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Carsten Germis: NANCY FAESER UND DIE KUNST DES SCHREIBENS

Die geplante Gleichschaltung öffentlicher Rede lässt lange vergessene Widerstandsformen aktuell werden.


Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und ihr Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang (CDU) verschärfen den Kampf gegen Oppositionelle und politisch Andersdenkende. Schon der Verdacht, eine von der regierenden »Fortschritts«koalition abweichende Meinung zu haben, soll künftig ausreichen, Freiheitseinschränkungen der Bürger und staatliche Verfolgung zu legitimieren. Selbst wer bloß Hohn und Spott über eine offensichtlich von den Folgen ihrer Politik überforderte Regierung zu äußern wagt, wer die wachsende Kluft zwischen den Predigten des herrschenden Parteienoligopols und der Wirklichkeit im Alltag benennt, soll ins Visier von Geheimdienst und Strafjustiz kommen. Allein die Vermutung, da könne einer zu kritisch sein, reicht; die Beweislast wird umgekehrt. Selbst liberale und linke Kritiker werden zu »Rechten“ erklärt. Die vierte Gewalt im Staat, die Medien, begleitet diese Aushöhlung des vom Geheimdienstchef und seiner Dienstherrin seit Längerem umgedeuteten Rechtsstaats mit dröhnendem Schweigen. In jeder funktionierenden Demokratie müsste eine Ministerin, die zur Sicherung der eigenen Macht unbedenklich den Aufbau autoritärer Strukturen fordert, wohl zurücktreten. Und ein Geheimdienstchef, der den Bürgern ihre »Denk- und Sprachmuster« vorschreiben will, würde als untragbar umgehend entlassen. Im neuen deutschen vormundschaftlichen Obrigkeitsstaat mit seinen der Wirklichkeit entfremdeten politischen Märchenerzählern aber soll es niemand wagen zu sagen: »Der Kaiser ist nackt.«  Es mag also der Mühe wert sein, mit dem einst von den Nationalsozialisten ins Exil vertriebenen jüdischen Philosophen Leo Strauss darüber nachzudenken, wie sich diese Verfolgung auf das Denken und das Handeln der Menschen in Deutschland auswirkt.



Belgian Presidency of the Council of the EU 2024 from Belgium, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons. Foto ausgeschnitten und farbverändert von der Redaktion.


Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Die Mehrheit der Menschen wagt es Umfragen zufolge nicht mehr, angesichts der innerstaatlichen Feinderklärungen der Obrigkeit die eigene politische Meinung in der Öffentlichkeit frei zu äußern. (Große Ausnahme sind Funktionäre und Sympathisanten der Grünen, die ihre kulturelle Hegemonie in Staat, Medien, Hochschulen und Kultur in vollen Zügen genießen. Auch infolge dieser Verengung des politischen Diskurses wächst die Unzufriedenheit mit dem von den Herrschenden zur alleinigen Demokratie umgedeuteten Parteienstaat dramatisch.)

 

Leo Strauss hat sich schon 1941 in seinem Aufsatz »Verfolgung und die Kunst des Schreibens« mit solchen Fragen befasst und daran erinnert, dass die Unterdrückung unabhängigen Denkens in der Vergangenheit keine Seltenheit, eher sogar die Regel war. Die Wende zu besseren Zeiten kam in Europa erst mit den Philosophen der Aufklärung, die mit dem Fortschritt der Volksbildung das Ideal einer völligen Redefreiheit und den Weg zur demokratischen Volksherrschaft erreichbar hielten. »Was man Gedankenfreiheit nennt, bedeutet in der Mehrzahl der Fälle – praktisch besteht sie sogar aus nichts anderem –, daß man zwischen zwei oder mehr verschiedenen Ansichten wählen kann«, schreibt Strauss.  Wird diese Wahl unterbunden – wie es Faeser und Co. mit ihren vorgeblich gegen »rechts« geplanten Gesetzen schon in Verdachtsfällen tun wollen –, nimmt man »damit vielen Menschen die einzige Form geistiger Unabhängigkeit, die ihnen zu Gebote steht, und mit ihr die einzige Gedankenfreiheit, die politisch von Belang ist«. Faeser betreibt ihren voraufklärerischen Demokratieabbau als Innenministerin (die für den Schutz der Verfassung zuständig ist) mit einer bislang unvorstellbaren Dreistigkeit. Wenn nur die Möglichkeit besteht, eine politische Opposition zur selbsternannten Berliner »Fortschritts«koalition könne »gesellschaftliche Einflussnahme« erlangen und den Herrschenden politisch gefährlich werden, soll das künftig ausreichen, um den staatlichen Verfolgungsapparat in Gang zu setzen. Strauss erinnert – im Jahr 1941! – daran, dass das, was Sahra Wagenknecht heute als woke Weltsicht der Selbstzufriedenen unserer Zeit anprangert, seit jeher den Beginn politischer Verfolgung anzeigte. Diese setzte immer dann ein, wenn es jemanden gab, »der sich von irgendeiner ihm zu Ohren kommenden Wahrheit verletzt fühlen könnte«.


Verfolgung? Ist das nicht übertrieben? Beschreibt das wirklich den Zustand im »besten Deutschland aller Zeiten« (so Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, SPD)? Oder sind solche Behauptungen und Fragen schon eine »Verhöhnung« der sich selbst mit dem Staat gleichsetzenden Innenministerin, für die man es künftig mit Verfassungsschutz und Strafjustiz, also »mit einem starken Staat zu tun bekommen« soll? Auch da ist Strauss eindeutig: »Der Terminus Verfolgung umfaßt eine Vielfalt von Phänomen. Sie reicht von der unbarmherzigsten Form der Verfolgung, wie sie die Spanische Inquisition verkörpert, bis zur mildesten, der gesellschaftlichen Ächtung.« Zwischen diesen Polen sind mancherlei Spielarten der politischen Verfolgung praktizierbar. Möge jeder selbst einschätzen, welche Spielart in der Bundesrepublik nach Faesers Vorstellungen dominieren wird, wenn Oppositionelle, nachdem sie zu Feinden erklärt worden sind, grundlegende Kritik an der Energie-, der Migrations-, der Wirtschafts-, der Sozialpolitik oder gar an der Integrität und Kompetenz des politischen Personals der Berliner »Fortschritts«regierung üben.

 

Verfolgung ist die unerlässliche Bedingung dafür, dass das, was Strauss logica equina nennt, seinen höchsten Wirkungsgrad erreichen kann. Wenn öffentlicher Widerspruch inkriminiert wird, führt das dazu, »daß an der Wahrheit einer Behauptung, die von der Spitze der Regiering unablässig wiederholt wird, ohne daß ihr widersprochen würde, nicht der geringste Zweifel besteht«. Auch deswegen fordert Haldenwang mit Blick auf abweichende Meinungen und Fundamentalkritik an der Regierung in verräterischer Offenheit, dass sich deren »Denk- und Sprachmuster nicht in unsere Sprache einnisten« dürften. Um es klar zu sagen: Die Innenministerin und der Chef des Inlandsgeheimdienstes wollen das aus ihrer Sicht unliebsame Denken und Sprechen und jede Kritik am Kurs der Regierung im Keim ersticken. Auch dieses Vorgehen ist nicht neu. Strauss stellt nüchtern fest: Polizeilicher Zwang allein garantiert noch keine Zustimmung der Bürger zu den Maßnahmen der Obrigkeit. »Er kann der Überzeugung lediglich den Weg bahnen, indem er jeden Widerspruch zum Schweigen bringt.« An der »Wahrheit«, die Faeser, die Wirtschaftsminister Robert Habeck oder die aktivistische Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und ihre fortschrittlichen Kabinettskollegen unablässig für sich beanspruchen, ohne dass ihnen noch widersprochen werden darf, besteht dann in der betreuten »demokratischen« Debatte nicht mehr der geringste Zweifel.

 

Die Geschichte zeigt jedoch, dass das auf lange Sicht nicht funktioniert. Auch mit Zwang und Meinungsunterdrückung werden »all jene, die zu wahrhaft unabhängigem Denken fähig sind, nicht dazu gebracht werden können, sich die von der Regierung geförderten Ansichten zu eigen zu machen. Verfolgung kann also unabhängiges Denken nicht verhindern«, stellt Strauss fest. Doch – das merken viele Kritiker der Regierung schon heute – die Menschen werden vorsichtig. Gegenüber Freunden und vertrauenswürdigen Bekannten kann man sich in der Regel noch frei äußern. Das mag ein Grund dafür sein, warum die Regierung mit den von ihr finanzierten Rechercheuren private Zusammenkünfte zu gefährlichen »Geheimtreffen« umdeutet. Deswegen dürfen demnächst staatsfinanzierte Denunziationsportale rot-grüner Vorfeldorganisationen beim bloßen Verdacht unliebsame Bürger der Polizei melden. Deswegen werden Spenden an nicht verbotene Oppositionsparteien mit organisierter Kriminalität gleichgesetzt. Die staatlichen Sicherheitsorgane werden zur Exekutive linker »zivilgesellschaftlicher« Gruppen.


Neben dem Rückzug ins Private und »Gesprächen in der Sicherheit des Schweigens« war in der Vergangenheit unter Verfolgungsdruck eine zweite Form der Opposition weit verbreitet, und auch sie könnte nun wiederbelebt werden: das »Zwischen-den-Zeilen-schreiben« und –reden. Bei manchen Journalisten in den Redaktionsstuben der rot-grün-woker Hofberichterstattung willfährig folgenden Medien, sogar bei einzelnen Schriftstellern, kündigt sich das bereits an. Da wird dann in jedem Absatz erst einmal regierungsfreundlich unmissverständlich erklärt, a sei b. Und dann wird plötzlich angedeutet, a sei möglicherweise doch nicht b. »Denn Verfolgung wirkt sich auf die Literatur eben gerade dadurch aus, daß sie alle Autoren, die heterodoxe Ansichten vertreten, dazu zwingt, eine besondere Schreibtechnik zu entwickeln«, bemerkt Strauss dazu. Er erinnert an Gotthold Ephraim Lessing, der im zweiten Gespräch von Ernst und Falk schon gezeigt habe, dass alle alten Philosophen in Zeiten der Verfolgung zwischen ihrer exoterischen und ihrer esoterischen, also ihrer offenen und versteckten Lehre, unterschieden hätten. Das Verhältnis von Esoterischem und Exoterischem in politisch-philosophischen Texten ist Strauss zufolge eine Form mehrfacher Kodierung, der die Leser dazu nötigt, Texte zu entschlüsseln und zu enträtseln. Strauss hat seinen Artikel über »Verfolgung und die Kunst des Schreibens« sicherlich deswegen verfasst, um seine eigene Interpretationskunst an Beispielen der Philosophie von Maimonides bis Rousseau vorzuführen. Er hat aber auch, wie schon sein erster Satz zeigt, die Politik der autoritären und totalitären Regime seiner Zeit im Blick. »In einer Reihe von Ländern, in denen man sich seit rund einhundert Jahren einer praktisch uneingeschränkten Meinungsfreiheit erfreut hat, ist diese Freiheit nun abgeschafft und durch einen Zwang ersetzt worden, der die öffentliche Rede mit solchen Ansichten gleichschalten soll, die die Regierung für nützlich hält oder tatsächlich ernsthaft vertritt«, beginnt der im November 1941 in der Zeitschrift Social Research erschienene Text. Heute nähert sich Deutschland ebendiesem Weg – nach dem Willen der herrschenden Parteienoligarchie unter tatkräftiger Führung der Innenministerin und des Verfassungsschutzpräsidenten, getrieben von der Furcht, die bislang kaum ernsthaft herausgeforderte politische Deutungshoheit zu verlieren. Stoßen sie mit den jetzt geplanten Einschränkungen der Gedanken- und der Redefreiheit nicht auf energischen Widerstand der Demokraten und der schweigenden Mehrheit im Land, dürfte Nancy Faeser mit ihrer Politik künftig eine wachsende Zahl von Bürgern dazu motivieren, Texte wie »Verfolgung und die Kunst des Schreibens« gründlich zu studieren. Bisweilen ist das »Zwischen-den-Zeilen-lesen« schon heute aufschlussreich. Welche – wenngleich wohl eher aus Dummheit denn als Protest auf Plakate gemalte – Botschaft steckt in dem Slogan »Nie wieder ist jetzt«?

 

Nie wieder Verfolgung und verbale Entmenschlichung Andersdenkender ist im Selbstverständnis der Bundesrepublik ja die Lehre aus zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Nur: Wer beginnt denn »jetzt« aus einer Machtposition heraus wieder mit innerstaatlichen Feinderklärungen gegen Andersdenkende? Nancy Faeser oder Alice Weidel? Wer erklärt politische Gegner im demokratischen Wettbewerb zu Feinden? Lisa Paus oder Sahra Wagenknecht? Die Parole »Nie wieder ist jetzt« erweist sich unbeabsichtigt als Klartext. Nüchtern resümiert Leo Strauss, »daß gedankenlose Menschen unachtsame, nachdenkliche Menschen jedoch aufmerksame Leser sind«.

 

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Über den Autor: Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung




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