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„DAS SCHLIMMSTE SIND NICHT KLIMAWANDEL, KRANKHEIT UND KRIEG“: Frank Böckelmann im Gespräch, Teil 2

Manescu: Herr Böckelmann sprach von der radikalen Anwesenheit. Herr Röcke, was braucht es Ihrer Meinung nach, um eine radikale Anwesenheit in einer solchen Welt geistig noch halbwegs gesund zu überstehen?


Röcke: Eine radikale Anwesenheit in der Welt ist geistig ungesund. Immer schon gewesen, heute erst recht. Beides bedingt sich, niemand hat eine Chance. Es sei denn, er wendet sich ab. So macht es ja auch der Student Schlund: Die Welt ist dermaßen heruntergekommen, die Gesellschaft, in der er lebt, da gibt es nichts, woran er oder überhaupt Menschen mit Rest-Würde ohne massive Schadensereignisse teilnehmen könnten. Wer mitmacht, verfault. Es gibt da auch an nichts anzuknüpfen, nichts zu aktivieren oder rettend zu unterstützen. Man ist halt da, dreht seine Runden, fährt irgendeine Linie nach und gut ist. Aber das sollte man geräuschlos tun und sich ansonsten auf das Beobachten verlegen. Oder das Schreiben. Diese ganzen Prozesse dort draußen müssen intensiviert werden. Erbarmungslos. Nehmen Sie den Klassiker Massenzuwanderung: Da braucht niemand irgendetwas zu stoppen oder zu behindern, um ein Zeichen zu setzen, ein Symbol für Nachwachsende oder Nahestehende. Das ist alles sinnlos. Die Leute wollen es so, also passiert es so. Der Prozess der Massenzuwanderung muss beschleunigt werden, es müssen noch viel mehr kommen, notfalls mit Luftbrücken. Irgendwann ist der Prozess dermaßen beschleunigt, dass dann so langsam Veränderungen möglich werden. Das dauert. Diese Versuche des Aufhaltens oder Behinderns oder – besonders sinnlos – der (versuchten) Korrektur liefern irgendetwas Symbolisches, das dann über die Kanäle geschickt wird und die Follower bei Laune hält. Das war es.


Manescu: Das heißt, Sie sind mehr oder weniger ein Befürworter der Beschleunigung des Niedergangs. Und da sorgen Sie sich gar nicht über die Tiefe des Abgrunds? Niemand weiß ja, wie tief der Abgrund letztendlich ist – beträchtliches Leid, Not und Elend. Oder denken Sie, das ist dann das, was die Menschheit verdient?


Böckelmann: Wir stehen schon am Abgrund.


Röcke: Wie es so schön in den Kommentarspalten unter einschlägigen Nachrichten heißt: Viel schlimmer kann es eigentlich nicht werden.


Manescu: Doch! Das kann es.


Röcke: Es muss.


Manescu: Das heißt, diese ganzen Widerstandsbewegungen halten Sie für vergeudete Energie? Denken Sie, diese Sandkörnchen im Getriebe sind nur eine unwillkommene Verlangsamung und gar nicht nötig?


Röcke: Zum Beispiel Pegida? Ja, das ist sinnlos. Die AfD kann vielleicht noch etwas bewirken, indem sie Strukturen vor Ort schafft und dann wenigstens einen kleinen Teil der Steuergelder in halbwegs gesunde Systeme überführt, das Vorfeld und so weiter. Aber auch das ist viel zu schwach und zieht allerhand Gesindel an. Es ist doch so: Die Menschen, nicht nur in diesem Land, wollen das gute coole Leben. Sie wollen Dinge verbrauchen und ihre Zeit wegmachen. Sie wollen aber nicht in irgendeinem Kulturkreis leben oder sich mit irgendwelchen Werten identifizieren, die sie unterscheidbar von anderen machen. Das wäre anstrengend. Das wollen sie nicht. Zu glauben, dass die AfD irgendwann 30 Prozent oder mehr erreicht, weil die Menschen das schon immer so gewollt haben und sich jetzt endlich trauen oder weil sie es jetzt endlich eingesehen haben, das ist sehr unrealistisch.


Böckelmann: Nicht aus eigener Kraft.


Röcke: Selbst wenn: Die Menschen wollen im Wohlstand leben und für Wohlstand brauchen sie offene Grenzen, die vernetzte Welt und möglichst viele Billigheimer aus Bulgarien, die fleißig Pakete ausfahren.


Böckelmann: Eine AfD, die mehr als 30 Prozent erhält, wäre ja keine AfD mehr. Sie wäre eine andere oder eine gänzlich reorganisierte Partei. Damit sie eine andere Partei werden oder damit eine neue politische Kraft entstehen kann, müsste etwas Grundstürzendes geschehen. Nur unerwartete Ereignisse ändern die große Lage. Mit dem Unerwarteten können wir aber nicht kalkulieren. Meist hat es katastrophischen Charakter, geschieht gegen unseren Willen, überwältigt uns. Politische Bewegungen kann es plötzlich beflügeln. Oder ihnen den Boden entziehen.


Manescu: Es braucht immer einen äußeren Impuls, um das eigene Weltbild zum Einsturz zu bringen. Wenn man merkt, dass man das eigene Haus nicht auf einem stabilen Fundament gebaut hat, weil es von einer unerwarteten Krise erschüttert wird, dann hat man einen Grund, es noch einmal neu aufzubauen.


Böckelmann: Diesen Impuls geben keine Konferenzen, keine neuen Lehrstühle, keine klugen Bücher, keine persönlichen Kraftanstrengungen und keine Parteiprogramme. Wir können ihn weder erhoffen noch ihm vorbeugen.


Manescu: Wenn Sie nun so perspektivisch auf die Ereignisse zurückblicken, halten Sie diese dann immer noch für so unerwartet? Oder denken Sie vielleicht, dass man, wenn man damals nur über etwas mehr Wissen verfügt hätte, vielleicht doch diese Ereignisse hätte erwarten können?


Böckelmann: Im Nachhinein suggeriert man sich die Zwangsläufigkeit des Ereignisses. Die Bedingungszusammenhänge. Dann sucht man nach Schuldigen: Das war doch vorherzusehen! Dann trifft man Vorkehrungen, damit es nicht wieder geschieht – bis zur nächsten Katastrophe. Die Katastrophe ist das Überraschende schlechthin. Jede Katastrophe blamiert die Sicherheitsmaßnahmen der Vergangenheit.


Sie sagten eben, es könne noch viel schlimmer kommen. Ja, durchaus. Es kann zu Hungerkatastrophen kommen, zu Epidemien, zu Naturkatastrophen. Solche Katastrophen spüren wir körperlich. Aber es gibt schleichende Verhängnisse, die sich unserer Wahrnehmung und Empfindung fast völlig entziehen. Das tägliche Leben gleicht heute einem Schleudergang. Lawinen von Medienprogrammen gehen auf uns nieder, die Reisemöglichkeiten und Kontaktangebote vervielfachen sich, und jeder einzelne ist zum Objekt permanenter Ablenkung geworden. Wir residieren auf Dauer in der Dimension der vielfachen Möglichkeiten und verstehen unser Leben als eine Art Schalttafel. Dennoch oder gerade deswegen versuchen wir mit allen Mitteln, die Zahl unserer Optionen noch zu steigern.


Manescu: Was in gewisser Weise völlig absurd ist. Denn egal was man macht, man entscheidet sich in jener Sekunde für eine einzige Sache und erteilt allen anderen eine Absage. Wenn man sich also ohnehin meist nur für eine Sache entscheiden kann, warum braucht es dann so eine gewaltige Anzahl an Optionen?


Böckelmann: Ich dachte an Wunschziele, Wunschhorizonte, Absichten, Appetenzen. Auf den Verlust der alten Orientierungen reagiert der Einzelne konformistisch und individualistisch. Was die großen Themen und Krisen betrifft, nach denen die Meinungsforschung fragt, folgen die meisten der gefühlten Mehrheitsstimmung, um Anschluss zu halten und Ärger zu vermeiden. Zugleich versuchen viele, sich von den anderen abzusetzen, indem sie einen speziellen Lebensstil zelebrieren oder in Chatgruppen spezielle Vorlieben teilen. Eigenen Entscheidungen aber weicht man am liebsten aus und arbeitet stattdessen an der Sicherung von Voraussetzungen für ein gutes Leben. Man sammelt Optionen und Kataloge und schafft sich immer neue Apparate an, um Zeit zu sparen. Waschmaschine, Spülmaschine, Mikrowelle, Auto, Mountainbike, Ferienhaus. Man verbringt die Jahre mit der Bereitstellung von Bedingungen der Möglichkeit eines guten Lebens.


Röcke: Das finden viele aber gut.


Böckelmann: Mich eingeschlossen. Alle finden wir das gut.


Manescu: Ich habe keine Waschmaschine, keine Spülmaschine und keine Mikrowelle.


Böckelmann: Pfui Teufel!


Röcke: Das riecht man gar nicht.


Böckelmann: Worauf ich hinauswill: Das Schlimmste, das uns droht, sind nicht Krankheit, Altersarmut, Klimawandel, nicht einmal Krieg und Tod. Was uns aller Voraussicht nach bevorsteht, ist, bei lebendigem Leibe tot zu sein. Eine Maschinenexistenz zu führen. Eine fluide Schwarmexistenz mit Gedankenübertragung in Echtzeit. Allmählich zu einem Agglomerat gleichgültigen Überlebens zu mutieren. Nirgendwo zu sein, ohne den Ort mit tausend anderen abgeglichen zu haben. Nichts zu tun, was nicht zugleich auf tausend Alternativen verweist. Mich bei jeder Entscheidung hauptsächlich für meine Souveränität zu entscheiden. So wird meine Anwesenheit auf Erden abstrakt, aufgesetzt, ausgezehrt, fiktional, virtualisiert. Wir lassen uns den Rechner ins Gehirn implantieren, um die Hände frei zu haben.


Manescu: Die verschwimmenden Grenzen zwischen Materiellem und Virtuellem.


Böckelmann: Ja. Wir verständigen uns ohne Zeitverlust und möglichst unmissverständlich. Selbstverständlich im Sinne von Gleichheit, Toleranz und Vielfalt und im Geiste der Menschenrechte.


Manescu: Aber gerade, wenn dann die Verständigung so schnell läuft, gibt es ja doch viel mehr Gründe zum Missverstehen.


Böckelmann: Das ist zu hoffen. Es werden wohl Konflikte unbekannter Art ausbrechen. Aber die Gefahr der Entwirklichung ist unbestimmbar viel größer als die der Risiken von Hunger, Schmerz, Verlust und Tod. Wir gleiten in eine posthumane Virtualexistenz.


Manescu: Es läuft genau darauf hinaus. Zuerst hat man dem Menschen seine Religion genommen, seine geistige Verwurzelung, dann hat man ihm die Heimat genommen, damit einhergehend hat man ihm auch die Kultur genommen und nun nimmt man ihm noch das Geschlecht – und dann bleibt nicht mehr viel übrig. Was danach kommt, ist die Beliebigkeit von unvorstellbar vielen Möglichkeiten, die dann durch eine virtuelle Welt natürlich noch potenziert wird.


Böckelmann:Virtualisierung, ja.


Manescu: Das Ganze, also vieles davon, geht ja mit einer gewissen Anspruchshaltung einher, egal, ob das jetzt der Weltbürger oder der Mensch ist, der sich geschlechtlich frei entfalten will. Wo kommt diese Anspruchshaltung eigentlich her und wann ist sie so ubiquitär geworden?


Böckelmann: Das ist es, was man gewöhnlich als Fortschritt bezeichnet: gefeit zu sein vor Schicksalsschlägen, vor Krankheiten, vor dem Wüten der Elemente, vor dem Zufall. Unbestreitbar wächst die Selbstverfügbarkeit. Unbestreitbar gibt es medizinischen Fortschritt, eine Optimierung des Komforts, einen Fortschritt an Sicherheit, einen Fortschritt der Kommunikationsmittel. Allerdings ist jeder dieser Fortschritte teuer erkauft.


Manescu: Gibt es einen Menschheitsfortschritt?


Böckelmann: Das bezweifle ich. Andere sind sich dessen sicher. „Willst du denn im Alter von 16 Jahren dahingerafft werden?“ „Nein, natürlich nicht!“ Die Disponibilität nimmt immens zu. Dass unser Leben abstrakt und gespenstisch wird, steht damit in engem Zusammenhang. An der Weigerung, uns festzulegen, kränkeln viele Beziehungen. Früher wurden die Menschen gegen ihren Willen verheiratet und mussten damit irgendwie zurechtkommen. Nach solchen Verhältnissen sehne ich mich nicht zurück. Es darauf anzulegen, wäre ebenfalls reine Willkür. Aber diese Menschen waren geborgen in einer Fügung, in der sie ihr Geschick und dessen Transzendenz ermaßen. Zugleich unternahmen sie alles Mögliche, um sich aus ihrer Lage zu befreien.


Manescu: Letztendlich ist die Liebe eine Willensentscheidung und keine Anspruchshaltung. Eine Beziehung ist etwas, das man sich nicht wie chinesisches Essen nach Hause liefern lassen kann. Man muss viel eher selbst kochen.


Böckelmann: So ist es. Das Zauberische an der Liebe ist eben das, worüber wir nicht verfügen, was wir nicht erwarten, was wir nicht gewählt haben. Vielmehr wurden wir gewählt. Die tiefste Sehnsucht geht dahin, gewählt zu werden. Heute jedoch raten die Agenturen dazu, auf das Glück nicht zu warten, sondern ihm systematisch auf die Sprünge zu helfen. Mittels Merkmalsabgleich.


Manescu: Apropos Risiko und Gesundheitsfortschritt: Mitte der 60er bis in die frühen 90er galt die Gefahr, welche von Infektionskrankheiten ausging, als weitestgehend gebannt. Durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen und die Einführung von Hygienestandards ist die Sterblichkeitsrate durch Infektionskrankheiten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesunken. Nach dem Zeitalter der Seuchen und Hungersnöte kam das Zeitalter der rückläufigen Pandemien, welches wiederum vom Zeitalter der Zivilisationskrankheiten abgelöst wurde. 1979 verkündete die WHO offiziell die Ausrottung der Pocken. Damit gerieten die Infektionskrankheiten ins Abseits der öffentlichen Wahrnehmung – es herrschte die allgemeine Annahme, man habe den Sieg über alle gefährlichen Infektionskrankheiten errungen. In den Mittelpunkt rückten degenerative Krankheiten wie Krebs und kardiovaskuläre Erkrankungen. Mit dem Auftreten von AIDS 1981 änderte sich das. AIDS verkörperte alles, was man nach dem Sieg über die Infektionskrankheiten für undenkbar gehalten hatte: Eine neue Infektionskrankheit, für die es kein Heilmittel gab und die sowohl Industrienationen als auch Entwicklungsländer erreichte. Nach einer Dekade der Angst vor AIDS wurde 1992 der Ausdruck „emerging infectious disease“ (EID) von Joshua Lederberg (Nobelpreisträger für Medizin) geprägt. 1994 gründete das Center for Disease Control and Prevention das Journal „Emerging Infectious Diseases". Im selben Jahr tauchte die Pest im indischen Gujarat und Maharashtra auf, mit 56 Todesfällen. 1995 brach Ebola im heutigen Kongo aus, mit 315 infizierten Menschen. Beide Ereignisse wurden von großangelegtem, globalen Sensationsjournalismus begleitet: Apokalyptische Zeitungsartikel und eine Flut von Filmen und Büchern behandelte alle möglichen Horrorszenarien einer Pandemie und veränderte die Wahrnehmung der Öffentlichkeit und verbreitete das Gefühl unmittelbarer Gefahr, zu Zeiten, in denen die tatsächliche Gefahr gering war. Wir kennen den Rest der Geschichte: Vogelgrippe, Schweinegrippe, SARS, MERS, Ebola, Zika, COVID-19, Affenpocken, Disease X. Eine gute Strategie braucht effiziente Taktik – und gesunde Märkte kranke Menschen.

Manchmal muss man den Weg des Geldes zurückgehen, um die Ursachen besser zu verstehen. Wenn man einen gewissen Trend entdeckt, erscheinen die Dinge gar nicht mehr so unerwartet.


Böckelmann: Das sind Indizien für ein globales Krankheits- und Gesundheitsmanagement. Da gibt es noch viel zu recherchieren. Wie ich schon sagte – vermutlich sind alle Fortschritte teuer erkauft und von Rückschritten begleitet. Aber was auch immer auf der Ebene der WHO und der Pharmakonzerne vor sich geht: Ohne eine global abgestimmte Seuchenbekämpfung werden wir nicht mehr auskommen.


Manescu: Denken Sie, dass der Ukraine Krieg die Welt wieder in Ost und West spaltet, also in zwei Lager? Oder glauben Sie, dass die Welt mittlerweile zu multipolar dafür ist?


Böckelmann: Wir wissen nicht, wie sich der Ukraine-Krieg entwickeln wird. Und er war von Anfang an auch ein ideologischer Zankapfel. Die Strategiespiele im sogenannten neurechten Lager nach der Devise „Der Feind unseres Feindes ist unser Freund“, bezogen auf die USA und Putin, haben die Bodenhaftung verloren. Wir müssen von diesen Spielen ablassen. Letzten Endes ist Europa – ohne Russland – auf sich selbst angewiesen. Der Krieg kann ein Treibsatz zu seiner politischen und militärischen Einigung sein, zumal sich die Staaten im Gürtel von Estland bis Moldawien und Bulgarien unter keinen Umständen vom russischen Koloss bevormunden lassen wollen. Wir haben allen Grund, uns mit diesen Staaten zu solidarisieren, und die Ukraine ist eine der größten europäischen Nationen. Europa erfährt jetzt, dass es sich gegen die Übergriffe der Großmächte des 21. Jahrhunderts wappnen muss und als transatlantischer Schützling nicht mehr durchkommt. Die Vereinigten Staaten verfolgen rücksichtslos ihre eigenen Interessen. Darauf waren unsere Linken und Liberalen nicht gefasst. Ein großer Gewinner des Ukraine-Kriegs wird China sein, Russland ein großer Verlierer. Wir sind der multipolaren Weltordnung schon heute einen großen Schritt nähergekommen.


Röcke: Es wird beides geben: eine multipolare Weltordnung und Europa. Wenn Deutschland weiter ernst macht mit der nachhaltigen Energiewirtschaft, ist es noch stärker zu einer Kooperation mit China gezwungen. Man kann auch das nicht aus eigener Kraft schaffen, da man ressourcenbedingt gar nicht die Möglichkeiten hat, Solarpaneele oder irgendwelche Halbleiter-Geschichten regional in Masse zu produzieren. Da muss man sich an China binden und gegen andere europäische Nationen agieren, die eben auch in Fernost bestellen und auf ihre Lieferung warten. Man kann gar nicht als Europa so robust zusammenhalten, wie es theoretisch möglich wäre. Dass man aus dieser seltsamen EU etwas Beständiges und Wehrhaftes macht, einen Käfig-Kontinent, der bei Gefahr seine Lanzenträger hinauslässt und außenpolitisch Tatsachen schafft, das geht dann gar nicht.


Manescu: Das sehe ich ganz genauso. Und glauben Sie nicht, dass vielleicht gerade dieser Konflikt dazu führen könnte, dass sich Deutschland auf seine eigenen Energieressourcen, die nun mal nicht erneuerbar sind, besinnt? Beispielsweise, auf die Kohlekraftwerke in der Lausitz? Glauben Sie, da gäbe es eine Chance?


Röcke: Nein. Alle wollen sie das gute coole Leben, und das möglichst grün.


Böckelmann: Ohne Kernenergie wird es nicht gehen. Und ich wäre bereit, mich mit der Idee des Fortschritts anzufreunden, wenn die Kernfusion gelingen würde. Das ist eine alte Utopie. Enzensberger hat schon in den Siebzigerjahren von der Kernfusion als der einzigen sicheren, dauerhaften, auch sauberen Energiequelle geschwärmt. Man arbeitet daran, hat aber noch keinen Durchbruch erzielt.


Manescu: Nun möchte ich noch etwas von Ihrem Gefühlsleben erfahren, bevor Sie eine Zeitschrift oder eine Zeitung aufschlagen. Was empfinden Sie da? Neugier oder Pflichtbewusstsein?


Röcke: Kein Pflichtbewusstsein, nur Neugier. Ich lese Artikel an und blättere oder wische dann häufig weiter. Der Leser hat immer Recht, er darf nicht zimperlich sein. Gewisse Autoren lese ich nicht mal mehr an, das lohnt den Aufwand nicht. Bücher wegwerfen oder verschenken ist immer eine Option. Viel besser als pflichtschuldig aufzubewahren.


Böckelmann: Ich betreibe Gegner-Analyse, lese daher den Spiegel, immer mit großem Gewinn, auch die Frankfurter Allgemeine. „Fremde Heere West“ sozusagen. Ich muss wissen, wie die ticken, zupfe mir exemplarische Artikel heraus. Mit pflichtgemäßer Neugier. Der hegemoniale Diskurs ist nicht sehr einfallsreich, um sich als Weltvernunft zu etablieren. Vor allem ist er auf das Böse angewiesen, das Gespenst des Extremismus. Wie kann es nur immer wieder auferstehen? Als Belohnung konsumiere ich meine Lustorgane, die Krautzone etwa, die Bahamas – ja, ja! – und alle zwei, drei Jahre die Etappe. Häufiger erscheint sie nicht. Regelmäßig blättere ich durch den Kulturteil der Tagespost und die von Wolfgang Spindler redigierte Neue Ordnung. Und ich suche mir aus der Sezession, aus Tichys Einblick, der Neuen Zürcher Zeitung, dem Tagesspiegel und der Jungen Freiheit die Rosinen heraus. Ich lese auf Parkbänken, im Fernsehsessel und auf der Toilette. Ich habe zwei Lese-Arten kultiviert: das Verschlingen von links oben nach rechts unten und das andächtige Schlürfen aller Worte.


Manescu: Sie mögen ja beide sehr gerne Gottfried Benn. Ich frage Sie einfach so als Banausin: Warum? Was gefällt Ihnen an Gottfried Benn besonders gut?


Röcke: Ich habe Benn als aufrechten Nihilisten entdeckt. Dieses Akzeptieren der Sinnlosigkeit von allem und gleichzeitig diesem inneren Zwang folgend, dagegen anschreiben zu müssen, das hat mich beeindruckt. Ich habe mit seinen frühen Sachen angefangen, bei denen es um „Zusammenhangsdurchstoßung“ und „Wirklichkeitszertrümmerung“ geht. Völlig irre, das fand ich interessant. Und dann seine Wandlung hin zum Formprinzip und das Stellen dieser großen Frage: Für wen macht der Künstler seine Kunst? Er muss, der innere Zwang erlegt es ihm auf. Aber wer ist da draußen eigentlich? Wer ist der Empfänger seiner Kunst? Eine Elite? Ein Volk? Ein Haufen Verwegener? Normalos? Kaputte? Oder müssen die Empfänger der Kunst erst in Form gebracht werden, um Kunst überhaupt verstehen zu können? Das hat Gottfried Benn sich bis zum Ende gefragt und nie eine Antwort gefunden. Er wusste nur, dass er dichten muss.


Böckelmann: Benn stärkt mich. Erbauungsliteratur lähmt und langweilt mich. Ganz anders die Bennsche Illusionslosigkeit. Widerstandskraft kommt heute nämlich aus dem Bewusstsein, dass wir nicht mehr viel zu verlieren haben. Wenn es mir mal wirklich schlecht geht, lese ich Gottfried Benn.


Frank Böckelmann ist Herausgeber, Aline Manescu Autorin und Till Röcke Onlineredakteur der TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung.


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