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Christian J. Grothaus: WANDERUNGEN IM GE-STELL - Die metaverse Kopfgeburt

Zur Kolumne:


Architektur: von der Königin der Kunst zum binärkodierten Bild innerhalb von Rechenmaschinen. An einer ehemaligen Zunft lässt sich der Siegeszug der Kybernetik trefflich nachzeichnen und zugehörig die bedingungslose Kapitulation vor dem Sachzwang des Ge-Stells. Diese Kolumne wird Spaziergänge auf den Schlachtfeldern der Moderne dokumentieren. Sie wird kriegsgeschichtliche Beispiele referieren, Operationspläne, taktische Skizzen, Munitionsreste und Waffensysteme sichten, Trümmer betrachten oder auch versprengte Stoßtrupps zu Wort kommen lassen.



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Die Maschine erscheint mir oft als kleine Schwester der Architektur. Es braucht einen vorlaufenden Willen zu ihr. Sie wird entworfen, geplant, konstruiert, erprobt, bedient, aussortiert, zerstört oder wiederverwertet. Wie das Bauwerk folgt auch die Maschine im Gebrauch einem Plan. Es soll etwas Bestimmtes mit ihr passieren. Zugehörige Erwartungen können auch eine Art Sog erzeugen, der sie nicht mehr aus der erwarteten Zukunft entlässt.


Das E-Auto mag ein aktuelles Beispiel dafür sein, wie die Maschine als solch utopischer Katalysator wirken kann. Sie regt die Phantasie an; nicht zuletzt die ihrer Erfinder. Nehmen wir nur Monsieur Courtial des Pereires, den Céline uns im Roman „Tod auf Raten“ (s.u.) beschrieb, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielt. Der Herausgeber des Magazins „Génitron“ musste sich „mit aller Kraft gegen den Strom der Ideen stemmen.“ (Ebd., 431).


Seine Ideen wohlgemerkt, denn Céline stellt diese Figur weit über das „brodelnde Magma dieser Versager […]“ (Ebd., 424). Er meint damit die anderen Erfinder, diese „Tausend Dilettanten der Wissenschaft, diese irregeleiteten Laufburschen, diese tausend Träumer und Bastler […] Das ganze winzige Gewimmel der besseren Wirrköpfe […] der mondsüchtigen Tüftler.“ (Ebd., 425) Letztendlich wird aber auch Courtial des Pereires am Widerstand der Natur gegen seine Apparaturen scheitern.


Womit wir bei einem wichtigen Punkt sind: Maschinen sind Kopfgeburten. Es nimmt nicht wunder, dass Athene, die unter anderem das Handwerk beschützt, aus dem Kopf des Göttervaters Zeus herausgeschlagen wurde. Dies von keinem Geringeren als Hephaistos, dem Schmiedegott, dessen Mutter Hera ihn wiederum unbefleckt und aus sich selbst geboren hatte. Ideen, die man sich besser aus dem Kopf geschlagen hätte, heißt es so schön. Die ganze Ambivalenz eines zur Unnatur befähigten Naturwesens wird in dieser Redewendung deutlich.


Viele Kopfgeburten bleiben als Artefakte erhalten und geben einen Blick in die Vergangenheit des Ge-Stells frei. Verdienstvoll ist in diesem Zusammenhang das anschaulich bebilderte und einfallsreich geschriebene „Maschinenbuch“ Gottfried Hattingers (s.u.). Ob nun bei den Kapitel-Themen: Gott, Hölle, Welt, Kraft, Denk, Bio, Mensch, Tier, Theater, Klang, Absurdität oder Kunst – die Baukünstler spielten mit.


Mal stärker, mal schwächer hilft die architektonische Ermächtigungsarbeit dabei, sich die Erde untertan zu machen. Zunächst ist man auf Läuterung bedacht angesichts der Omnipotenz von Natur und Göttern. Folgen wir Hattinger hier in die antike Zeit der „Deus ex Machina“ und erinnern uns an die Kran-Gottheiten, die seinerzeit ehrfurchtgebietend über den Bühnenböden der Amphitheater schwebten.


In der Renaissance erlebten diese Göttermaschinen neue Varianten. So korrespondieren Leonardos fliegende „Heißluft-Heilge“ mit den Bildern der „Heiligen mit Raketenantrieb“, die im 15. Jahrhundert entstanden waren. Interessant sind z. B. auch Brunelleschis „Licht-Klang-Apparate" und im weiteren Lauf bis zur Neuzeit die „Hostienmaschine“ oder der „Jesus-Automat“.


Überschreiten wir die Schwelle zur „Aufklärung“, ist von Läuterung nur noch wenig zu finden. Folgerichtig, denn die ebenbildlich Geschaffenen erkennen in ihrer Fähigkeit zum Maschinenwerk den Schöpfer. So gilt der Christengott seit jeher als Konstrukteur, der mit dem Zirkel arbeitet. Architekten tun es ihm gleich in der Wahl der Werkzeuge und auch im Anspruch.


Die „Weltmaschine“ erscheint heutzutage digital. Sie hat nicht nur die Götter, sondern auch die Architekten verschlungen. Jeder beliebige Bediener kann sich per Mausklick in den Werkzeugkisten von Programmoberflächen zurechtfinden. Freiheit ist durch Wahl ersetzt und vollständig abhängig von zur Verfügung gestellten Datenleitungen, Hard- und Software bzw. Interaktionsplattformen. Die virtuelle Welt als Maschine findet ausschließlich mithilfe weiterer Maschinen (VR- oder AR-Brillen, Handys, Bildschirme) statt. Diese Totalität erscheint überdeutlich in Mark Zuckerbergs neuester Vision eines „Metaverse“ (Link unten).


Das „brodelnde Magma der Versager“ Célines, diese „Tausend Dilettanten der Wissenschaft, diese irregeleiteten Laufburschen, diese tausend Träumer und Bastler“ (a.a.O.) dürften in der Kopfgeburt eines Metaverse Platz finden – aber Monsieur Courtial des Pereires niemals. Er ließe es nicht zu, dass sein „Strom der Ideen“ von fünf VR-Studios gespeist wird. Nein, er nicht … Ums Verrecken nicht … Niemals!




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Céline, Louis-Ferdinand: Tod auf Raten; neu übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel; Hamburg: Rowohlt; 2021 [frz. 1952]


Hattinger, Gottfried: Maschinenbuch. Eine Sammlung zur Kultur- und Kunstgeschichte der Apparate; Zürich: Scheidegger & Spieß; 2021


Zuckerberg, Mark: Metaverse in 11 minutes, URL: https://www.youtube.com/watch?v=gElfIo6uw4g [Zugriff am 22.11.21]




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Über den Autor:

Dr. phil. Christian J. Grothaus ist Autor und Kulturwissenschaftler. Bislang publizierte er für: Arch+, AIT, AZ/Architekturzeitung, bauwelt, Deutsche Bauzeitschrift, der architekt, Berliner Gazette, CHEManager, digital business, Faust-Kultur, green building, Mensch&Büro, Tabularasa, Technik am Bau, Laborpraxis, Pharma&Food, Pharmind, transcript-Verlag, Virtual Reality Magazin, Welt-Online, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.





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