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Hans Günter Holl: PERVERSION DER AUFKLÄRUNG DURCH IDEOLOGIE

  • 28. Aug.
  • 6 Min. Lesezeit

Kalendarisch betrachtet begann die Aufklärung 1620, mit dem Erscheinen von Francis Bacons Werk Novum Organon. Dieser Titel bezog sich auf das Organon des Aristoteles, bestehend aus den „Kategorien“ und der „Lehre vom Satz“, die klar bestimmen sollten, welche Erklärungsprinzipien und Aussagen als philosophisch zulässig gelten konnten – und zwar unabhängig davon, ob sie sich auf Natürliches oder Geistiges bezogen.



Gehirn, dort irgendwo. Lebenskunde in der Dorfakademie, 1959
Gehirn, dort irgendwo. Lebenskunde in der Dorfakademie, 1959

Bacon lehnte ebenso wie Aristoteles die von Platon begründete „bifurcation of nature“ ab. Doch vollzog er einen radikalen Paradigmenwechsel beim Leitmotiv der Erkenntnis. Während Aristoteles in allen Vorgängen ein Streben nach Vollkommenheit verwirklicht sehen wollte, proklamierte Bacon das Ideal der ergebnisoffenen Empirie, das heißt der genauen Beobachtung durch Versuche und Messungen. Seine experimentelle Methode feierte ungeahnte Triumphe, als Galileo sie um die Einsicht bereicherte, dass „das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist“.


Weisheitsliebe und Hochmut


Insofern könnte man die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein unangefochtenen Principia mathematica Newtons als epochalen Erfolg dieser Methode ansehen und Alain Pichard beipflichten, dass „die Mathematik, mit ihrer klaren Logik und Beweisführung, zum Ideal wissenschaftlichen Denkens wurde, da die Aufklärung vom Glauben an die menschliche Vernunft geprägt war“. Allerdings ist zu beachten, dass jene Principia, als mathematisch formulierte Naturphilosophie, zwischen „Science“ und „Humanities“ lagen, also abseits vom Hauptstrom des universellen Rationalismus: Denn der gab sich „kritisch“, vor allem religions- und autoritätskritisch, was natürlich auch Newton persönlich betraf.


Unter dem von Newton selbst durch nichts erweckten Eindruck der Endgültigkeit seiner Mechanik fühlten sich idealistisch gesinnte Aufklärer berufen, unerwünschte Einwände im Namen des Empirismus zu entkräften. Wie ging es an, aus simpler Erfahrung andere als vorläufige Schlüsse zu ziehen, ja sogar eherne Gesetze abzuleiten? Die frappierende Antwort beruhte auf einer radikalen Umdeutung der Experimentalphysik und lief letztlich auf eine tiefe Verachtung aller Empirie hinaus. Im Kern ersetzte sie das profane Problem der Ableitung durch die ganz anders geartete, nämlich transzendentale Frage: „Wie sind synthetische Urteile apriori möglich?“ Während alle großen Forscher sich in der Antwort „Gar nicht!“ einig gewesen wären, fand der deutsche Idealismus sie in seiner unseligen Apotheose, die seitdem als Fundament aller Ideologiebildung dient.


Von Kants Diktum, dass der Mensch der Welt ihre Gesetze vorschreibt, führt ein direkter Weg zu Hegels Apologie des Bestehenden: „Was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich.“ Dabei wurde das transzendentale Subjekt Kants so stark objektiviert, dass nicht einmal mehr die Differenz zwischen Wirklichkeit, als dem Chaos des Mannigfaltigen, und Realität, als geordneter Struktur, eine maßgebliche Rolle spielt. Der Einzelne reflektiert daher nicht seine Erfahrungen, zum Beispiel mit dem Verhältnis zwischen Anspruch und Erfolg sozialer Systeme, sondern er erfasst den „Zeitgeist“, um ihn als harmonisch mit den Vorgaben des „Weltgeistes“ zu begleiten oder als dissonant mit diesen zu überwinden. Tolstoi mokierte sich über Hegel, als er dessen „Weltgeist zu Pferde“ den „Geist der Truppen“ unter General Kutusow entgegensetzte.


Was ist Fortschritt?


Wie Pichard schrieb, galt die mathematisch fundierte Aufklärung weithin „als Symbol für Vernunft, Ordnung und Fortschritt“. Doch in ihrer ideologisch pervertierten Form betonte sie ein Vernunftkonzept, das „die klare Logik und Beweisführung“ ebenso geringschätzte wie das Zeugnis der Empirie. Seither stehen drei Fortschrittsmodelle nebeneinander, die  erkennbar unterschiedliche Wertschätzung genießen: das wissenschaftlich-technische, das religiöse und das ethisch-politische.


Im Wissen?


Streng genommen genügt nur das erste Modell den begrifflichen Anforderungen, weil es als einziges klar definierte Qualitäts- und Vergleichsmaßstäbe bietet – zumindest für den Fall, dass man „Fortschritt“ als Lösung eines allgemein anerkannten Problems definiert, die eine Verbesserung der bestehenden Situation bewirkt. Man sieht sofort, dass hierbei Wertungen mitspielen, die nur in streng organisierten Fächern keine weltanschaulichen Kontroversen auslösen. Experimentelle Forschung schreitet auf zwei Ebenen voran, der faktischen und der theoretischen: Wenn bewiesen ist, DASS etwas existiert (oder nicht, wie der „Äther“), sollte im Idealfall anschließend erklärt werden, WARUM es der Fall ist.


Ein berühmtes Beispiel war die Periheldrehung des Merkurs, die mit der Lichtablenkung erklärt wurde. Diese wiederum mit der Gravitation als einer Kraft, die Newton (und auch Einstein) lediglich beschreiben, aber nicht erklären konnte. Ähnlich verhält es sich auch bei den meisten anderen Grundfragen. Daten von Teleskopen zeigen, DASS die Galaxien fliehen. Die Frage nach dem WARUM wird mit dem „Urknall“ beschieden, der indes eine Zumutung bedeutet, da er ein elementares Prinzip der Logik aufhebt: „Ex nihilo nihil fit.“ Daher wäre es wohl sinnvoller, der aus dem imaginären i (√-1) hergeleiteten Hypothese Stephen Hawkings zu folgen, die ein ewig pulsierendes All nahe legt.


Wie dem auch sei: Die empirische Forschung macht eindeutig Fortschritte im Bereich des Faktenwissens, indem sie offene Fragen beantwortet. Sie kann also vielfach erstaunlich gut begründen, DASS etwas so oder so ablaufen muss. Allerdings vermag sie im Wesentlichen nicht zu erklären, WARUM es so ist. Wenn sie trotzdem mit der GUT (Gand Unified Theorie) eine „Weltformel“ anstrebt, so würde diese nichts Geringeres leisten als die Auflösung des fundamentalontologischen Rätsels: „Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ Man darf bezweifeln, dass auch die Übernahme der „unseligen Apotheose“ in eine an sich säkulare Weltsicht auf vitalen Fortschritt hoffen lässt.


Im Glauben?


Aus rationalistischer Perspektive gelang der wichtigste geistesgeschichtliche Fortschritt überhaupt mit der Einführung des Monotheismus, der die Basis aller Spekulationen über die Natur der Dinge bildete. Erst die Genesis begründete den Glauben an ein homogenes Weltall. Die weiteren Entwicklungen betrafen vor allem moralische Fragen, wobei zutage trat, dass die Ethik ihrer eigenen Logik folgt. Das Judentum begann mit dem jähzornigen, rachsüchtigen JAHWE, der Vergeltung propagierte, und läuterte sich unter dem Einfluss der Orestie und der Ideenlehre bereits zu Zeiten Rabbi Hillels zum Liebeskredo. Dem lag die Einsicht zugrunde, dass es ein Widerspruch in sich ist und zu endlosem Leiden führt, Böses mit Bösem zu vergelten. Die radikale Konsequenz, nicht nur zu verzeihen, sondern seine Feinde zu lieben, war mit ihrer tiefenpsychologischen Wahrheit eine derart brutale Zumutung, dass sie sich nicht durchsetzen konnte. So diente auch die Religion der Liebe – bis heute – als Rechtfertigung dafür, im Namen einer höheren Instanz zu quälen und zu morden, woraus Whitehead die Bilanz zog: „Religion ist die letzte Zuflucht menschlicher Grausamkeit.“


Die oben angesprochene innere Logik der Ethik widerspricht dem nicht, sondern erklärt es. Religion ist ihrem Wesen nach machtberauscht. Wo Gott als allmächtig gilt, sind die Gläubigen ihm zwar unterworfen, haben aber auch an seiner Macht teil. Deshalb neigen sie nicht dazu, das Attribut der Güte als Einschränkung zu verstehen, sondern setzen es mit Allmächtigkeit gleich, was durchaus der Logik des Allmachtbegriffs entspricht.


Als Benedikt den Byzantiner zitierte mit der Provokation „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat“, und seinem pauschalen Verdikt „nur Schlechtes und Inhumanes“: Da wollte er nicht erkennen, dass der Islam einen echten, ja grundstürzenden Fortschritt darstellte, indem er die fällige Konsequenz aus der substanziellen Identität von Gott und Allmächtigkeit zog. Diese erfordert nämlich mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit, Gott und seiner Umma unbedingte, nicht durch ethische Bandagen eingeschränkte Macht zuzusprechen. Insofern erwächst, wie Whitehead betonte, die Grausamkeit nicht dem Islam, sondern der Religion als solcher – sofern sie nicht Entsagung heißt.


Im Regieren?


Walter Benjamin hat bemerkt, dass es seit der ideologischen Umleitung der Aufklärung durch antiempirische, unmathematische Denkweisen bei den staatlichen Institutionen und ihrer Legitimation keine Fortschritte mehr gab, sondern nur noch Posen und Moden – schlimmere und weniger schlimme… Mit feinem Gespür für die Manieriertheit der sich als kompetent geschichtsmächtig inszenierenden politischen Akteure deckte er die fast instinkthafte Zuflucht zur jeweils gängigen „Mode“ auf, die dank ihrer „Witterung für das Aktuelle“ zum „Tigersprung ins Vergangene“ ermutigte.


Das Vergangene bot zwar keine tragfähigen Modelle für stabile Verhältnisse. Stattdessen aber sehr brauchbare Anleitungen: Wie man durch Dramatisierung erfundener Probleme und Stigmatisierung bestimmter, dabei störender oder gar als Verursacher beschuldigter Gruppen von chronischen, intellektuellen, organisatorischen und strukturellen Defiziten ablenken kann.


Verrat an der Aufklärung


Das reale Grundproblem der Moderne liegt darin, dass die Politik in ständiger „Witterung für das Aktuelle“ vom erwähnten technischen und religiösen Fortschritt übermannt wird und ihn irgendwie verwalten muss, ohne es jedoch wirklich zu verstehen. Infolge dessen greift sie zu der Ausflucht, eigene „Neuerungen“ zu erfinden, die sie mühelos verstehen, spektakulär verwalten und als weltrettende Fortschritte lobpreisen kann. Davon zeugen heute die neuen (entgegen dem Ersten Hauptsatz „erneuerbaren“) Energien, die neuen (ebenfalls „erneuerbaren“) Geschlechtsidentitäten nebst neuen Sprachregelungen, die neuen Impfvorgaben, das neue Grenzregiment und die neue Fiskalverfassung.


Alle diese Innovationen haben mit dem Verrat der Aufklärung gemeinsam, dass sie rein ideologisch motiviert, empirisch bodenlos und wissenschaftlich nicht begründbar sind. Wenn derart krasse Eingriffe willkürlich, ohne rationale Kontrolle und nur machtgestützt erfolgen, stoßen sie nicht allein auf moralische, sondern auch auf reale, in der Natur der Dinge angelegte Sperren. Da Moral ein Ausfluss der Religion und insofern machtgefügig ist, kann die normative Kraft des Faktischen den moralischen Widerstand eine Zeitlang niederhalten. Doch auch das nur so lange, bis die Verletzung elementarer Denkgesetze, bewährter wissenschaftlicher Prinzipien und zäher Traditionsgeflechte unverhofft ihren Tribut fordert, vom Schmetterlingseffekt der Chaostheorie zu schweigen.

 

Über den Autor: Hans Günter Holl, geb. 1949, ehemals Übersetzer (Whitehead, Bateson), heute Essayist und Rechtsanwalt.


Beitragsbild von Bundesarchiv, Bild 183-69027-0001 / CC-BY-SA 3.0


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