gezogen. 2024 erhalten die Kirchen dann bereits circa 618,4 Millionen Euro an Staatsleistungen von den Bundesländern (außer Bremen und Hamburg). Sogleich wird dazu ein altbekanntes Kirchenmärchen vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder im Mai 2024 beim Festakt zum hundertjährigen Bestehen des Bayern-Konkordats erzählt. Festakte sind überhaupt geeignete Anlässe für derlei Märchenerzählungen und so fabulierte er, für ihn seien die jährlich von Bayern allein an die katholische Kirche überwiesenen 77 Millionen Euro aus dem Staatshaushalt „gut angelegtes Geld“. Sie bedeuten doch eine „saubere, solide Arbeitsbasis“ für die Kirche. Und natürlich: Eine stabile Kirche stabilisiere auch den Staat. Auch inmitten des Weltkrieges 1917 versicherten die deutschen Bischöfe mit „unerschütterlicher Treue und opferfreudiger Hingebung“ zu den „Herrschern von Gottes Gnaden“ zu stehen. Sie kamen auch nicht umhin zu bekennen: „Wir werden stets bereit sein, wie den Altar so auch den Thron zu schützen gegen äußere und innere Feinde, gegen Mächte des Umsturzes, die auf den Trümmern der bestehenden Gesellschaftsordnung einen erträumten Zukunftsstaat aufrichten wollen“. 1933 bekannte sich der deutsche Episkopat sodann freimütig zum nationalsozialistischen Staat – „weil wir in jeder menschlichen Obrigkeit einen Abglanz der göttlichen Herrschaft und eine Teilnahme an der ewigen Autorität Gottes erblicken“.
Es kann somit keineswegs mehr überraschen, wenn man in der Welt vom 24. März 2021 liest, die Kirchen seien „in Sachen Corona sehr kooperativ“ gewesen. Die Sache mit der Trennung von Staat und Kirche gehört nämlich zu einem anderen Märchen. Überhaupt läßt sich der Gläubige selbst seinen Glauben durchaus etwas kosten: 2023 flossen 6,52 Milliarden Euro in die Schatullen der Katholischen Kirche. Evangelische Gläubige berappten für ihr Glaubensleben etwa 5,91 Milliarden Euro. Trotz gezahlter Kirchensteuer ist es für den Gläubigen allerdings nicht garantiert, daß seine Heils-Interessen irgendeine Beachtung finden. Zwar sagt Jesus im 6. Kapitel des Johannesevangeliums: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“, aber was hilft es dem Gläubigen, wenn etwa die Berliner katholische Kirche dagegenhält: „Das Erzbistum Berlin hat frühzeitig Verantwortung übernommen […] Veranstaltungen, Erstkommunion- und Firm-Vorbereitung und vor allem Gottesdienste in ihrer üblichen öffentlichen Form [sind] abgesagt“.
Dämonen-Erzählung
Der ehemalige juristische Berater von Papst Benedikt XVI. und Professor für kanonisches Recht an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, Stefan Mückl, wird resümieren: „Die Kirche erfüllte mustergültig die staatsbürgerliche Pflicht zur Gesetzesbefolgung und verzichtete auf ihr Recht, die staatlichen Restriktionen gerichtlich überprüfen zu lassen“ und darüber hinaus betonen: „sie machte sich diese zu eigen und verteidigte sie auch gegen manche kritische Stimme aus den Reihen der Gläubigen […] fast als Luxusproblem“ erscheinen da die Gottesdienstausfälle. Ist nach alter kirchlicher Erzählung nicht aber die Seelsorge die ureigenste Aufgabe der Kirche? Spätestens seit den Tagen der Aufklärung gilt und bei Robert Pucher wissen es sogar die Märchengestalten selbst: „Märchen entsprechen nicht zwangsläufig der Wahrheit […] Jedenfalls nicht in allen Details“. Damit die alte Erzählung jedoch nicht völlig verdampft, wird Stefan Mückl seine Kirche erinnern: „Das Heil der Seelen, welchem die Spendung der kirchlichen Sakramente vorrangig dient, muss in der Kirche immer das oberste Gesetz sein, auch und gerade in Zeiten von Not, Krieg und Seuchen“.
Aber längst sind „die verwaisten Altäre […] von Dämonen bewohnt“, wie es dem Schriftsteller Ernst Jünger schwante. Wo aber Dämonen wohnen, da ist auch viel Wahn. Not, Krieg und Seuchen sind weltweit zu erleben oder werden von den Regierenden herbeiphantasiert. Der Wahn, mit ihm die Angst, feiert Urstände. Es bedarf also vermehrt der Erzählung, es bedarf vor allem williger und gläubiger Anhängerschaft. Die Erzählung, will sie denn wirkmächtig werden, bedarf allein des Glaubens. Der Glaube lebt schließlich vom Gläubigen, nie ist es umgekehrt, mag mancher dies auch glauben. Sie alle, die Medien- und Staatshörigen, die Schwachen, die Willfährigen, die Geduldigen, die Gleichgültigen bilden das Refugium des Glaubens, das Refugium mithin von Wahn und Angst.
*
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.