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Hans Günter Holl: SINN UND KONTEXT

  • 23. Apr.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 6. Juni


»Man hat den Eindruck: Sittliche Übereinkunft und gesunder Menschenverstand, antikes und jüdisch-christliches Erbe, Aufklärung und pragmatische Vernunft befinden sich im freien Fall.[...] Wenn bis hin zur Geschlechtlichkeit nichts mehr sicher ist, wenn Logik, Sprache und Grammatik zuschanden werden, zerbricht der Rahmen, der eine demokratische Gesellschaft zusammenhält.«

Kleinschmidt, Richert, Seidel: Bild der Welt und Geist der Zeit. Evangelische Verlagsanstalt 2024


Kürzlich las ich eine Leskow-Biographie, die mir erschien wie aus einer längst versunkenen Welt. Der Autor hatte sich, nicht allein in seinen Schriften, sein Leben lang um eine ethisch fundierte Renaissance der russischen Gesellschaft bemüht. Dabei hatte er versucht, die tiefen Konflikte zwischen den Parteien – zwischen Klerus und Volk, Adel und Bauern, Orthodoxen und Altgläubigen, idealistischen Slawophilen und materialistisch-nihilistischen Westlern – nicht nur zu analysieren und von Grund auf zu verstehen, sondern durch praktische Aufklärungsarbeit zu überwinden.


Nikolai Leskows vergebliches Streben nach grundlegenden Sozialreformen stürzte ihn in eine Depression, aus der ihn schließlich die persönliche Bekanntschaft mit Lew Tolstoj befreite. Zwar missbilligte er dessen radikale Konsequenz aus der Bergpredigt, „sich dem Bösen nicht zu widersetzen“ und in Abkehr vom Bestehenden in ein „neues Reich Gottes“ zurückzuziehen – dessen einziger Bewohner, wie der Biograph Erich Müller lästerte, „Tolstoj selbst war und blieb“. Aber die beiden Wahrheitssucher verband ihre Abscheu vor der institutionellen Perversion des Christentums, und sie begriffen die Lehren Jesu übereinstimmend als neue, ja prophetische Lebensauffassung. In einem Brief aus jener Zeit bekannte Leskow, Tolstoj sei „mein Heiligtum auf Erden“ – er habe ihm „einen Weg ins Leben ohne Ende enthüllt“, und nur in seinen Begriffen habe er „Vernunft und Sinn“ gefunden.


Damit ist der innere Zusammenhang zwischen dem Eingangszitat und dem Titelthema meines kleinen Essays angesprochen. Angesichts der Konflikte Leskows, deren Leitmotive durchaus auch namhafte westliche Autoren prägten, drängte sich mir zunehmend der Verdacht auf, dass solche eschatologischen Grundsatzprobleme bei der modernen gesellschaftlichen Realität mit ihrem säkularen Funktionalismus „outdated“ sind, was ihr Absterben treffender erfasst als die deutschen Wörter „unzeitgemäß“ oder „überholt. Daraus erwuchs sofort das Rätsel, in welchem Kontext es überhaupt sinnvoll erscheint – oder einmal sinnvoll erscheinen konnte –, die Sinnfrage zu stellen.


Woran zerbrach der Glaube?


Offenbar ging es bei der Sinnsuche um die Teilhabe an etwas Bleibendem (das Leskow mit „Leben ohne Ende“ ansprach). Dieses konnte die Gestalt eines Prinzips annehmen, wie in der griechischen Philosophie seit Anaximander, also seinen Ausdruck in abstrakten Begriffen wie Urstoff (apeiron), Zahl, Idee oder Substanz finden. Oder es stellte sich, wie im jüdisch-christlichen Monotheismus, als personales höheres Wesen mit transzendenten Attributen dar. In beiden Fällen musste der kulturelle Kontext eine Mentalität nähren und fördern, die den Glauben an das wahre und wirkliche Sein solcher jenseitigen Sinnquellen als lebensnotwendig anerkannte.


Wie und wann kam es dazu, dass der Glaube und mit ihm jene Sinnquellen versiegten? Die im antiken Humanismus wurzelnden Ideale waren schon seit den kessen Einwänden der nominalistischen Querdenker entweiht, und die empirische Forschung trug ein Übriges zu ihrer Profanierung bei. Seither klang bei der Beschwörung des „Wahren, Schönen und Guten“, quasi als Generalbass, immer das sunt nomina mit.



Dachte früh über die Potenziale der Künstlichen Intelligenz nach - Alan Turing (1912-1954), Mathematiker
Dachte früh über die Potenziale der Künstlichen Intelligenz nach - Alan Turing (1912-1954), Mathematiker

Demgegenüber war das personifizierte Ideal des Schöpfergottes tiefer in der Kultur verwurzelt und wegen seines ontologisch respektive existenziell gesicherten Status gegen fundamentale Kritik gefeit. Das Buch Hiob (das Leskow in „Der verzauberte Wanderer“ variierte) diente gleichsam als Paradigma dafür, trotz aller noch so tiefen und noch so weit reichenden Erschütterungen am Glauben festzuhalten. Was sich im Lauf der eskalierenden Katastrophen änderte, war nicht die Voraussetzung, sondern die Interpretation Gottes. Die damit befasste „Wissenschaft“ namens Theologie nutzte ihre Dogmatik zunehmend für kollektive Seelsorge, um die Heilsfrage zu beantworten: Wie konnte Gott das zulassen? Das veranschaulicht die dramatische Zuspitzung  der Theodizee von Leibniz (Erdbeben Lissabon) bis Hans Jonas (Shoah).


Dieser Resilienz entsprechend, zerbrach der Glaube an die sinnstiftende Kraft einer göttlichen Person nicht am Gräuel der Ereignisse. Vielmehr verlor er mit der fortschreitenden Technisierung des Alltags seinen tragenden kulturellen Kontext. Dessen Zersetzung lässt im Zusammenwirken von geistigen und materiellen Faktoren analytische ebenso wie antizipatorische Einflüsse erkennen: Als Nietzsche den Tod Gottes diagnostizierte, blickte er zurück auf Analysen von Pionieren wie Strauß, Feuerbach und Renan, die Gott als ein Geschöpf des Menschen entlarvt hatten. Darin offenbart sich bereits, dass er eigentlich den Tod des Menschen meinte, auch wenn damit prophetisch die Illusion seiner evolutionären Überwindung assoziiert gewesen sein mag. Zugleich schaute er nämlich voraus auf das mit der Technisierung drohende „abstrakte Einerlei“ einer öden Betriebsamkeit, die der ökonomische Zwang zur Rationalisierung in einer als Produktionssystem organisierten Gesellschaft kennzeichnete.


Stefan Zweig betrauerte die unter den Kreuzen von Verdun beerdigte „Welt von gestern“, in der man den Begriff Wert noch ethisch zu füllen versuchte. Günther Anders begriff ein sich selbst perpetuierendes System, das er als Sein ohne Zeit definierte, als Pendant zur „Antiquiertheit“ des traditionsbewussten Menschen. Alan Turing schließlich ersann ein Experiment mit dem Ziel, die Ersetzbarkeit des Individuums durch digitale Verfahren zu erproben. Kybernetik wies später den Weg zur Robotik und Künstlichen Intelligenz – beides Techniken nicht primär, um Nutzer zu entlasten, sondern um die ökonomisch unverzichtbaren Konsumenten tendenziell als Stör- und Kostenfaktoren überflüssig zu machen.


Was kann die Künstliche Intelligenz?


Das Besondere an KI ist, dass sie Information generieren und Kommunikation simulieren kann, ohne den Sinn von irgendetwas zu erfassen. Aufgrund der ständigen Arbeit mit PC und sonstiger IT hatte man sich schon weitgehend an die trügerische neue Ich-Du-Situation mit „intelligenten“ Apparaten gewöhnt. Doch KI brachte eine entscheidende Weiterung: Sie kann nicht nur „chatten“, sondern Fragen gelehrt beantworten, recherchieren, planen und Probleme lösen (ist im Schach oder Go kaum noch zu schlagen), und alles so, dass der Turing-Test in den Augen der meisten Zeitgenossen bestanden würde.


Alle diese Aspekte laden ein zu der Vermutung, dass hochkomplexe politische Entscheidungen, deren Konsequenzen das Verständnis fast jedes Sterblichen übersteigen, nicht von Menschen aus Fleisch und Blut getroffen wurden, sondern aus Antworten der KI auf allgemeine Fragen resultierten. Was tun gegen Rassismus und Nationalismus? Vermischung von Ethnien und Religionen, Öffnung der Grenzen, Zerstörung der Nationalstaaten! Was tun gegen Finanzprobleme? Verschuldung in gigantischer Milliardenhöhe! Was tun gegen Energiekrisen? Ausrufung eines Klimanotstands mit drastischer Reduktion des Verbrauchs durch Archaisierung der Infrastruktur.


Für die Vermutung einer KI-gesteuerten Programmatik spricht, dass alle diese Vorgaben jenes rekursive, selbstreflexive Element vermissen lassen, das ehemals als spezifisches Charakteristikum intelligenten, kritischen Denkens galt. Ihre Grundausrichtung ist nicht historisch, sondern rein systemisch, und als gäbe es kein Morgen mehr auf ein System à la Anders als „Sein ohne Zeit“ bezogen. Zudem treffen derart schematische Maßnahmen auf eine Gesellschaft, die wegen ihrer automatisierten Organisation längst nicht mehr in der Lage ist, klar zwischen kreatürlichen und artifiziellen Konzeptionen zu unterscheiden. In einem solchen Kontext ist es möglich, dass zwar jeglicher Sinn für die Bewahrung der Schöpfung fehlt, uns aber von allen irgendwie bedruckbaren Flächen monotone Parolen über Toleranz, Vielfalt und Umweltschutz entgegenstarren.


Damit schließt sich ein Kreis. Am Beginn der Neuzeit hatte Descartes die Idee, dass sich im öffentlichen Raum „unter den Hüten und Kleidern ja Automaten verbergen könnten“, und nur die Gewissheit der Existenz Gottes ihm zu urteilen erlaubte, dass es Menschen seien. Ohne eine vergleichbare Gewissheit entsteht als neuer intellektueller Kontext ein Sinnvakuum, in dem es immer schwieriger werden dürfte zu entscheiden, ob man den Urteilen von KI oder von Personen vertrauen sollte.



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Über den Autor: Hans Günter Holl, geb. 1949, ehemals Übersetzer (Whitehead, Bateson), heute Essayist und Rechtsanwalt.



Titel- und Beitragsfoto: EmDee, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons



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