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Hans Günter Holl: UNSER LEBEN IN UNSERER DEMOKRATIE

  • 5. Aug.
  • 4 Min. Lesezeit

„Das Leben lebt nicht!“

Ferdinand Kürnberger in Der Amerika-Müde (1855)

Motto für Theodor W. Adorno, Minima Moralia (1951)


Logisch betrachtet ist Ferdinand Kürnbergers Befund eine Banalität. Das Leben lebt so wenig, wie Feuer brennt. Nur Stoffliches kann leben oder brennen. Trotzdem versteht man, was er meinte: Ein Verb, das die Leere seines Nomens verrät. Der Satz steht in einem Gedicht über die zerstörte Illusion der Neuen Welt, die kulturgeschichtlich deprimierend wirkte und die gesamte Moderne als hohl offenbarte: „Das Altertum hat die Fülle des Lebens erschöpft, der Epigone ist das Nichts!“.

 

Das Trauma, aus dem diese nihilistische Bilanz hervorging, kam vom Entsetzen darüber, dass die vorerst letzte große Hoffnung auf schöpferische Vitalität zerstob, als sich hinter einer freiheitlichen Fassade nur „Geldgier, Betrug und Brutalität“ zeigten und darin auch schon diffus die weiteren Aussichten Europas ankündigten. Doch als Adorno das Verdikt Kürnbergers aufgriff, stand es in einem wahrhaft makabren Kontext.

 

Empirisch in die Leblosigkeit

 

Europa, die Wiege des Humanismus und der Aufklärung, war auf die Gegenspur geraten, hatte den Boden bereitet für den Zustand, den Günther Anders später „die Antiquiertheit des Menschen“ nennen sollte: Verneinung des Rechts, der Würde und sogar des Lebens selbst. Eine Figur wie Mr. Sammler (Saul Bellow: Mr. Sammlers Planet), auferstanden aus selbst geschaufeltem Massengrab, sah die Sache gleichsam von jenseits her. Ähnlich wie Adorno beklagte er nicht mehr die banalen Exzesse der Infamie, sondern die Langeweile des Immergleichen, oder aktueller „das abstrakte Einerlei der verwalteten Welt“. Institutionalisierte Leblosigkeit.



Brigid Marlin: The Rod
Brigid Marlin: The Rod

 

Allerdings darf man vermuten, dass die Destruktivität der industriellen Ära aus Wut über das Scheitern der „Aufklärung“ resultierte. Kants Appell zum Sapere aude war ephemer, rasch überholt durch die Verheißungen einer großspurigen Teleologie, für die eigens eine passende „Naturdialektik“ erfunden wurde. Doch die Natur ließ das unbeeindruckt, und die wahre Aufklärung, empirische Forschung mittels der mathematisch-experimentellen Methode, durchkreuzte immer wieder alle ehrgeizigen Pläne. Alfred North Whiteheads Staunen: „Der Himmel weiß, welcher scheinbare Unsinn uns morgen als Wahrheit bewiesen wird“, war für Herrscher und Funktionäre ein Albtraum, und sie wurden nicht müde, übergeordnete Ziele zu ersinnen. Dabei ließ sich das System Hegels, als pure Ideologie, für die perversesten Ismen einsetzen. Doch letzten Endes scheiterten sie alle an widerspenstigen Tatsachen, selbstverständlich ohne Lernerfolg. Eher im Gegenteil.

 

Sinnsuche macht erfinderisch

 

Denn zu allem Überfluss scheint zunehmend auch die empirische Forschung selbst vom Virus teleologischer Ideologie befallen zu sein. Ein Heisenberg zugeschriebenes Orakel – „Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft macht atheistisch, doch auf dem Grund des Bechers wartet Gott“ – wies die Richtung. Der Spruch sollte tröstlich klingen, könnte aber auf eine böse Überraschung hinauslaufen. Ähnlich verhält es sich mit dem Bestreben, der gesuchten „Weltformel“ durch das Akronym GUT eine moralische Pointe zu geben. Und seitdem die Suche mit KI vorangetrieben wird, hat sich die globale Zielsetzung gegenüber dem Kriterium empirischer Strenge und Redlichkeit verselbstständigt.

 

Wie Hegel in der Enzyklopädie eine eigene „Naturwissenschaft“ erfand, um die „Willkür“ experimenteller Forschungsmethoden zu überwinden, so arbeiten neuerdings nicht nur politische Parteien, sondern auch bekehrte Institute daran, wissenschaftliches Denken zu diskreditieren. Die „woke“ Revolution hat neue, empirisch unangreifbare Globalziele definiert, allen voran den Klimaschutz, aus denen mit existenzieller Notwendigkeit weit reichende Zwangsmaßnahmen folgen, um rasch sozialistische Organisationsstrukturen durchsetzen zu können. Wer das für eine Dystopie halte, habe den Ernst der Lage nicht erfasst – so Saul Bellow, der ahnte, dass eine neue Sicht auf 1984 anstand: „Orwell war ein Verräter (fink), ein elender Konterrevolutionär.“

 

Bellow war es auch, der später Kürnberger bestätigte, indem er lapidar resümierte, was genau so auch auf die EU zutrifft: „Die USA waren ein großer Betrieb. Sehr groß. Je mehr sie, desto weniger wir.“ Also suchte er Perspektiven, Auswege für ein erdrücktes Leben, und fand sie nur noch in so lebensfeindlichen Gegenden wie dem Mond oder dem Mars, die H. G. Wells als Sciencefiction-Utopien zum ersehnten Neuland gekürt hatte. Gewiss konnte man damit keine reale Zukunftshoffnung verbinden, sondern es ging allein um die literarische Gestaltung einer Utopie, der Idee des Offenen, die laut Hölderlin den Rechtgläubigen half, an Einer Stunde nicht zu zweifeln.

 

Ästhetisierung von Problemen ist Blendwerk

 

Doch das war lange her. Dank der Mechanisierung und des Verlusts ethischer Maßstäbe hatte sich bei Intellektuellen der echt surrealistische Gestus eingenistet, alles Mögliche – auch Grausames – zu ästhetisieren und auf diese Weise zumindest noch „interessant“ zu finden. Ob man Stahlgewitter, 9/11 oder ein Trump-Attentat goutiert: Das gemäß Kant „interesselose Wohlgefallen“ beweist jedes Mal fehlenden Respekt vor der Heiligkeit des menschlichen Lebens. Aus genau diesem Grund lehnte Bellow es auch kategorisch ab, die „Banalität des Bösen“ ernsthaft in Erwägung zu ziehen. (Banal, aber trotzdem böse wäre es zum Beispiel, aus Opportunismus ein Terrorregime als Staat anzuerkennen.)

 

Selbstverständlich läuft die Ästhetisierung gesellschaftlicher Konflikte auf ein „anything goes“ hinaus, und selbstverständlich beruht sie auf einer mangelnden Bereitschaft oder mangelnden Fähigkeit, den Rechtsstaat als Ausformung ethischer Ideale anzuerkennen. Davon zeugen, allerdings nur symptomatisch, die Aktionen des „Zentrums für Politische Schönheit“; und in geradezu idealtypischer Weise die pompöse Symbolik der EU, die mit rein ästhetischem Blendwerk davon ablenken soll, dass ihr Selbstzweck in wesentlichen Belangen auf der Entrechtung ihrer Bürger beruht.

 

In beiden Fällen gilt buchstäblich, wie wir „noch grade ertragen“, die Warnung Rilkes vor dem Schönen als „des Schrecklichen Anfang“, das wir indes nicht „bewundern“ können, weil es keineswegs „verschmäht uns zu zerstören“. Ein Rechtsstaat, wie wir ihn kannten, Europa, wie wir es kannten, existieren nicht mehr, und werden nicht wieder auferstehen. Eine neuerliche Reconquista kann es nicht geben, eher umgekehrt. Damit dürften auch die unvollendeten Bemühungen um eine Endlösung zum Abschluss kommen.


 

Über den Autor: Hans Günter Holl, geb. 1949, ehemals Übersetzer (Whitehead, Bateson), heute Essayist und Rechtsanwalt.


Beitragsbild von Brigid Marlin, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons


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