Thomas Hartung: VOM SCHULDSTOLZ
- vor 1 Stunde
- 16 Min. Lesezeit
Die BRD hat auf dem Holocaust eine Zivilreligion als Elativformel gegründet: Schuldstolz als Identität, Erinnerung als Herrschaftstechnik. Das ist unreif und einseitig.
Am Anfang steht ein Satz, der heute wie Weihrauch durch die Republik wabert: „Der Holocaust ist das schlimmste Menschheitsverbrechen.“ Er erscheint im politischen Diskurs nicht als historisches Urteil, das man erläutern und begründen müsste, sondern als eine Art Glaubensbekenntnis, das die Zugehörigkeit zur bundesmoralischen Kommune Eins markiert. Im Moment seiner öffentlichen Bekräftigung schrumpft die Geschichte zur Kulisse; entscheidend wird die Bereitschaft, die richtige Formel zur richtigen Zeit zu sprechen. Wer zögert, nuanciert oder nachfragt, steht bereits mit mindestens einem Fuß außerhalb des akzeptierten Korridors.
In dieser einen Wendung ballt sich ein doppelter Anspruch: Sie behauptet Einzigartigkeit und supponiert zugleich eine Hierarchie, denn das Adjektiv „schlimmstes“ ist ohne Vergleich gar nicht denkbar. Es setzt andere Verbrechen voraus, die man kennt, prüft, gegeneinander abwägt – um sie dann in einer moralischen Rangordnung zu überbieten. Die Rede von der Singularität des Holocaust unterbindet den Vergleich auf der begrifflichen Ebene, während der Superlativ ihn im selben Atemzug stillschweigend voraussetzt – und zum ideologisch erwünschten Elativ formt. Es ist ein performativer Widerspruch, auf den sich die politische Elite geeinigt hat, weil er ihr nützlich ist.

So entsteht jene merkwürdige Konstellation, die man in Anlehnung an die Debatte nach dem Bürgerfest zum fünften Jahrestag der Einweihung des Berliner Holocaust-Mahnmals 2010 „Schuldstolz der Deutschen“ nennen kann: der jüdische Publizist Henryk M. Broder intervenierte mit dieser Vokabel gegen den Satz „In anderen Ländern beneiden manche die Deutschen um dieses Mahnmal“, der in der Rede des Historikers Eberhard Jäckel fiel.
Aus der Einsicht in die historische Schuld wird kein stilles, schmerzhaftes Wissen, sondern ein öffentliches Distinktionsmerkmal. Man ist stolz darauf, schuldbewusst zu sein; stolz darauf, die richtigen Formeln zu kennen; stolz darauf, aus dem eigenen Verbrechen angeblich tiefer, gründlicher, moralisch vorbildlicher gelernt zu haben als alle anderen. Die Erinnerung wird zur Zivilreligion, und wie jede Religion kennt sie ihre Dogmen, ihre Liturgien, ihre Ketzer.
Und zu einem solchen wurde jetzt der sachsen-anhaltinische AfD-Spitzenkandidat Ulrich Siegmund, der sich in einem Interview im Politico-Podcast Berlin Playbook nicht auf den Holocaust als „schlimmstes Menschheitsverbrechen“ festlegen wollte: „Das maße ich mir nicht an zu bewerten, weil ich die gesamte Menschheit nicht aufarbeiten kann“. Es habe so viele grauenhafte Verbrechen in der Geschichte gegeben, „denken Sie an den Stalinismus, den Maoismus oder den Völkermord an den Armeniern.“
Und er setzt fort: „Ich verurteile den Holocaust uneingeschränkt, aber eine Rangliste unter Gräueln zu erstellen, steht mir nicht zu.“ Zwar müsse man „immer aus Geschichte lernen, aber nicht nur aus einzelnen Aspekten der Geschichte, sondern aus der gesamten Geschichte“. Der AfD-Parlamentarier Tomasz Froelich MdEP pflichtete Siegmund auf X umgehend bei: „Nicht derjenige, der eine Hierarchie der Genozide ablehnt, relativiert den Holocaust. Sehr wohl aber relativiert derjenige viele Genozide, der eine solche Hierarchie aufstellt.“
Die Konkurrenz der Höllen
Sobald man den Begriff „Menschheitsverbrechen“ ernst nimmt, entzieht sich die Formel der Unangreifbarkeit. Ein Verbrechen gegen die Menschheit bleibt nicht im luftleeren Raum, es steht in einem historischen Horizont. Es gibt andere Katastrophen, andere Exzesse des Tötens, andere Versuche, ganze Völker, Klassen oder Gruppen auszulöschen. Wer sagt, ein Verbrechen sei „das schlimmste“, kann diesen Horizont nicht einfach ignorieren, ohne sein eigenes Urteil sinnfrei zu stellen.
Nimmt man die nüchterne Sprache der Demographie und der Geschichtswissenschaft nur der letzten 800 Jahre und auch nur selektiv zur Hand, verschiebt sich die Perspektive rasch. Der Mongolensturm unter Dschingis und später Batu Khan 1220-1242 nebst nachfolgenden Feldzügen etwa gen Bagdad hat nach heutigen Schätzungen dreißig bis vierzig Millionen Menschen das Leben gekostet, ungefähr ein Zehntel der damaligen Weltbevölkerung. Ganze Städte wurden ausgelöscht, Bewässerungssysteme zerstört, Kulturlandschaften dauerhaft verwüstet. Der Schrecken der Zeitgenossen, die in den Mongolen die apokalyptischen Reiter selbst sahen, war keine rhetorische Übertreibung, sondern eine präzise Erfassung dessen, was sie erlebten.
Ähnliches gilt für die „Entdeckung“ und Eroberung der Amerikas, die man im angelsächsischen Raum zunehmend „Great Dying“ nennt. Um 1492 lebten auf den beiden amerikanischen Kontinenten nach heutigem Forschungsstand etwa sechzig Millionen Menschen; ein Jahrhundert später waren es noch rund sechs Millionen. Krieg und Versklavung, Krankheiten, die die Eroberer einschleppten, Hunger – in der Summe starben fünfzig bis sechzig Millionen, wiederum ungefähr ein Zehntel der Weltbevölkerung. In Mexiko brach die indigene Bevölkerung von geschätzten fünfundzwanzig oder dreißig Millionen auf wenige Millionen zusammen.
Die Figur des „Cortez the Killer“, die in der Kultur zwischen Gaspare Spontinis Oper und Neil Youngs Ballade herumgeistert, ist kein rein moralisches Konstrukt, sie steht auf einem Fundament entsetzlicher Zahlen, als deren kleinste vier Millionen genannt wird. Die spanische Regierung unter dem Sozialisten(!) Pedro Sánchez sah noch 2021 keinen Grund für eine Entschuldigung an Mexiko: was damals geschah, könne „nicht mit heutigen Maßstäben beurteilt werden”. Erst vor wenigen Tagen räumte Außenminister Albares „Ungerechtigkeit” ein. Dennoch wird Cortez von vielen Völkern Mittelamerikas mindestens respektiert, teils verehrt, weil er die Vorherrschaft der Azteken zerstörte.
Der Dreißigjährige Krieg wiederum verwüstet Mitteleuropa in einem Ausmaß, das noch die traumatisierte Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts übersteigt. In manchen deutschen Territorien schrumpft die Bevölkerung um bis zu fünfzig Prozent, Dörfer verschwinden, Landstriche veröden; religiöser Fanatismus, Söldnerökonomie und machtpolitischer Zynismus verbinden sich zu einem drei Jahrzehnte langen Alptraum. Vor 1914 galt dieser Krieg mit gutem Grund als die größte Katastrophe der europäischen Geschichte. Wer ihn nicht kennt, versteht den späteren Zivilisationsbruch nur halb.
Moralische Währung statt geostrategische Kollateralschäden
Der Sprung in die Moderne verändert die Mittel, nicht die Größenordnungen. Der Mord an rund einer Million Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16, der in vielen Schulbüchern – wenn überhaupt – bis heute nur als „Massaker“ oder „Vertreibung“ am Rand vorkommt, passt schlecht zur Rolle des strategischen NATO-Partners Türkei, zu seiner Mittlerfunktion bei der Migration und zu den Empfindlichkeiten einer wachsenden türkischen Community hierzulande.
Unter Stalin zieht sich eine millionenfache Blutspur von den Hungersnöten in der Ukraine (Holodomor 1931-1933) über die Gulags bis zu den „Säuberungen“ in Partei und Armee; selbst zurückhaltende Schätzungen sprechen von Millionen Getöteten, die höheren von zehn, fünfzehn, zwanzig Millionen Toten, deren Tod keine bloße Begleiterscheinung, sondern Zweck oder zumindest bewusst einkalkulierte Folge politischen Handelns war. Zu erinnern ist vor allem an die zweite Säuberungswelle zu Beginn des Jahres 1948, die hauptsächlich gegen Juden in der Sowjetunion gerichtet war, die als „wurzellose Kosmopoliten“ denunziert wurden. Die Kampagne führte zunächst zur Auflösung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und zur Hinrichtung jiddischer Intellektueller, bekannt als Nacht der ermordeten Dichter. Sie erreichte ihren Höhepunkt in der sogenannten Ärzteverschwörung und endete abrupt mit Stalins Tod im März 1953.
Unter Mao Zedong sterben in der Kulturrevolution nebst Großer Hungersnot Ende der fünfziger Jahre je nach Quellenlage bis zu fünfzig Millionen Menschen. Rechnet man politische Kampagnen, Lager, Erschießungen und zerbrochene Biographien hinzu, bewegt sich die Opferbilanz des maoistischen Projekts im Bereich einiger Dutzend Millionen. Und dann Kambodscha: ein kleines Land in Südostasien, in dem die Herrschaft der Roten Khmer, deren führende Köpfe in Paris studiert hatten, innerhalb von gerade vier Jahren bis zu einem Viertel der Bevölkerung hinwegrafft.
Die Killing Fields sind keine Metaphern, sondern physische Orte. Man geht über Erde, aus der noch Knochen und Stofffetzen ragen, betritt Museen oder auch nur dörfliche Straßenschreine, in denen Schädelwände aufeinandergestapelt sind; man sieht die Fotografien derer, die in Tuol Sleng nummeriert, vernommen, gefoltert und zur Schlachtbank geführt wurden. Alles atmet eine trostlose, bürokratische Monotonie des Grauens. Wer dort war – wie 2019 der Verfasser –, hört die deutsche Formel von den modernen Mechanismen von Entmenschlichung und Vernichtung mit anderen Ohren.
Die Blindheit gegenüber weiteren, zeitnahen Völkermorden indiziert, wie wenig es in dieser Republik um ein echtes, universales „Nie wieder“ geht. Der Genozid in Ruanda 1994, organisiert mit Macheten und Staatsradio, stört das Bild vom edlen „globalen Süden“, den man moralisch aufwertet, um sich im eigenen Schuldnarrativ zu spiegeln; er zeigt zu deutlich, wie tödlich die Kombination aus ethnischer Aufhetzung, Staatsversagen und internationaler Gleichgültigkeit ist. Und die anhaltenden Massaker im Sudan, in Darfur wie in den aktuellen Bürgerkriegsgebieten, taugen erst recht nicht zum Kanon, weil sie jede bequeme Erzählung von der EU als Hüterin der Menschenrechte demontieren würden.
Man könnte an diesen Fällen lernen, dass mindestens das 20. Jahrhundert nicht nur aus der deutschen Verbrechensgeschichte besteht, sondern aus einer Serie von Völkermorden, die alle die gleiche Frage stellen: Warum wird das Leiden mancher Völker zur ewigen moralischen Währung, während das anderer als geostrategischer Kollateralschaden verbucht wird? Das alles hebt die Besonderheiten des Holocaust nicht auf. Aber es macht deutlich, wie fragil und kontextabhängig jede Rangordnung des Schreckens ist. Sobald man sie quantitativ versteht, gerät man schon in eine makabre Medaillenvergabe des Leids.
Nimmt man sie aber qualitativ, ist man gezwungen, Kriterien zu benennen – und landet unweigerlich in einem wirren Netz von Annahmen, Wertungen, Weltbildern. Verbrechen zu gewichten heißt immer schon, sie zu interpretieren; es ist nie bloße Statistik, sondern stets auch Ideologie. In diesen Zusammenhang ist endlich Alexander Gaulands historisch völlig unspektakuläre „Vogelschiss”-Flapsigkeit zu rücken: die „12 Jahre” etwa zwischen 1401 und 1413, 1660 und 1672 oder 1888 und 1900 hätten niemanden empört. Nur der Spanne zwischen 1933 und 1945 eigne, so das ebenso ungeschriebene wie unhinterfragbare Dekret, immer und überall eine immanente qualitative Komponente, die jede objektive Geschichtsschreibung, die in Äonen denkt, verunmöglicht.
Zeitgebundenes Grauen
Die gern wiederholte Formel, der Holocaust sei einzigartig durch die industrielle, bürokratische Perfektion eines modernen Staates, der nahezu alles auf die effizienteste Form des Tötens ausrichtete, besitzt einen wahren Kern. Die Verbindung aus Logistik, moderner Verwaltung, rassistischer Ideologie und technischer Vernichtung in Gaskammern und Krematorien ist tatsächlich eine Konstellation, die man so zuvor nicht kannte. Aber in der Art, wie diese Formel heute verwendet wird, liegt ein zweites, weniger reflektiertes Moment: Sie verwechselt historische Spezifik mit moralischer Ausschließlichkeit.
Jeder Genozid ist an seine Zeit gebunden. Die Mongolen hatten keine Lokomotiven und kein Karteikartensystem, dafür aber die schnellste Kavallerie, die ausgefeilteste Belagerungstechnik und die disziplinierteste Kommandokette ihrer Epoche. Ihre Heere konnten binnen weniger Monate Kontinente durchmessen, Städte einkreisen, Handelszentren auslöschen und eine Terrorökonomie etablieren, in der das ausgestellte Massaker – aufgerichtete Schädelpyramiden – bewusst als Instrument der Kriegsführung eingesetzt wurde.
Liest man historische Berichte oder auch literarische Bearbeitungen dieser Epoche, etwa Wassili Jans sauber recherchierte Mongolen-Trilogie, erkennt man genau jene Rationalisierung des Tötens, von der die moderne Formel spricht – nur eben ohne Beton, Stacheldraht und Zyklon B. Daran ändert auch nichts, dass es Dschingis Kahn der Legende nach lieber war, wenn die Angegriffenen kapituliert und nicht gekämpft hätten.
Nebenbei: Er gilt bis heute als Nationalheld, der für die Gründung des mongolischen Reiches, die Einigung des mongolischen Volkes und die Schaffung einer nationalen Identität verantwortlich ist und für seine militärischen Leistungen, seine organisatorischen Fähigkeiten und seine religiöse Toleranz gefeiert wird – obwohl er zu seinen Lebzeiten Osteuropa, ganz Zentralasien und China jahrelang in Angst und Schrecken versetzte. Nahe der Hauptstadt Ulan Bator ist ihm ein 40 Meter hohes und 250 Tonnen schweres Reiterstandbild gewidmet – das größte der Welt. Dass er „mit Völkermord ein Imperium” schuf, wie Florian Stark in der Welt befand, ist für seine Nachfahren offenbar lässlich. Wenn aber wir „historische Ambivalenz” predigen, meinen wir stets andere, niemals uns.
Hinzu kommt, dass „Modernität“ als moralischer Maßstab nicht nur trügerisch ist, sondern unbrauchbar. Was macht eine Gaskammer schlimmer als einen Pfeil im Herzen? Ist die Kugel im Kopf per se entmenschlichender als das Erschlagen von Kleinkindern an Bäumen oder die Deportation in kalkuliert überfüllte Lager, in denen Hunger, Krankheit und Erschöpfung das Geschäft des Henkers übernehmen? Warum spricht eigentlich kaum noch jemand über die Leningrad-Blockade, während der die Wehrmacht die nordrussische Stadt fast zweieinhalb Jahre auf Befehl Hitlers einschloss, so dass über eine Million der 2,5 Millionen Einwohner sterben musste; meist durch Hunger? Sobald man die Mittel hierarchisiert, rückt man sich selbst ins Zentrum der Betrachtung: Unsere Technik, unsere Verwaltung, unsere „moderne Staatlichkeit“ werden zum eigentlichen Gegenstand der Selbstanklage – und damit, paradoxerweise, auch der Selbstbespiegelung.
Es ist kein Zufall, dass Orte wie Tuol Sleng in Kambodscha, die Verwaltungszentrale eines Genozids mit deutlich einfacheren Mitteln, in der bundesdeutschen Debatte kaum eine Rolle spielen. Die nackten Räume, die Pritschen, die Gestelle für Folter und Fixierung, die akribisch geführten Listen, die Fotografien der Opfer, die Protokolle der Verhöre – all das bildet ein Spiegelbild der Logik, die man hierzulande gerne exklusiv dem „industriellen“ Vernichtungsapparat des Dritten Reichs zuschreibt. Nicht die Technik macht den Kern der Entmenschlichung aus, sondern die Entscheidung, Menschen auf verwaltbare Körper zu reduzieren, auf Dateien, Nummern, Aufgaben, deren „Erledigung“ in Arbeitsplänen auftauchen kann.
Jede Epoche bringt ihre spezifische Verbindung von Mitteln und Möglichkeiten hervor. Der Dreißigjährige Krieg kennt den stehenden Beamtenstaat nicht, aber er kennt die Kälte des Söldners, die Gefühllosigkeit des Kriegsunternehmers, der die Dörfer seiner eigenen Versorgungsbasis ausplündert. Die Kolonialreiche verfügten nicht über Gaskammern, aber sie verfügten über Expeditionstruppen, Gefängniskolonien, Plantagensysteme und eine rassistische Ideologie, die jeden Toten zu Kollateralschaden der Zivilisierung erklärt. Die totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts schließlich haben Eisenbahnfahrpläne, Stacheldraht, Aktenberge und statistische Verfahren; sie treiben eine Entwicklung an ihr Extrem, die längst begonnen hatte. Das Ungeheure ist nicht 1933 vom Himmel gefallen.
Auschwitz im Klassenkampfschema
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, wie der real existierende Sozialismus seine eigene Rangordnung des Grauens erzeugte. Ein Blick ins DDR-Schulbuch Geschichte Klasse 9, das sich dem Zeitraum 1917-1945 widmet, genügt: Im KZ-Abschnitt (vgl. S. 206) wird in einer Bildunterschrift nur von „Millionen Menschen“ geschrieben, die in die Gaskammern transportiert wurden. Der nüchterne Text daneben sortiert die Opfer „Kommunisten, Antifaschisten und aus rassischen Gründen Verfolgte, vor allem Juden“ so, wie es in die marxistisch-leninistische Heilslehre passte. Später erscheinen „Arbeiter, Kommunisten, Sowjetbürger, progressive Angehörige der Intelligenz und Juden“ – die Juden also ausdrücklich nicht als eigenständige, besonders verfolgte Gruppe, sondern als letzte Position in einer Klassenliste.
Die Vernichtung wird zum Beispiel für die barbarische Natur des Faschismus, verstanden als höchste Stufe des Monopolkapitalismus. Denn unten auf der Seite illustriert ein montierter Briefwechsel zwischen der IG Farben und der Lagerverwaltung in Auschwitz die Zynik des Kapitals: Frauen werden für Menschenversuche „bestellt“, ihr Preis heruntergehandelt, nach ihrem Tod eine „neue Lieferung“ angekündigt. Das Grauen wird didaktisch in eine ökonomische Kategorie übersetzt – nicht, um einen spezifischen antisemitischen Vernichtungswillen sichtbar zu machen, sondern um den Kapitalismus als solchen anzuklagen. Und mit zig solcher Anklagen, auch in anderen Fächern und mit anderen Unterrichtsthemen, sind Millionen DDR-Schüler sozialisiert worden.
Man sieht daran exemplarisch, wie jede Epoche ihre eigene moralische Ökonomie der Erinnerung konstruiert. Das komplette 6. Schulbuchkapitel „Der zweite Weltkrieg und seine Ergebnisse” verantwortete damals Gerhart Hass (1931-2008), bis 1991 Professor an der Akademie der Wissenschaften der DDR, ein jahrzehntlanger Stasi-IM, der als intriganter Karrierist verschrien war. Der Autor dieses Textes hatte das aus heutiger Sicht zweifelhafte Vergnügen, den Stoff mit diesem Buch im Schuljahr 1987/88 an einer Magdeburger POS selbst zu unterrichten.
In der DDR war der Begriff Holocaust nur einem Teil der Bevölkerung und nur durch den gleichnamigen US-Vierteiler im bundesdeutschen Fernsehen bekannt. Zudem hatte er keinen Singularitätsstatus; das hallt nach. Er ging sowohl in der großen Erzählung der Menschheitsgeschichte „Vom Niederen zum Höheren” als auch der nachgeordneten kleineren vom antifaschistischen Kampf der Arbeiterklasse gegen den Monopolkapitalismus auf. Das erinnerungspolitische Zentrum bildete nicht Auschwitz, sondern Stalingrad und Buchenwald, nicht der jüdische Nachbar, sondern der kommunistische Widerstandskämpfer. Die Rangliste des Schreckens war eine andere, aber sie war ebenso politisch funktional wie die heutige westdeutsche Formel vom „schlimmsten Menschheitsverbrechen“.
Damals diente sie der Legitimierung eines Staates, der sich als historischer Sieger über Faschismus und Kapitalismus präsentierte; heute stützt sie eine Bundesrepublik, die aus dem Bekenntnis zur eigenen historischen Schande neben dem innenpolitischen Gründungsmythos eine außenpolitische Moralwährung gewonnen hat. In beiden Fällen verdrängt die politisch privilegierte Hierarchie der Opfergruppen die nüchterne Frage nach den Mechanismen des Tötens – und damit genau jene Einsicht, die für eine wirkliche universale Erinnerungskultur nötig wäre.
Anekdote am Rande: Mehrere Sendeanstalten der ARD widersetzten sich 1979 der Ausstrahlung der vom WDR angekauften Miniserie, deren voller Titel „Die Geschichte der Familie Weiss” lautete, im Hauptprogramm. Als Kompromiss wurden die vier Folgen innerhalb von fünf Tagen im Dritten Programm aller ARD-Länderanstalten ausgestrahlt. Verantwortlich für die deutsche Version war Günter Rohrbach, damals Hauptabteilungsleiter Fernsehspiel beim WDR, der die letzten acht Minuten herausschnitt. „Das US-Ende war mir zu weich. Die deutschen Zuschauer sollten sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen, weil zum Schluss auf dem Bildschirm Frieden herrscht. Sie sollten den Schluss bekommen, den sie verdienen”, zitierte ihn damals Bild. Schon vor Jahrzehnten also gefielen sich öffentlich-rechtliche Fernsehfunktionäre als Volkserzieher.
Spezifika ohne Rangliste
Als ein Debatten-Vorläufer lässt sich leicht der „Historikerstreit“ von 1986 ausmachen, in dem es offiziell um die Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Kommunismus ging, faktisch aber um die Festschreibung eines moralischen Deutungsmonopols. Als Ernst Nolte die Frage stellte, ob der NS-Terror nicht auch als „reaktive“ Barbarei auf den bolschewistischen Terror gelesen werden könne, wurde daraus kein nüchterner Disput über Ursachenketten, sondern ein politischer Schauprozess: Wer die Einzigartigkeit von Auschwitz relativiere, stelle die „Fundamente der Bundesrepublik“ in Frage.
Habermas und andere Intellektuelle setzten damals den Ton für die neue Zivilreligion, in der nicht mehr die historische Analyse, sondern das Bekenntnis zum „Singulären“ über Karrierechancen im akademischen Betrieb entschied. Der Streit endete nicht mit einem argumentativen Konsens, sondern mit der Stigmatisierung einer ganzen konservativen Historikergeneration – als warnendes Exempel dafür, dass es künftig nicht mehr nur darum gehen sollte, Geschichte zu erforschen, sondern vor allem, sie im richtigen moralischen Register zu bekennen.
Man kann, soll und muss die Spezifika des Holocaust benennen. Es gibt gute Gründe, ihn als einen Kulminationspunkt der europäischen Geschichte zu betrachten: die Verbindung von rassistischer Weltanschauung, technisch-industriellen Mitteln, staatlicher Machtkonzentration und einer geradezu besessenen Fixierung auf eine bestimmte Opfergruppe. Aber Spezifika markieren heißt gerade nicht, eine metaphysische Rangliste des Bösen zu errichten.
Der Dreißigjährige Krieg hat seine eigene Spezifik: religiöser Bürgerkrieg, permanente Entstaatlichung, eine Ökonomie der Verwüstung, die die Grundlagen des Lebens zerstört. Die mongolische Expansion wiederum steht für eine Kombination aus militärischer Effizienz und einschüchterndem Terror, die den eurasischen Raum dauerhaft umformte. Die Vernichtung der indigenen Bevölkerungen in den Amerikas ist in ihren Ursachen und Folgen ein Ereignis, das die globale Geschichte von Religion, (Land-)Wirtschaft und Demographie veränderte. Kambodscha verkörpert die mörderische Konsequenz eines utopischen Egalitarismus, der im Namen der Reinheit alle Differenz ausmerzt – auch wenn er territorial begrenzt blieb.
Wer den Begriff „Menschheitsverbrechen“ ernst nimmt, muss diese Unterschiede kennen und dennoch das Gemeinsame sehen: den Entschluss, bestimmte Gruppen als überflüssig, schädlich, minderwertig oder gefährlich zu definieren; die institutionelle Verankerung dieses Entschlusses in Gesetzen, Dekreten, Befehlen; die Implementierung von Strukturen, die das Töten zur Routine formieren; den mentalen Akt der Entmenschlichung, der aus Nachbarn Opfer macht, aus Bürgern Feinde, aus Menschen Material.
Die politische Formel vom „schlimmsten Menschheitsverbrechen“ zielt nicht darauf, dieses Verständnis zu vertiefen. Sie dient eher dazu, es durch eine Art moralische Engführung, ja Endgültigkeit zu ersetzen. Wo man sagt: „Schlimmstes“, darf man nicht mehr fragen: „Warum?“ oder „Wie?” – jedenfalls nicht, wenn die Antwort die bequeme Selbstpositionierung stören könnte. Die Rangliste wird zur Bühnenportiere, hinter der die Mechanik der Kulissen verschwindet.
Schuldstolz als negative Identität
Deutlich wird das im spezifisch deutschen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Weil die positive nationale Identität – Kulturnation, romantische Tradition, Erfindergeist, klassische Moderne – durch zwei Weltkriege und den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus irreparabel beschädigt scheint, entsteht eine neue, negative Form der Selbstbeschreibung. Man ist das Land, das die größte Schuld trägt – und genau dadurch das Land, das am tiefsten geläutert ist. Aus historischer Schande wird politisches Kapital.
Diese Logik erzeugt eine eigentümliche Dynamik. Die Parteien, die sich im selbst definierten „demokratischen Spektrum” tummeln, unterscheiden sich längst kaum noch in den Grundformeln der Erinnerung. Die Konkurrenz verschiebt sich in die rhetorische Überbietung: Wer verurteilt schärfer, wer entdeckt schneller „Relativierung“, wer ist empfindsamer gegenüber möglicher „Verharmlosung“? Die Formel vom „schlimmsten Menschheitsverbrechen“ funktioniert dabei wie ein liturgischer Ruf. Ihre Wiederholung bezeugt nicht primär historisches Wissen, sondern Loyalität, ja die permanente Selbstvergewisserung der selbsternannten Besseren.
Wer in diesem Klima darauf beharrt, dass auch andere Verbrechen genannt, auch andere Opfer erinnert werden müssen, gerät in den Verdacht, das eine durch das andere aufwiegen zu wollen. Schon der Hinweis, dass die Mongolen, die Spanier in der Neuen Welt, die Türken mit ihrem Aghet, die kommunistischen Regimes des 20. Jahrhunderts oder die Roten Khmer ihre jeweils eigenen Kapitel im Buch der Menschheitsverbrechen geschrieben haben, löst Abwehrreflexe aus. Man hat sich daran gewöhnt, Gedenken als Nullsummenspiel zu betrachten: Wer die anderen Toten erwähnt, schmälert die moralische Aura der eigenen. Der Tod kann nur ein Meister aus Deutschland sein.
Gleichzeitig entsteht aus dem kultivierten Schuldbewusstsein eine subtile Form der Überheblichkeit. Man ist überzeugt, aus der eigenen Geschichte mehr gelernt zu haben als andere. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung wird zum Exportschlager, zum Modell für Nachbarn und ferne Regionen, deren Konflikte man gern im Lichte des eigenen Lehrplans begreift. Stolz ist man nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Art, wie man mit ihr umzugehen behauptet. Der Schuldstolz ist in Wahrheit ein Stolz auf die eigene historische Flexibilität, die je nach moralischer Kassenlage das eine glorifiziert und das andere diskreditiert.
Und vor allem eignet sich Schuld als Herrschaftsinstrument. Wer dauerhaft in einem Zustand kollektiver Selbstanklage gehalten wird, ist leichter zu disziplinieren. Die Erinnerung an das Verbrechen dient dann als Ressource, um gegenwärtige politische Debatten zu steuern. Wer von nationaler Souveränität spricht, wer kulturelle Selbstbehauptung einfordert, wer Grenzen nicht nur geographisch, sondern auch symbolisch verteidigen möchte, kann rasch in die Nähe jenes „Vorher“ gerückt werden, das durch die Zivilreligion der Erinnerung endgültig überwunden sein soll. Die Anrufung der Vergangenheit strukturiert den erlaubten Raum der Gegenwart.
Erinnerung ohne Rangordnung
Die Alternative zu diesem Schuldstolz ist nicht das Vergessen. Sie besteht auch nicht in der trivialisierenden Behauptung, dass „andere auch schlimm“ gewesen seien. Eine reife Erinnerungskultur müsste vielmehr universeller und zugleich genauer sein. Sie müsste bereit sein, den Holocaust in seiner historischen Spezifik zu erkennen, ohne ihn zur moralischen Singularität des Weltgeschehens zu verklären – zumal sich die jüdische Welterfahrung des 20. Jahrhunderts nicht einfach in eine allgemeine Opferzählung auflösen lässt, ohne ihren Kern zu verfehlen. Sie müsste es aushalten, dass es andere Verbrechen von ähnlicher Größenordnung, anderer Struktur, vielfach aus anderen Motiven gab – und dass die Mechanismen, die sie ermöglichten, sich beunruhigend ähnlich sehen.
Eine solche Erinnerung würde die Opfer nicht in Konkurrenz zueinander setzen, sondern in eine stille Solidarität stellen. Die Toten von Auschwitz und Treblinka, von Kolyma und der ukrainischen Steppe, der Ruinen von Tenochtitlán, der Gruben von Choeung Ek, der Massengräber von Ruanda oder dem Sudan – sie alle gehören in denselben moralischen Horizont. Es gibt keinen guten Grund, sie in Klassen zu sortieren, deren oberste allein dazu dient, die moralische Sonderstellung eines Landes im 21. Jahrhundert zu legitimieren.
Vor allem aber würde eine solche Erinnerung die Frage nach dem „Wie“ in den Mittelpunkt rücken. Wie verwandeln sich Nachbarn in Täter? Wie wird aus Bürokratie ein Tötungsapparat? Wie verschieben sich sprachliche Kategorien, bis der andere als „Schädling“, als „Unkraut“, als „Menschenmaterial“ erscheint? Wie bilden Ideologien einerlei welcher Provenienz jene Rechtfertigungsmaschinen, die es erlauben, das Ungeheuerliche als notwendig, ja als moralische Pflicht zu empfinden? Wer diese Fragen ernst nimmt, kann nicht einfach im Modus des selbstzufriedenen Bekenntnisses verharren.
Eine Nation, die gelernt hat, ohne Schuldstolz auszukommen, wäre nicht automatisch eine „bessere” Nation. Aber sie wäre erwachsener, reifer, souveräner. Sie würde ihre Vergangenheit kennen, ohne sich von ihr definieren zu lassen; sie würde fähig sein zur Scham, ohne daraus eine Bühne zu bauen; sie könnte universelle Solidarität praktizieren, ohne aus der eigenen Schuld einen moralischen Mehrwert zu ziehen. Vor allem jedoch könnte sie über die Gegenwart nachdenken, ohne jede abweichende, ja widersprechende Perspektive reflexhaft mit jener Vergangenheit kurzzuschließen, die doch angeblich für immer überwunden ist.
Aber die Deutschen, seit 1945 „kollektiv neurotisiert”, stichelt der Rostocker Galerist Holger Arppe auf Facebook, wollen seither in allem die Besten sein: „Im Guten wie im Bösen. Beim Klimaschutz, bei der Entwicklungshilfe, bei der Aufnahme von Migranten und auch beim Völkermorden. Nirgends soll uns jemand den Schneid abkaufen.” Insofern habe Siegmunds Weigerung, den Holocaust an die Spitze einer Rangliste des Grauens zu setzen, eine „narzisstische Kränkung” ausgelöst: „Sind wir doch nicht die Schlimmsten?”
Der Satz vom „schlimmsten Menschheitsverbrechen“ hätte dann seinen dogmatischen Charakter verloren. Er wäre vielleicht nicht verschwunden, aber er wäre ein historisches Urteil unter vielen, offen für Kritik, für Differenzierung, für das Wagnis einer begründeten abweichenden Position. Statt als liturgische Formel würde er als Einladung zum Denken verstanden. Und genau das wäre die eigentliche Ehrenrettung der Opfer: dass man ihrer nicht mehr gedenkt, um sich selbst moralisch zu überhöhen, sondern um endlich zu begreifen, wozu Menschen in jeder Zeit, mit den jeweils verfügbaren Mitteln, fähig sind – und was es braucht, um sie davon abzuhalten. Den ungezählten Opfern der vielen Massenmorde in unserer Geschichte, einerlei ob sie ein Grab in den Wolken haben oder stumm unter steinernem Lid ruhen, dürfte diese bizarre Debatte freilich egal sein. Sie sind alle gleich tot.
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.
Besuchen Sie das Dresdner TUMULT FORUM - für Termine und Neuigkeiten genügt eine Nachricht mit Ihrem Namen und dem Betreff TERMINE an TUMULTArena@magenta.de
Beitragsbild von I, Inisheer, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons