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Alexander Michailowski: KOMMENTAR ZUR MILITÄROPERATION RUSSLANDS IN DER UKRAINE

Der russische Philosoph und Übersetzer Alexander Michailowski lehrt an der National Research University Higher School of Economics in Moskau und ist der Russland-Korrespondent von TUMULT. Wir haben ihn um einen Kommentar zur Intervention russischer Streitkräfte in der Ukraine gebeten und dokumentieren hier seine am 25. Februar 2022 in deutscher Sprache eingetroffene Stellungnahme. Seiner Erklärung beigefügt hat Michailowski ein Foto des paramilitärischen ukrainischen Freiwilligenbataillons »Asow«, das – wie andere Bataillone – dem Innenministerium unterstellt ist und gegen die Separatisten im Osten der Ukraine kämpft. Seine Truppenstärke wird auf 2.500 Söldner geschätzt.


Andere Stellungnahmen von TUMULT-Autoren zur Lage werden folgen.




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Was in der Ukraine geschieht, wird jetzt unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten bewertet:


1. Kriegsverurteilung und nationalpolitisches Cringe: »Das werden wir uns nie verzeihen, niemals.« – »Horror, Bomben fliegen auf euch …« – »Wir werden uns von dieser Schande nicht erholen …« usw. Hier gibt es nichts zu kommentieren, denn dies ist die gleiche soziale Gruppe wie Nawalnys Anhänger. Die Opposition denkt und schreibt in denselben Kategorien wie die liberalen westlichen Medien.


2. Die zweite Position ist viel komplexer.

Der ukrainische Staat, wie er nach 1991 aufgebaut wurde (»Ukraine is not Russia«), ist der Schrecken der Welt, die Schande der Natur und eine Schmach für Gott. Er ist die Daseinsgestalt eines Nicht-Staates. Russland hätte nach dem 2. Mai 2014, als Zivilisten in Odessa verbrannt wurden, eine Militäroperation gegen die damalige ukrainische Regierung durchführen sollen. Allerdings – besser spät als nie. Die Ukraine ist Russland, daher kann der Krieg um Kiew nicht als Angriffskrieg bezeichnet werden. Die Ukraine muss mit Russland wiedervereinigt werden. Dies ist eine Wiedergutmachung für die Fehler und den Verrat jener Politiker der ehemaligen UdSSR-Republiken (hauptsächlich Jelzin und Kutschma), die in den 1990er Jahren regierten. Sie verfolgten eine nationalistische Politik in der Ukraine, schufen Bedingungen für die Unterdrückung des russischen Volkes und die Diskriminierung der russischen Sprache. Ich glaube allerdings, dass nicht alles Mögliche für eine kriegsvermeidende Annexion der Ukraine getan wurde. Wenn unsere Diplomatie nur zu 25 Prozent so aktiv gewesen wäre wie unsere Armee, wäre die Intervention der letzteren vielleicht nicht erforderlich gewesen. Stattdessen erlebten wir eine ständige Gas-Erpressung. Es gab keine Kulturpolitik, es gab keine Soft Power. Der Ukraine wurde kein faires Angebot gemacht, Russland beizutreten, das Gegenstand ernsthafter Diskussionen hätte sein können. Selbst jetzt, da Blut vergossen wird, sind die Ziele des Krieges verworren und unklar.



Meine Einschätzung der Lage:


Das ist der Ernstfall, um es mit Сarl Schmitt zu sagen.

Erstens: Ein Staat wie die Ukraine hätte seine eigene unabhängige Politik verfolgen sollen, anstatt sich den USA und Europa zu unterwerfen.

Nachdem Selenskyj auf Washington und Brüssel gesetzt hatte, missachtete er die Interessen seiner Bürger.


Anstatt das Land blockfrei und neutral zu machen (wie Österreich, die Schweiz und Finnland), zog er es tatsächlich in Richtung NATO. Das Bündnis begann, Waffen in großen Mengen zu liefern, und wies der Ukraine die wenig beneidenswerte Rolle eines Territoriums zu, auf dem das Feuer des Krieges aufflammen und es dann in Asche verwandeln.


Zweitens: Nachdem der ukrainische Präsident das Donbass-Problem geerbt hatte, konnte er nicht über sich hinauswachsen und sich mit den Spitzen der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik an den Verhandlungstisch setzen. Was ist das? Stolz, mangelnde politische Erfahrung, Verantwortungslosigkeit? Selenskyj Pflicht wäre es gewesen, einen Dialog zu führen. Er war es, der die Vereinbarungen von Minsk begraben hat.


Drittens: Selenskyjs Drohungen, den Atomverzicht der Ukraine zu überdenken, sind zu einem echten globalen Sicherheitsproblem für die ganze Welt geworden. Mit solchen Äußerungen erweist er sich als unverantwortliches Staatsoberhaupt.


Wenn man von offensichtlichen geopolitischen Argumenten für die Militäroperation absieht, so erwarte ich, dass die abscheulichsten Politiker in Kiew bald von prorussischen Kräften verhaftet und vor ein Tribunal (ähnlich dem in Den Haag) gegen die am Völkermord im Donbass Verantwortlichen gestellt werden. Das wird zu einer moralischen Rechtfertigung des Einmarsches führen. Die ukrainischen Streitkräfte werden bald aufgelöst werden. Das größte Problem aber bleiben die Freiwilligenbataillone wie »Azow« u.a. Sie haben nämlich nichts zu verlieren, weil sie seit 2014 Hunderte Menschen in Donezk und Lugansk getötet haben.



Zu Deutschland:


Leider ist Nord Stream 2 ein Opfer von Sanktionen geworden. Alle Bemühungen Merkels waren umsonst. Deutschland verzichtete freiwillig auf eine Rolle als Gas-Drehscheibe in Europa. Die Zertifizierung von Nord Stream 2 wurde gestoppt; die Stiftung »Klima- und Umweltschütz MV« hat ihre Arbeit eingestellt. Dabei handelt es sich um eine Stiftung, die das Projekt trotz der US-Sanktionen unterstützen könnte. Dem Bundeskanzler Scholz fehlt das Format seiner Vorgängerin, ihre Gelassenheit, ihr analytischer Verstand, ihr Pragmatismus und ihre Geduld. Deutschland, das unter Merkel die Fähigkeit zu erlangen begann, seine nationalen Interessen nicht nur zu verfolgen, sondern auch (im Rahmen bestehender Bündnisse und Zusammenschlüsse) zu artikulieren, ist in den Rang eines politischen Zwergs zurückgefallen.


An der Macht ist ein Bundeskanzler mit westdeutscher Denkweise. Als Germanist kann ich nur bedauern, dass ein Land, das vor dreißig Jahren wiedervereinigt wurde und mit einer ostdeutschen Kanzlerin zur Berliner Republik geworden ist, sich wieder den Maßstäben des alten Bonn unterordnet.




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Über den Autor:


Alexander Michailowski, geb. 1977 in Moskau, ist ein russischer Philosoph und Übersetzer. Von 1994 bis 2003 besuchte er Seminare des einflussreichen Philosophen Vladimir Bibichin (1938-2004) an der Lomonossow-Universität. Seit 2004 lehrt er Philosophie an der National Research University Higher School of Economics in Moskau. Seit 2016 ist Michailowski TUMULT-Korrespondent für Russland.

Vgl. Alexander Michailowski: »Die Zerstörung der Mehrheit«, in: TUMULT, Winter 2017/18, S. 19-22.



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