top of page

Lothar Fritze: DIE MORAL DER NATIONALSOZIALISTEN — ein unveröffentlichtes Gespräch

Aktualisiert: 10. Okt. 2022

"Niemals tut man so vollständig und so gut das Böse", war Blaise Pascal überzeugt, "als wenn man es mit gutem Gewissen tut." In seiner politikwissenschaftlichen Habilitationsschrift "Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus" (Köln/Weimar 1998) hatte Lothar Fritze die Mechanismen moralischer Selbstrechtfertigung von kommunistischen Tätern untersucht. Nunmehr nimmt Fritze in seiner kürzlich erschienenen Komplementär-Studie "Die Moral der Nationalsozialisten" den gleichen Tätertyp unter den Nationalsozialisten in den Blick. TUMULT dokumentiert ein bisher unveröffentlichtes Interview mit Professor Lothar Fritze, seit 1993 beschäftigt am Dresdner Hannah-Arendt-Institut.




*



1. Der Titel Ihres Buches lautet: "Die Moral der Nationalsozialisten". Sie fragen also nicht, ob sie eine Moral hatten, sondern setzen das voraus. Wieso?


Nun, ich setze das nicht einfach voraus, sondern prüfe, ob die Behauptung, sie hätten keine Moral gehabt, Sinn macht. Und sie macht keinen Sinn. Schließlich hatten Nationalsozialisten moralische Überzeugungen, und sie haben moralische Normen akzeptiert. Sie haben nicht daran gezweifelt, dass man anderen Menschen und sogar Tieren gegenüber moralische Pflichten haben kann. Sie waren also keineswegs der Meinung, dass alles erlaubt ist.


2. Der Begriff Moral ist ja durchweg positiv besetzt. Ist er nicht aber tatsächlich ein wertneutraler Begriff, der erst mit Inhalt gefüllt werden muss?


Ich möchte so sagen: Er ist ein sehr komplexer Begriff, weil er mit Inhalten bereits überreichlich gefüllt ist. Jeder hat bestimmte Vorstellungen, was mit "Moral" gemeint ist. Und tatsächlich hat auch jeder allgemein akzeptierte Vorstellungen davon, was es heißt, moralisch zu handeln. Wir alle sind überzeugt, dass es moralisch ist, einem in Not befindlichen Menschen zu helfen - zum Beispiel ein Kind zu retten, das zu ertrinken droht. Die Probleme beginnen, wenn man fragt, wem man eigentlich unter welchen Voraussetzungen mit welchem Aufwand oder persönlichem Risiko helfen soll. Aber die konkreten Anwendungsbedingungen moralischer Normen werfen nur eine Sorte der Fragen auf. Es gibt eine Reihe anderer Fragen. Hängt die moralische Qualität einer Handlung davon ab, dass sie aus den richtigen Motiven vollzogen wurde, oder davon, dass sie in der gegebenen Situationsart die moralisch gebotene war, oder davon, dass sie erwartungsgemäß die besten Folgen zeitigen wird? Haben wir nur Pflichten gegen andere oder auch gegen uns selbst? Usw. Wenn man nach einer Definition sucht, die keinen dieser und weiterer Aspekte von vornherein ausschließt, wird schnell klar, vor welcher Herausforderung man steht. Wichtig aber ist Folgendes: Wenn man jemandem zubilligt, eine Moral zu haben, sagt man noch lange nicht, er habe auch moralisch gehandelt.


3. Ihre Grundthese lautet: "Viele der nationalsozialistischen Verbrechen wären nicht begangen worden, wenn es auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung und Ideologie nicht möglich gewesen wäre, diese Handlungen zu rechtfertigen". Können Sie das erklären?


Abgesehen von sogenannten Überzeugungstätern, die wissen, dass sie unrechtmäßig handeln, es aber trotzdem tun, neigen wir alle dazu, unsere Handlungen vor uns selbst und anderen zu rechtfertigen. Die Nationalsozialisten bildeten diesbezüglich keine Ausnahme. Sie glaubten gerade nicht, Menschen beliebig verletzen oder töten zu dürfen. Rechtfertigungen werden notwendig, wenn man eine geltende Norm übertritt. Um eine Normenübertretung zu rechtfertigen, kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht. Die üblichste und uns allen bekannte ist die Anführung eines Rechtfertigungsgrundes. Der wohl bekannteste Rechtfertigungsgrund wiederum ist Notwehr. In einer Notwehrsituation ist es erlaubt, alle erforderlichen Mittel gegen den Angreifer einzusetzen, um die Verletzung eigener Rechtsgüter abzuwehren - und das heißt, es ist gerechtfertigt, geltende Normen, bis hin zum Tötungsverbot, zu übertreten.


4. Das heißt, man kann auch rechtmäßig töten?


Ja, das heißt es - und zwar im rechtlichen wie auch im moralischen Sinne. Zu fragen ist allerdings stets: Ist die vorgelegte Rechtfertigungsargumentation wirklich begründet? Und hier ist nun folgende Unterscheidung notwendig: Man muss zum einen fragen, ob der, um im Beispiel zu bleiben, jeweils angeführte Rechtfertigungsgrund Geltung beanspruchen darf. Im Falle der Notwehr handelt es sich um einen Rechtfertigungsgrund, den sowohl die Nationalsozialisten anerkannten als auch, so ist zu vermuten, sämtliche ihrer Kritiker anerkennen. Die Nationalsozialisten haben sich aber auch auf Rechtfertigungsgründe berufen, die von vielen nicht anerkannt werden – etwa dem der präventiven Notwehr. Zum anderen hat man zu fragen, ob die Voraussetzungen, damit man sich auf den betreffenden Rechtfertigungsgrund berufen kann, tatsächlich vorliegen. Befindet man sich wirklich in einer Notwehrsituation? Existiert tatsächlich die angenommene Bedrohung?


Derartige Fragen allerdings - und es ist wichtig, dass man sich dies klar macht - sind keine rein moralischen Fragen. In den Antworten auf diese Fragen vermischen sich normative und nicht-normative Elemente. Die Antwort auf die Frage, ob ein Angriff vorliegt, hängt auch davon ab, wie die gegebene Situation beschrieben wird. Die Antwort auf die Frage, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Angriff einer feindlichen Macht zu erwarten ist, hängt von theoretischen Annahmen über das generelle Verhalten von Staaten oder Völkern oder über die Natur des gegnerischen Gesellschaftssystems ab. In Rechtfertigungsargumentationen gehen also auch außermoralische (nicht-moralische) Annahmen und Überzeugungen ein. Und meine These ist, dass der Unterschied zwischen uns und den Nationalsozialisten nur zum Teil auf unterschiedliche moralische, zum anderen Teil aber auf unterschiedliche außermoralische Überzeugungen zurückzuführen ist. Nationalsozialisten haben nicht nur, um wiederum bei diesem Beispiel zu bleiben, andere Rechtfertigungsgründe akzeptiert und andere, von uns für verbrecherisch gehaltene, Ziele verfolgt; sie sind vor allem auch von anderen Gefahren ausgegangen und haben andere Gefahrenabschätzungen vorgenommen; sie haben sich zum Teil auf andere weltanschauliche Annahmen berufen.


5. Sahen die Nazis also zugespitzt gewissermaßen eine moralische Verpflichtung für die Ermordung von sechs Millionen Juden? Oder dafür, sich "Lebensraum im Osten" zu verschaffen?


Im Buch geht es ausschließlich um Nationalsozialisten einer bestimmten Art, nämlich um "Täter mit gutem Gewissen" und nicht um "die Nazis", wobei ich annehme, dass es unter den führenden Nationalsozialisten viele Täter mit gutem Gewissen gab. Täter mit gutem Gewissen sind Täter, die zum Zeitpunkt der Tat oder auch danach glaubten, sich moralisch korrekt zu verhalten oder verhalten zu haben. Täter mit gutem Gewissen halten ihr Tun - und zwar per definitionem - für erlaubt. Nicht zu jeder erlaubten Handlung ist man allerdings verpflichtet. Sie dürfen, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, Notwehr üben, sind aber nicht verpflichtet, sich zu verteidigen. Schwieriger wird es, wenn eine Regierung glaubt, dass ihr Land oder ihr Volk angegriffen wird oder anderweitig bedroht ist. Dies war die Überzeugung der führenden Nationalsozialisten. Sie glaubten in der Tat, verpflichtet zu sein, Gefahren, die dem deutschen Volk (vermeintlich) drohten, mit allen erforderlichen Mitteln abzuwehren und seine Existenz zu sichern. Wenn es dazu notwendig ist, Kriege zu führen oder Juden, Kommunisten und Behinderte umzubringen, dann hielten sie dies für erlaubt und waren dazu bereit.


6. Hatte das Leiden der Juden und anderer Opfer für die Nationalsozialisten irgendeine Bedeutung?


Es ging den führenden Nationalsozialisten, sofern sie Täter mit gutem Gewissen waren, nicht darum, Leiden zu erzeugen. Man kommt bei der Erklärung ihres Handelns durchweg ohne die Annahme aus, sie seien Psychopathen gewesen oder hätten aus Boshaftigkeit gehandelt, also Böses getan, um des Bösen willen.


7. War Hitler die Quelle der NS-Moral?


In welchem Sinne man von einer spezifischen NS-Moral sprechen kann, ist eine Frage, die in meinem Buch näher beantwortet wird. Hitler war nicht die Quelle der Maßstäbe des Guten und Richtigen, wohl aber kommen diese Maßstäbe dank seiner vermeintlich überlegenen Einsicht in seinem Willen zum Ausdruck. Nach nationalsozialistischem Selbstverständnis ist daher der Wille "des Führers" zugleich Gesetz.


8. Was passierte, wenn jemand die Moral, wie sie die Nationalsozialisten definierten, verletzte? Lag beispielsweise eine solche Verletzung darin, wenn ein "arischer" Deutscher "Rassenschande" mit einer Jüdin betrieb?


"Rassenschande" galt als eine Art Zersetzung der Gemeinschaft, damit als unmoralisch und stand dementsprechend unter Strafandrohung. Hintergrund war unter anderem die (außermoralische) Annahme, dass "Blutsvermischung" zur Senkung des Rassenniveaus führe. Eine Senkung des Rassenniveaus, so war man überzeugt, hat unerwünschte Konsequenzen (sinkende Widerstandskraft und Durchsetzungsfähigkeit im Völkerkampf, Dekadenzerscheinungen etc.). Der Versuch oder die Bereitschaft von Juden, sich mit Deutschen zu vermischen, wurde demzufolge als ein Angriff auf das Erbgut des deutschen Volkes betrachtet, der dieses in eine Notwehrsituation versetzt. Maßnahmen gegen solche Angriffe zu ergreifen war aus nationalsozialistischer Sicht legitim.


9. Wenn man den Nationalsozialisten jede Moral - auch eine sehr spezifisch eigene - abspricht, muss man sich eigentlich mit ihnen inhaltlich gar nicht mehr auseinandersetzen, weil sie per se das Böse darstellen. Macht man es sich damit zu leicht?


Ja, das denke ich. Man kann Böses bewirken, ohne boshaft zu sein, man kann moralisch versagen, ohne "gewissenlos" zu sein. Man kann glauben, das moralisch Gebotene zu tun, und doch dabei unvorstellbare Verbrechen begehen. Das gute Gewissen allein schützt also nicht davor, unrechtmäßig zu handeln. Auf unser Handeln hat nicht nur unsere Moral Einfluss. Von großer Bedeutung sind unsere nicht-moralischen Überzeugungen. Auch die Nationalsozialisten litten, wie alle totalitären Groß-Täter, unter einem selbstverschuldeten Mangel an Skepsis ihrer eigenen Ideologie gegenüber. Skepsis aber kann unsere Bereitschaft drosseln, opferträchtig zu handeln. Die Selbstgewissheit, moralisch richtig zu handeln, ist ein entscheidender Faktor, der immer wieder Täter mit gutem Gewissen hervorbringt. Deshalb ist es wichtig, Rechtfertigungen als ungültig zu erkennen. Nationalsozialisten sind in ihrem Handeln von zum Teil hochgradig abwegigen (außermoralischen) Annahmen ausgegangen. Ihr moralisches Versagen besteht vor allem darin, erstens, sich über die auch für sie erkennbare Fragwürdigkeit dieser Annahmen keine Klarheit verschafft, und, zweitens, ihr Normen verletzendes Handeln auf solch fragwürdige Annahmen gestützt zu haben.


10. Sie argumentieren als Wissenschaftler. Können Sie nachvollziehen, wenn nicht in wissenschaftlichen Kategorien denkende Menschen sich alleine durch die Frage nach einer nationalsozialistischen Moral vor den Kopf gestoßen fühlen?


Das kann ich durchaus nachvollziehen. Man sagt ja über einen Menschen etwas Positives aus, wenn man ihm zubilligt, unter moralischen Gesichtspunkten zu handeln. Aber ich glaube eben auch, dass jeder die vorgeschlagene Unterscheidung zwischen "eine Moral haben" und "moralisch handeln" nachvollziehen kann. Ohne diese Unterscheidung endet das Nachdenken über die Gründe des moralischen Versagens der Nationalsozialisten mit der Feststellung, dass sie böse oder krank oder unzurechnungsfähig waren. Damit aber stieße man nicht zu der Erkenntnis vor, dass sie zum Teil andere moralische und zum Teil andere außermoralische Überzeugungen hatten. Und damit wiederum, bliebe ein wesentlicher Aspekt ihres moralischen Versagens verborgen: Nationalsozialisten haben (sofern sie Täter mit gutem Gewissen waren) bei der Bildung ihrer außermoralischen Überzeugungen kognitive Pflichten verletzt.




*



Über den Autor:


LOTHAR FRITZE, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, lehrt als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Neuere Buchveröffentlichungen: "Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich", München: Olzog, 2012; "Der böse gute Wille. Weltrettung und Selbstaufgabe in der Migrationskrise", Waltrop und Leipzig: Manuscriptum, 2016; "Kritik des moralischen Universalismus. Über das Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise", Paderborn: Schöningh, 2017.



 

Hier können Sie TUMULT abonnieren.

Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.


bottom of page