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Rudolf Brandner: DER TEUFEL UND DER LIEBE GOTT (5) - Die geschichtsmetaphysische Illusion

Weil die Wirklichkeit der Moderne dem metaphysischen Freiheitsverlangen des Menschen kaum Genüge tun könne, so schreibt der auch in unserer aktuellen Druckausgabe vertretene Philosoph Rudolf Brandner im fünften Teil seiner Essay-Serie, suche das Individuum seine Erfüllung nach wie vor in den kulturgeschichtlichen Überlieferungen von Kunst, Religion und Philosophie. Nur im Bewusstsein dieses immateriellen Erbes sei demnach ein genuin eigener Standpunkt auffind- und besetzbar, der schließlich die weltoffene Anverwandlung fremder Überlieferungen erst ermögliche.



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Die Neuzeit beginnt mit der Auflösung der christlichen Heilsgemeinschaft im Zeichen selbstbewußter Subjektivität, die ihre Selbstgewißheit nun mit aller Macht auf die geschichtlich immanente Befreiung von allem Übel wirft und sich darin zur wissenschaftlich-technolo­gi­schen Rationalität der Moderne entfaltet. An die Stelle der religiösen Gemeinschaft tritt die Gattung «Mensch», die als Subjekt wie Objekt der Geschichte ihre fortschrittsgeschichtliche Selbstproduktion mit dem Endziel: das Glück aller - zu leisten habe. Die religiöse Heilserwartung wird zur Sache politischer Ideologisierung, die das vereinzelte Subjekt durch kollektive Zielsetzung in eine neue Gemeinschaftsbildung einzubinden sucht (Sozialismus, Faschismus). Am Ende bleibt das Entsetzen und die Ratlosigkeit moderner Gesellschaften, jenseits pluralistischer Vereinzelungen noch einen Grund gemeinschaftlichen Daseins auszumachen.


Aber die Grundorientierung bleibt die Flucht in den obersten Allge­meinbegriff: die Gattung «Mensch», die Menschheit überhaupt. Ihr realgeschichtliches Substrat wird zum gleichgeschalteten Objekt globaler Technologisierung und erhält an supranationalen Institutionen eine transzendente Ersatzgemeinschaft, deren ganzer Inhalt «universelle Menschenrechte» sind: Der Menschenrechtsdiskurs wird als «Kosmopolitismus» zur politischen Ideologie der neoliberalen Globalisierung, die auf die universelle Rechtgleichheit aller Menschen in allen Rechtsgemeinschaften (Staaten) zielt, damit aber auf ihre Auflösung zu einem «Welteinheitsstaat», darin alle Menschen gleiche Bürger einer einzigen Rechtsordnung wären. In der realgeschichtlichen Dynamik globaler Technologisierung steht der Menschenrechtsdiskurs für die mentale Homogenisierung geschichtlicher Kulturen unter europäischer Führung: Was zuerst als Postulat demokratischer Rechtsstaatlichkeit gegen die Gewalt politischer Diktaturen gemeint war, entwickelt sich zum geschichtlichen Projekt der Überwindung kultureller Identitäten, die damit als Legitimationsgrund demokratischer Selbstbestimmung ausfallen.


Der Widerstand der außereuropäischen Welt konnte nicht ausbleiben und hat sich auch innereuropäisch schon längst zu dem politischen Gegensatz von «Kosmopoliten» und «Kommunitaristen», internationalen «Globalisten» und nationalen «Souveränisten» («Nationalisten») entwickelt. Mit dem Brexit, der Wahl Donald Trumps, den Visigrad-Staaten sowie den pauschal als «rechts» und «populistisch» etikettierten Parteien hat sich eine politische Gegenbewegung auch als Machtfaktor etabliert, der das kulturelle Selbstbestimmungsrecht des Nationalstaates gegen seine universalistische Auflösung wieder in den Vordergrund politischen Handelns stellt.



1. Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht


Aber der Gegensatz von menschenrechtlichem Universalismus und kulturellem Partikularismus ist ursprünglich schon in den supranationalen Erklärungen selbst enthalten: Von Anfang an steht die universell intendierte «Menschenrechtserklärung» in Konflikt mit dem von der UN-Charta zugleich verkündeten Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die ethische Grundlage kultureller Gemeinschaften ausdrücklich als politisches Legitimationsprinzip anerkennt. Dazu gehört unter anderem das Notwehrrecht - «das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung» sowie das Kollektivrecht der Gemeinschaft, die Menschenrechte zum Schutz der 1. nationalen Sicherheit 2. öffentlichen Ordnung 3. Volksgesundheit 4. öffentlichen Sittlichkeit einzuschränken[1]. Das geschichtlich ausgebildete Ethos menschlicher Gemeinschaften bleibt damit die maßgebliche Legitimationsbasis politischen Handelns und mag deshalb auch zu seinem eigenen Schutz die praktische Geltung der Menschenrechte begrenzen. Damit bestätigt sich das Macht­prinzip des Politischen: der rechtlichen Selbstorganisation kultureller Gemeinschaften - gegen jeden supranationalen Universalismus.


Die westlich inspirierten Menschenrechte stoßen deshalb unvermeidlich auf den politischen Widerstand anderer Kulturen, die ihre eigenen «Menschenrechts­erklärungen» abgeben - wie die muslimische Welt in der von Kairo oder die afrikanische von Banyul. Lediglich die westliche Vorherrschaft in den supranationalen Institutionen kann darüber hinwegtäuschen, daß sie sich mit dem gleichen Recht aus dem geschichtlichen Ethos ihrer Gemeinschaften begründen. Die Prätention des Universellen zerfällt in kulturelle Partikularitäten und ist selbst eine durch das geschichtliche Ethos begrenzte. Denn da sich inhaltliche Rechte aus dem formalen Allgemeinbegriff «Mensch überhaupt» nicht begründen lassen, muß der Inhalt der «Menschenrechte» von wo­­andersher geholt werden – dem geschichtlichen Bildungsgrund ethi­­scher Realsubjekte. Ihnen aber ist das Verständnis des Mensch­seins und seiner zu verwirklichenden Wahrheit ein je anderes; und allein das Machtprinzip entscheidet, welches sich als «universelles» lautstark verkünden darf.


Aber auch den westlichen Menschenrechten liegt der Teufel im Detail, handelt es sich doch um ganz allgemeine Bestimmungen, die spezifiziert und begrenzt werden müssen: Die Meinungsfreiheit muß gegen Verfassungsfeindschaft, Volksverhetzung, Beleidigung, Ver­leum­dung, falschen Tatsachenbehauptungen (fake news) usf. abgegrenzt werden - und mag dann vielleicht gerade das kassieren, was als Frei­heit, gesellschaftliche Gegensätze auch offen auszutragen, inten­diert war. Was Sache des Meinens und was Sache des Erkennens ist, bleibt ebenso unbestimmt wie das Verständnis von «Religionsfreiheit», die ja keine Narrenfreiheit von Beliebigkeiten meint, sondern eine durch den geschichtlichen Aufklärungsprozess der Neuzeit definierte «Freiheit». Sie bezieht sich allein auf das innere Bewußtsein des Sakralen und sein öffentliches Bekenntnis, während alles äußere, rituelle und kultische Verhalten dem kulturgeschichtlich ausgebildeten Ethos unterworfen ist, das in der allge­meinen Gesetzgebung seinen Ausdruck findet. Zahlreiche menschheitsgeschichtlich über­lieferte Religionen und ihre Praktiken sind damit aber inkompatibel. Ob Kopftuch und Vollverschlei­erung, Zwangsverheiratung und Geschlechtsverstümmelung «religiöse» Praktiken sind? Und wie steht es mit dem Diskrimi­nie­rungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung? Gehören dazu auch Pädophilie, Inzest und Unzucht mit Tieren? Wo ist die Grenze und wer setzt sie?


So ließe sich unendlich weiterfragen. Der subjektive Freiheitsbegriff physischer Unmittelbarkeit kol­lidiert immer mit den konkreten ethischen Begriffen eines geschichtlich ausgebildeten Freiheitsbewußtseins und seinen sittlich-rechtlichen Bestimmungen, deren praktische Geltung auf der Grundlage gegenseitiger Achtungsverhältnisse beruht. Dies aber setzt eine bildungsgeschichtliche Gemeinschaft als ethisches Subjekt voraus. «Menschheit» ist gerade kein solches ethisches Subjekt, sondern im Gegenteil, die Abstraktion von all dem, was ein solches ausmacht. So kann keine mensch­liche Gemeinschaft «Werte» teilen, die nicht aus der geschichtlichen Negativität ihrer Welterfahrung hervorgingen; in ihr aber gründet die geschichtliche Pluralität menschlicher Gemeinschaften, die sich im Ethos ihres Weltverhaltens darstellt und ihre explizite Artikulationsebene in Kunst, Religion und Philosophie findet. Der universale Menschenrechtsdiskurs bleibt eine labile Konstruktion ohne tiefergehende Fundierung in den geschicht­lich ausgebildeten Lebensverhältnissen und dem Machtprinzip ihrer lebendigen Selbstbejahung. Ihm aber sind die Kulturgemeinschaf­ten tiefer verpflichtet als einer abstrakten Universalmoral, die als fremde Übermächtigung suprana­tionaler Institutionen erfahren wird. Daher der realgeschichtliche Vorrang des kollektiven Selbstbestim­mungs­rechts vor der Idealität allgemeiner Menschenrechte – auch dem der «individuellen Selbstbestimmung», die immer am geschichtlichen Kul­tur­grund der Gemeinschaft die Bedingung ihrer Möglichkeit hat.



2. Kosmopolitismus und Souveränismus


Wie steht es dann mit dem politischen Gegensatz von menschenrechtlichem Universalismus und kulturgeschichtlichem Souveränismus – von «Kosmopoliten» und «Kommunitaristen», internationalen «Globalisten» und nationalen «Souveränisten» («Nationalisten»)? -

Zumindest im migrationspolitischen Diskurs scheint sich der menschenrechtliche Universalismus gegen das kulturelle Selbstbestimmungsrecht und seine Not- und Abwehrrechte durchgesetzt zu haben; mit dem paradoxen Resultat, den «Kosmopolitismus» in einen moralischen «Provinzialismus» zu verkehren: Denn es ist nun die menschenrechtliche Provinz demokratischer Regionen, die an die Stelle universell geltender menschenrechtlicher Verhältnisse rückt und im nationalstaatlichen Kleinformat leisten soll, was der große Rest der Welt offensichtlich nicht zu leisten gewillt ist. Das Scheitern der kosmopolitischen Intention an den realgeschichtlichen Verhältnissen kehrt sich um in das Ressentiment gegen jene sozio-ökonomisch privilegierten Rechtsstaaten (des «alten weißen Mannes»), die sich ihren Vorteil nur durch Raub und Ausbeutung verschafft hätten und deshalb ihre tiefe moralische Schuld nur durch Universalisierung ihrer Provinzen kompensieren könnten. Die geschichtliche Welt der Menschenrechte ist die weltgeschichtliche Provinz der Schuld, die sich nur durch kosmopolitische Entprovinzialisierung von sich selbst erlösen kann, und sei es auch, daß sie dabei selbst untergeht. Gegen die Unbedingtheit des menschenrechtlichen Universalismus ist kein Kraut kultureller Selbstbestimmungsrechte gewachsen.


Aber der Gegensatz verlangt eine tiefere geschichtliche Besinnung. Schon in den neunziger Jahren, in seinem grundlegenden Werk «Epochenwechsel», hat Rolf Peter Sieferle den Gegensatz zum Leitmotiv seiner umfassenden, mehr soziologisch und lebensweltlich ausgerichteten Analyse der geschichtlichen Situation der Gegenwart erhoben; es ist der rote Faden, der das ganze Werk von Anfang bis Ende durchzieht[2]. Etwa zur selben Zeit hatte ich aus der ganz anderen philosophischen Perspektive die neuzeitliche Vergeschichtlichung des Denkens untersucht, die angesichts der globalen Technologisierung mensch­lichen Weltverhältnisses zur Grundlagenbesinnung der Philosophie, zuletzt bei Heidegger, geworden war[3]. Im Blick auf die globale Herrschaft wissenschaftlich-technologischer Rationalität stellte sich die Frage nach der Auflösung kultureller Differenzen durch die Homogenisierung der Weltgeschichte im einheitlichen Verständnisparadigma wissenschaftlich-technologischer Rationalität[4]. Ähnlich wie Sieferle, wenn auch mit entscheidenden Vorbehalten, sah auch ich damals «einen zwingenden Zusammenhang zwischen technischer Modernisierung und kultureller Universalisierung»[5].


Die unausweichliche Konsequenz der geschichtlichen Dynamik wäre dann ganz im Sinne des menschenrechtlichen Universalismus das kosmopolitische Bürgertum eines Welteinheitsstaates, der seine kulturellen Provinzen nur noch als folkloristische Momente eines Überlebten an sich hat und als touristische Erlebniswerte feilbietet. Aber an diesem Punkt scheint sich der rote Faden von Sieferle mehrfach zu verknoten, indem er 1. die Besinnungsebene wechselt und von der Diagnostik der realgeschichtlichen Dynamik (Faktizität) übergeht zur argumentationslogischen Begründung einer politischen Einstellung (Normativität), die 2. dem menschenrechtlichen Universalismus einen Wahrheitsvorrang gegenüber dem kulturellen Partikularismus zubilligt. Denn er argumentiere in universalistischen Kategorien, wogegen kulturelle Partikularismen nicht verallgemeinerungsfähig seien[6].


So sei der Universalismus aus logischen Gründen zwingend für ein mit rationalen Argumenten begründetes Handeln; dem Partikularismus dagegen fehle es an einer gleichrangigen (isomorphen) rationalen Begründung, die gegen den Universalismus bestehen könnte. So bleibe nur der Kulturrelativismus als Verzicht auf den Anspruch transkultureller Geltung[7].

Hier wird gewissermaßen alles verworren und falsch. Denn einerseits kümmert sich die realgeschichtliche Dynamik selbst wenig um intellektuelle Begründungen; ihr Machtprinzip untersteht ganz anderen Trieb­kräften als dem Prinzip rationaler Argumentation und ist kein «Wunschkonzert» von Politikern oder Intellektuellen. Andererseits ist diese auch nicht an universalistische Kategorien gebunden; sie sind gerade im ethischen Bereich immer geschichtlich partikulären, kulturspezfischen Ursprungs und werden erst durch «Verallgemeinerung» zu «Universalien» aufgeladen. Ihre Geltung ist eine rein ideelle im vermeinenden Bewußtsein - und keineswegs eine praktische im allgemeinen Verhalten. Gerade der geschichtlichen und politischen «Argu­mentation» geht es immer um inhaltliche Begründungen aus empirisch spezifischen Sachverhalten - und nicht um bloße Allgemeinbegriffe. Zu unterscheiden ist auch die objektive Allgemeinheit des Begriffs, der für alle unter ihn subsumierten Einzelfälle gilt, mit der intersubjektiven Allgemeinheit, die seine Wahrheitsgeltung für eine bestimmte Anzahl von Menschen meint: Sie umfaßt die Gemeinschaft der Menschen, denen «allen» ein bestimmtes Sachverständnis «gemein» ist. Daß andere anders meinen, tangiert nicht ihr Wahrheitsbewußtsein, kann es also auch nicht «relativieren», sondern wird als unumgänglicher Verblendungsfaktor menschlichen Denkens verbucht.


So verwirren sich in der politischen Auseinandersetzung um den Gegensatz von Universalismus und Partikularismus immer wieder die zwei Seiten: die Diagnostik der geschichtlichen Faktizität der Moderne und die ideologische (normative) Bewertung ihrer Tendenzen: ob nun die supranationale Globalisierung oder die kulturgeschichtliche Souveränität zu fördern und der Gegensatz zu bekämpfen, also das eine «gut», das andere «schlecht» sei. Eine nicht geringe Rolle spielt dabei der Opportunismus, der gerne auf der Seite stehen möchte, die er für die geschichtsmächtige wähnt, um sich fortschrittsideologisch zu inszenieren, seine Zukunft abzusichern oder auch nur mit dem Faktischen, das man nicht ändern kann, zu arrangieren.


Entscheidend ist aber zuletzt die Frage, ob und inwieweit die weltweite Technologisierung menschlicher Lebensbedingungen in den Kulturgrund menschlicher Ge­meinschaften eingreift und ihre geschichtliche Vielfalt zu einer Ein­heitszivilisation aufzuheben vermag. Grundlegende Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse hat es seit Jahrtausenden in mehr oder minder globaler Verbreitung gegeben, von der neolithischen Revolution über die Bronze- und Eisenzeit bis heute - ohne kulturelle Homogenisierung in den Grundlagen menschlichen Weltverhältnisses. Warum sollte dies heute anders sein?- Weil die wissenschaft­lich-technologische Rationalität selbst ein ganz andersartiges Pa­radig­ma menschlichen Selbst- und Weltverständnisses initiiert und die Neuzeit als revolutionärer Bruch mit der Menschheitsgeschichte im ganzen eine völlig neue Dimension des Seins aufreißt (Heidegger)? Aber was ist daran gut oder schlecht – und sind das überhaupt angesichts des geschichtlichen Überwältigungsgeschehens Fragen, die der subjektiven Intention Einzelner überantwortet sind?


Die Besinnung ist gut beraten, sich an der geschichtlichen Wirklichkeit der Moderne noch einmal klar zu machen, wie wenig sich diese selbst als suffizientes «Heilsgeschehen» erfährt: nicht primär wegen der technologischen Verwüstung des Planeten und seinen sozio-ökonomischen Verwerfungen, sondern all dem zuvor, weil die wissenschaftlich-technologische Rationalität selbst dem metaphysischen Frei­heits­verlangen des Menschen kein Genüge bieten kann. Seine Erfüllung sucht er deshalb nach wie vor in den kulturgeschichtlichen Überlieferungen von Kunst, Religion und Philosophie; und wie in den vergangenen Jahrtausenden auch, mag er sich auf der Grundlage seiner kulturgeschichtlichen Identität andere geistige Welten anverwandeln, also ebensosehr kosmopolitisch «weltoffen» wie kommunitaristisch «geerdet» sein[8].


Ein Widerspruch ist dies nicht. Der komplementäre Gegensatz geht erst dort in den Widerspruch einander Ausschließender über, wo er zur Sache der politischen Ideologie wird: Er spielt sich allein auf der Ebene politischer Übermächtigungsstrategien ab, durch mentale Kolonisierung des Globus eine Systemgleichheit zu erzwingen, die durch wissenschaftlich-technologische Überlegenheit zum eigenen Vorteil ausschlagen soll. Aber dem Rückschlag inkonformer Staaten, seien es nun Autokratien oder anarchische Korruptionsgesellschaften, die einen sozio-ökonomischen und migratorischen Druck erzeugen, steht die politische Menschenrechtswelt dann ganz hilflos gegenüber. Und greift zur Notwehr zurück auf ihr natio­nales Selbstbestimmungsrecht: Der «Kosmopolit» mutiert zum «Souveränisten».


Das Vertrauen in den Kosmopolitismus universeller Menschenrechte krankt schon daran, daß er die Sache einer in ihren Grundlagen verunsicherten und orientierungslosen, darum labilen europäischen Mensch­heit bleibt, die mit sich selbst nur noch therapeutisch zurechtkommt. Und ist der Menschenrechtsdiskurs nicht selbst schon der Versuch einer Selbsttherapie, um sich von den eigenen geschichtlichen Traumati­sierungen zu erlösen?


Es bleibt eine geschichtsmetaphysische Illusion, eine teleologische Konvergenz der Jahrtausende alten Bildungsgeschichten menschlicher Kulturgemeinschaften auf ein gemeinsames europäisches Bewußtseinsparadigma zu erwarten, das seinem eigenen Bekenntnis nach ein schon weitgehend in sich zerrüttetes Produkt der nihilistischen «Entwer­tung aller Werte» auf dem Wege seiner Neuverortung ist: einer Neuverortung, die sich im Rückgang in den Grund des Menschseins gerade vom Oberflächengeschehen der globalen Technologisierung abkehrt, um es von Grund auf zu überdenken. Damit aber werden gerade jene geistigen Ressourcen aktiviert, die aus der kulturellen Eigenheit geschichtlicher Welterfahrungen hervorgingen und ihre Überzeugungskraft nur aus der ethischen Selbstbildung geschichtlicher Realsubjekte entfalten können. Und wie der Einzelne ein «lebendiger Spiegel des ganzen Universums von einem bestimmten Blickpunkt aus ist» (Leibniz), so ist auch seine «Universalität» immer eine im Eigen­tümlichen seiner geschichtlichen Existenz geerdete, aus der allein sie sich zur lebendigen Wirklichkeit entfalten mag[9].


Was sich menschheitsgeschichtlich daraus ergibt, ist unabsehbar; was der Einzelne daraus macht, Sache der selbsteigenen Kraft seines Freiheitsverlangens, das technologische Heilsversprechen auf ein geistiges Weltverhält­nis hin zu transzendieren. Es sind diese Einzelnen, die geschichtlich entscheidend werden.


[1]Vgl. UN Charta, Kp. VII, Art. 51, AEMR Art. 29, Pakt über bürgerliche und politische Rechte Art. 18, 3 (Quelle: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Einführung von Eibe Riedel. Dritte, erw. Auflage Bonn 1999).


[2]Rolf Peter Sieferle, Epochenwechsel (Berlin 2017), Ersterscheinung 1994.


[3]Rudolf Brandner, Heideggers Begriff der Geschichte und das neuzeitliche Geschichtsdenken. Wien 1994.


[4]Rudolf Brandner, The Situation of Philosophy today and the Question of Interculturality. In: a) Journal of the Indian Council of Philosophical Research (JICPR), XIII, N° 1 (Sept. - Dez. 1995), Delhi, pg. 1 - 28 b) Mesotes. Wien, 1/1995, pg. 491 - 513. PDF zum Runterladen auf meiner Webseite (http://www.rudolf-brandner.de/).


[5]Sieferle, a.a.O. 51.


[6]a.a.O. 376 ff.


[7]a.a.O. 465 ff.


[8]Zu erinnern ist, das der ursprüngliche Ausdruck «polites tou kosmou» (Dionysos von Sinope, 5. Jahrh. v.) gerade «apolitisch» die radikale philosophische Abkehr von allem politischen Kollektivheil bezeichnet.


[9]Vgl. meine diesbezügliche Intervention auf dem UNESCO-Kolloquium: «Towards a constructive Pluralisms» (Paris 1999): «Interculturality: a philosophical approach» (https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000114621_fre).




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Über den Autor:

RUDOLF BRANDNER, geb. 1955, Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris (Sorbonne) und Heidelberg, 1988 Promotion über Aristoteles, 1993 Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit. 1985 – 1999 neben Lehr- und Vortragstätigkeit im deutschsprachigen Raum zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien. 2000 – 2005 Rückzug in die philosophische Grundlagenforschung. Brandner lebt als freier Philosoph in Freiburg i. Br. und Berlin. Hier geht es zur Internetseite von Rudolf Brandner.



 

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