Thomas Hartung: DIE LÜGE VOM WAHREN BUCH
- vor 1 Tag
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„Human-Written“-Label für menschgeschriebene Literatur? Warn-Label für „umstrittene” Literatur? Diese kulturellen Zumutungen könnten bald Normalität werden.
Es ist ein auf den ersten Blick harmloser, ja beinahe sympathischer Vorschlag: Bücher, die vollständig ohne Künstliche Intelligenz geschrieben wurden, sollen künftig ein „Human-Written“-Etikett auf dem Umschlag tragen. Was wie ein Ehrenzeichen für das Menschliche daherkommt, offenbart bei näherem Hinsehen eine tiefgreifende Verschiebung des kulturellen Koordinatensystems. Die Literatur, dieser ehemals selbstverständliche Ort menschlicher Autorschaft, soll nun ihre Echtheit belegen – durch ein Label, das in seiner scheinbaren Transparenz das Gegenteil von Aufklärung betreibt: die Suggestion von Reinheit, wo längst Hybridität regiert.

Die US-amerikanische Authors Guild machte den Anfang. Mit dem neuen Siegel will man dem Verdacht entgegenwirken, Bücher würden zunehmend durch KI verfasst oder zumindest „automatisiert“ generiert. In Deutschland wird die Idee bereits diskutiert – jüngst im feuilletonistischen Subtext durch Philipp Schröder in der FAZ –, doch die juristische wie ästhetische Reflexion bleibt weitgehend aus. Dabei hätte die Kultur dieses Landes guten Grund zur Vorsicht. Denn das vorgeschlagene Siegel ist nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern ethisch problematisch und kulturpolitisch fatal.
Juristisch mag ein freiwilliges Etikett zwar zulässig sein, solange es nicht zur Irreführung des Verbrauchers führt – doch genau diese Grenze ist prekär. Der Aufdruck „Human-Written“ wirft sofort die Gegenfrage auf: Was ist mit all den anderen Büchern, die kein solches Label tragen? Muss man sie automatisch für KI-gestützt halten, für synthetisch, für sekundär? Wird der Leser nun zum Detektiv, der zwischen „echt“ und „unecht“ zu unterscheiden hat? Die Konsequenz ist eine neue Form der kulturindustriellen Stigmatisierung – nicht durch Zensur, sondern durch Etikettierung. Der aufklärerische Begriff des Autors, ohnehin in der Spätmoderne unter Druck geraten, wird nun endgültig zum Marketingfaktor degradiert.
Herkunft statt Ästhetik
Noch gravierender sind die impliziten ethischen Zumutungen. Das Siegel erzeugt kein Vertrauen, sondern institutionalisiert das Misstrauen. Es schafft eine binäre Welt – hier die aufrichtigen, menschlichen Schreiber, dort die kalten, maschinellen Konstrukteure. Doch diese Unterscheidung ist nicht nur analytisch unscharf, sondern realitätsfremd. Nahezu jeder Textschaffende nutzt heute digitale Hilfsmittel: von der Rechtschreibkorrektur über thesaurierte Stilvorschläge bis hin zur Gliederungsunterstützung. Die Grenze zwischen Inspiration und Automatisierung verläuft nicht scharf, sondern oszilliert entlang der Gebrauchspraxis. Das „Human-Written“-Siegel negiert diese Grauzonen – es verlangt Reinheit, wo nur noch Ambivalenz ist. Es ist, mit Hannah Arendt gesprochen, der Versuch, eine „reine Herkunft“ herzustellen – immer ein Zeichen autoritärer Reflexe.
Kulturell offenbart sich hier ein neuartiger Konformismus. Nicht mehr die Idee, nicht mehr das Argument zählt, sondern die Herstellungsweise. Das erinnert an die Debatten über Bio-Labels und Fair-Trade-Siegel, deren Funktion längst weniger in der Produktion liegt als in der moralischen Selbstvergewisserung des Käufers. Doch Literatur ist keine Ware wie jede andere. Ihr Wert bemisst sich nicht nach der Zahl menschlicher Finger, die über eine Tastatur gehuscht sind, sondern nach ihrem Formwillen, ihrer sprachlichen Eigenständigkeit, ihrer Wahrheit. Das „Human-Written“-Label aber verlagert das Kriterium des Gelingens von der Ästhetik zur Herkunft, von der Kritik zum Konsum.
Rechtlich bleibt die Frage, ob ein solches Label – freiwillig genutzt – überhaupt neutral verstanden werden kann. Der europäische AI Act verlangt in bestimmten Bereichen Transparenz über den Einsatz von KI, etwa bei Deepfakes oder manipulativen Algorithmen. Doch für literarische Texte besteht kein solcher Zwang. Und das mit gutem Grund: Denn jede Normierung von Kreativität zerstört ihre Möglichkeit. Ein verpflichtendes oder durch Verlagskonventionen quasi-verpflichtendes Etikett würde das Schreiben, was sich als kritisch versteht, unter einen Legitimationsdruck stellen – nicht mehr der Inhalt, sondern die Produktionsgeschichte würde zum moralischen Prüfstein.
Neue Form der Kulturverwaltung
Was hier unter dem Banner der Ehrlichkeit eingeführt werden soll – der britische Faber-Verlag macht den Anfang auf dem Cover des neuen Romans der britischen Schriftstellerin Sarah Hall –, ist nichts anderes als die technische Bürokratisierung der Autorschaft. Es steht zu befürchten, dass das „Human-Written“-Siegel nicht das Vertrauen ins geschriebene Wort stärkt, sondern eine neue Form der Kulturverwaltung hervorbringt – eine, in der Herkunftsprüfung und Reinheitssicherung an die Stelle ästhetischer Debatte treten. Was ein Text ist, entscheidet dann nicht mehr die Lektüre, sondern die Metadaten.
Zu den populärsten KI-Werkzeugen auf der Plattform ChatGPT gehört übrigens die Anwendung „Humanize AI“ – eine Künstliche Intelligenz zum Verschleiern der KI-Herkunft eines Textes. Umgekehrt kann KI den maschinellen Ursprung eines Textes entlarven – oder zumindest eine Wahrscheinlichkeit dafür ausgeben. Halls sehr menschlicher Einwand, der im britischen Magazin The Bookseller zitiert wird, ist nicht aus der Luft gegriffen, muss Schröder zugeben: Auch wenn KI Sprache gut nachahmen könne, hätten Sprachmodelle am Ende „keine Familie zu ernähren“. Hall habe zwanzig Jahre an ihrem neuen Roman geschrieben: „Sie scheint nicht davon auszugehen, dass die Leser das von selbst merken werden“, so Schröder.
Aber vor allem: Was als „Human-Written“-Siegel für Bücher beginnt, kann als Staatsplakette für politisch akzeptables Denken enden. Die Idee, Literatur mit einem Label zu versehen, das ihre „rein menschliche“ Herkunft garantiert, wirkt nur auf den ersten Blick harmlos. Doch in Wahrheit steht dieses Etikett an der Schwelle zu einer neuen epistemischen Ordnung: der Kultur der markierten Wahrheit. Norbert Haering, Analytiker der digitalen Ökonomie, zeigt auf seinem Blog, wie unter dem Vorwand der Desinformationsbekämpfung ein Wahrheitskorridor entsteht, der mit demokratischer Öffentlichkeit wenig gemein hat. Faktenchecker, KI-Detektoren, Bibliotheksverbände: Sie markieren Inhalte, um sie gesellschaftlich zu hierarchisieren. Was kein Label trägt, gilt als verdächtig. Was den falschen Labelträger hat, wird exkommuniziert.
Das „Human-Written“-Siegel ist Teil derselben Dynamik. Es verlangt eine Reinheit, die kulturgeschichtlich gefährlich ist. Gemeinsam mit Herkunftsdetektion und Warnhinweisen entsteht eine neue Bürokratie der Wahrhaftigkeit. Was zählt, ist nicht, was gesagt wird, sondern wer oder was es sagt – Mensch, Maschine oder ideologisch gelabelter Autor. Diese Entwicklung kulminiert in der Praxis öffentlicher Bibliotheken, Bücher neuerdings mit Warnhinweisen zu versehen. So geschehen in Münster, wo die Stadtbücherei auf zwei Werken aus ihrem Bestand den Hinweis angebracht hatte, diese seien „umstritten” und „eventuell nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar”. Einer der betroffenen Autoren klagte auf Unterlassung per einstweiliger Anordnung. Er unterlag in erster Instanz, obsiegte dann aber im Frühsommer vor dem Oberverwaltungsgericht Münster.
Gesetzliche Ermächtigungen zur Volkserziehung
Jetzt müssen Gerichte daran erinnern, dass der Staat keine Meinung vorschreiben darf – vielleicht sollte man auch froh sein, dass sie es noch tun. Doch die Bibliotheksverbände – die Bibliothekenvertretung Deutscher Bibliotheksverband (dbv) und die Bibliothekarsvereinigung Berufsverband Information Bibliothek (BIB) – fordern inzwischen gesetzliche Ermächtigungen zur Volkserziehung. Den Gerichtsbeschluss bezeichnet der dbv als „Rückschritt für die Entwicklung eines angemessenen rechtlichen Rahmens für die Arbeit von Bibliotheken“. Er sei widersprüchlich und werfe mehr Fragen auf als er kläre.
Die Landesgesetzgeber sollen dem abhelfen, indem sie klarstellen, dass der Auftrag der „Förderung der Medien- und Informationskompetenz“ das Recht der Bibliothekare beinhaltet, das Publikum vor den Inhalten von Büchern zu warnen, die sie für fragwürdig halten. Der Verband beruft sich darauf, dass „die neue Bundesregierung mit ihrem Koalitionsvertrag die Bekämpfung von Desinformation direkt adressiert [hat]“. Diese Passage hatte unter dem Stichwort „Lügenverbot“ eine heftige gesellschaftliche Debatte ausgelöst. Durch Warnhinweise in Büchern werde „die kritische Auseinandersetzung mit Inhalten und die Fähigkeit zur Validierung von Informationen“ gefördert. Wenn Bibliothekare nicht untersuchen und festlegen dürften, was wahr und was falsch ist, dann sei „völlig unklar“, wie sie die Informationskompetenz fördern sollten.
Noch deutlich derber und politisch einseitiger fällt die Stellungnahme des BIB aus. Unter der Überschrift „Demokratie ist Haltung“, heißt es darin: „Die Begründungen des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichtes Münster vom 8. Juli 2025 sind ein Schlag ins Gesicht aller, die für Aufklärung und Medienkompetenz stehen; dem ‘Kulturkampf von rechts’ wird hier der Weg geebnet.“ Dass der Hinweis „umstritten“ vom Gericht als Grundrechtsverletzung gewertet wird, bezeichnet der BIB als „grotesk“, das Verbot dieses Hinweises als „absurd“ und „gefährlich“. Dann wird aus umstritten in der Stellungnahme unvermittelt eindeutig falsch. Der Verband poltert nämlich: „Wer Bibliotheken zwingt, eindeutige Fake News unkommentiert ins Regal zu stellen, fördert Desinformationsfreiheit.“
Demokratie wird zur Haltung, nicht zur Methode. Der Bibliothekar als Vormund, der Autor als Risiko. Es geht nicht mehr um das Wort, sondern um seine Verpackung. Etiketten, Warnungen, Faktenchecks: Der Leser wird zum Objekt eines Erziehungsprojekts. Was er lesen darf, soll nicht mehr er, sondern der Apparat bestimmen. Haering erkennt hierin einen Angriff auf das Prinzip der offenen Gesellschaft. Die Frage, ob ein Text lesenswert ist, wird nicht mehr im Leseprozess beantwortet, sondern vorgeordnet – von digitalen Markern, institutionellen Beipackzetteln und moralischen Prüfnummern. Das ist der Tod der Literatur als freiheitliches Experiment. Es ist die Geburt eines neuen Kulturregimes: etikettiert, überwacht, geleitet – im Namen der Aufklärung. Aber gegen ihren Geist. In Film und Fernsehen ist die Praxis bereits verbreitet.
Widerständig wäre ein anderes Verständnis: ein Denken in Offenheit, das den Einsatz technischer Hilfsmittel nicht verteufelt, sondern offenlegt – ohne moralischen Überbau. Ein kluger Nachsatz im Impressum genügte: „Der Autor hat zur Strukturierung und Redaktion dieses Textes Softwareunterstützung genutzt.“ Punkt. Keine Abzeichen, keine Konfessionen. Literatur als geistige Arbeit, nicht als Herkunftsnachweis. Der Vorschlag, Literatur künftig mit „Human-Written“- oder gar „richtigkeitsgeprüft“-Aufklebern zu versehen, führt in die Irre: juristisch fragwürdig, ethisch regressiv, kulturell infantil. Welcher Verlag publiziert freiwillig etwas, dessen er sich nicht sicher ist? Wer sich der Literatur verpflichtet weiß, sollte ihr mehr zutrauen – und ihren Lesern auch.
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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