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Günter Scholdt: POSTDEMOKRATISCHE POPULISTENJAGD — Zehn Korrekturen einer Polithysterie

Aktualisiert: 20. März 2020

Der Germanist und Historiker Günter Scholdt sieht den politischen Infantilismus mit Helau und Hallali gegen '(Rechts-)Populisten' und sonstige Kritiker einer vielfach unglaubwürdig gewordenen politischen Klasse in die Arena ziehen und warnt vor einer als Tagespolitik maskierten Narrenschau, vor gigantischen Verschwendungen von Volksgut, vor Vernutzung von Bildung, Wissen und Tradition.



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Populismus-Alarm! Spätestens seit 2013, dem Gründungsjahr der AfD, überbieten sich unsere kapitolinischen Mainstream-Gänse gegenseitig in politmedialem Warngeschnatter vor der einzig nennenswerten parlamentarischen Opposition dieses Landes. Daraus resultiert ein fast unüberschaubarer Boom an Veröffentlichtem über ein angeblich demokratiegefährdendes Politphänomen, das der Gegenrede bedarf. Dabei fragt sich zunächst, ob wir es überhaupt mit einem substanzreichen Begriff oder lediglich mit einer Stigmatisierungswaffe zu tun haben? Mustert man rund 90% des Wortgebrauchs, scheint Letzteres zuzutreffen. Doch sinnvoll definiert, ist er sogar ein wichtiger Terminus zur Charakterisierung des Zustands unserer Demokratie. Verleihen wir ihm etwas Kontur!


1. Populismus – was ist das? Man könnte schlagwortartig mit Philippe de Villiers antworten, er sei „der Schrei der Völker, die nicht sterben wollen.“ Oder mit Alexander Gauland: „Populismus entsteht, wenn ein Establishment den Gesellschaftsvertrag mit einem Volk mehr oder weniger aufkündigt“. Er organisiere sich gegenwärtig als „globale Bewegung gegen die Allmacht der Globalisierung“, „der Seßhaften gegen die Mobilen“, der „Demokraten gegen Autokraten“. Populismus fordert also die Demokratie nicht heraus, wie die herrschaftslegitimierende Polemik schamlos behauptet. Er antwortet vielmehr auf substantielle Beschädigungen von Demokratie und Rechtsstaat, die ein selbstbezogenes Parteienkartell aus kurzfristigem Machtkalkül angeblich „verantwortet“. Er speist sich aus der sattsam erduldeten Erfahrung, wie häufig Demokratie ihren eigenen Ansprüchen hinterherläuft und bestimmte Schichten oder Themen gravierend vernachlässigt. Indem Populisten darauf aufmerksam machen, können sie zur Selbstkorrektur eines Systems beitragen. Das wusste am 26.10.2004 sogar noch das Bundesverfassungsgericht, wie seine Entscheidungsbegründung zugunsten der ÖDP belegt. Heute dekretiert ein Herr Voßkuhle öffentlich: „Ein Populist ist ein Gegner der Demokratie“ (FAZ.Net 23.11.2017) – das Ganze auf einem analytischen Niveau, das mehr als nur Kopfschütteln erregt. Besser hätte er sich am nüchternen Urteil des Soziologen Ralf Dahrendorf orientiert, der schon früh zweifelte, ob ein Populist etwas viel anderes sei als ein den Etablierten missliebiger populärer Machtkonkurrent, oder an Peter Graf Kielmannsegg, der im Populismus auch mal „die Quintessenz der Demokratie“ sah. Ohnehin sei Demokratie im Prinzip „institutionalisierter Populismus“.


2. Doch dergleichen unaufgeregte Einschätzung findet sich in Deutschland, worauf sich meine Bilanz fokussiert, in der Regel allenfalls in Bezug auf linken Populismus, wobei Autoren mit „rechten“ Sympathien universitär wie in der Blockpresse praktisch zum Schweigen gebracht sind. Stattdessen schreiben mehrheitlich Vertreter einer herrschaftslegitimierenden Dienstleistungsbranche, wie ja ohnehin besonders die Politologie in Deutschland nach 1945 als gesellschaftliche Erziehungsdisziplin installiert wurde. Insofern fehlt vor allem Offenheit gegenüber den zu beschreibenden Sachverhalten.

Wer sich gleichwohl die Marter antut, den Riesenstapel einschlägiger Bücher und Artikel auch nur stichprobenartig zu mustern, erlebt – abgesehen von bemerkenswerten Ausnahmen v.a. im Ausland gefertigter Studien – die erwartete Enttäuschung. Er stößt mehrheitlich auf argumentative Spiegelfechtereien ohne konkreten „Feindbezug“ sowie gouvernantenhafte Belehrungen eingebetteter „Geisteswissenschaftler“, die sich als ideologische St. Georgs-Ritter gerieren. Während sie sich in liebedienerischen Resolutionen zur antipopulistischen „Normativität“ bekennen, büßen sie jegliche Erkenntnisdistanz zu ihrem Forschungsobjekt ein. Und wo sie ihn komparatistisch verorten, verharren sie im Bann der hiesigen Dauerfixierung auf dem (für viele offenbar einzig gekannten) Bezugspunkt Nationalsozialismus. Ihre überraschungsfreie Bestätigungsforschung fertigt dementsprechend Schuldsprüche am Fließband. Und statt sich auf das zu beziehen, was etwa das AfD-Parteiprogramm nachweislich fordert, setzen sie auf Unterstellungen respektive obsessive Popanzierung des ungeliebten Gegners.


3. Die Hauptschwäche vieler „Analysen“ liegt in einer bereits von der Kausalität her falschen Deutung von Populismus als Herausforderung oder Unterminierung der Demokratie. Das Verhältnis von Provokation und Replik erweist sich nämlich als umgekehrt. Zunächst zeigen sich massive politische Verwerfungen oder obrigkeitliche Anmaßungen. Erst darauf reagiert „das Volk“ mit Protest gegen bürokratische Verknöcherungen und programmatische Selbstzufriedenheit einer Elite mit schwindendem Massenkontakt. Populismus blüht, wenn eine Demokratie marode geworden ist, wozu diese Staatsform leider neigt. Insofern taugt er als Lackmustest für deren jeweiligen Zustand. Sein Erstarken indiziert den Ausbruch einer Repräsentationskrise und ist eine meist gesunde Reaktion auf die Zumutungen verordneter Alternativlosigkeit. Wichtiger als vor ihm zu warnen, wäre also, sich mit seinen Ursachen und eigentlichen Verursachern zu beschäftigen.


4. Ganz selten begreift die schreibende Zunft populistische Initiativen als berechtigte Opposition. Für die Mehrheit gilt er lediglich als Mobilisierungsstil, gekennzeichnet durch opportunistische Anbiederei, Emotionen statt Fakten und eine simplifizierende Weltsicht. Seine Führer, heißt es, gäben sich als authentische Stimme des (einfachen) Volks und versprächen, dessen bislang durch Ränkespiele verhinderte Herrschaft wieder herzustellen. Die politische Klasse bzw. deren System gelte ihnen als tendenziell illegitim oder korrupt. Aus diesem Generalverdacht speisten sich Forderungen nach direkter Beteiligung an der Demokratie. Populisten dächten antipluralistisch und beanspruchten Alleinvertretung. Sie bedienten Neigungen zu Politiker- wie Politikverachtung durch verheißene Radikallösungen oder eine Herrschaft der Straße gegen sachbezogene Ausschussarbeit einer Konsensdemokratie. Sie setzten auf Fake News und Verschwörungstheorien. Ihre Ideologie beinhalte den Rückfall in völkisches Denken, wo heute allein eine moderne supranationale und multikulturelle Orientierung angezeigt sei.


5. Hierauf lässt sich auf zweifache Weise antworten. Erstens indem man das Gros dieser Vorwürfe als bloße Unterstellungen entlarvt: z.B. die böswillig vergröbernde Behauptung, Misstrauen gegen eine bestimmte eurokratische Finanz- und Ausgabenpolitik bedeute friedensgefährdende nationalistische Europafeindschaft, oder Einspruch gegen Masseneinwanderung sei Rassismus. Vielmehr gilt umgekehrt: Wer solche (teils straf- und verfassungsrechtlich einschlägige) Termini derart leichtfertig nutzt, treibt ein übles demagogisches Spielchen. Desgleichen wer „zivilgesellschaftliche“ Gewalt zu Lasten der AfD praktisch ignoriert. Zweitens durch den leicht zu führenden Nachweis, dass, auch wo einzelne Kriterien (z.B. die agitatorische Vereinfachung komplexer Sachverhalte) zuweilen ebenso für Populisten gelten, gewiss kein Alleinstellungsmerkmal vorliegt. Der Politologe Graf Kielmannsegg jedenfalls zog (nach etlichen Absicherungsformeln, die unsere heutige Qualitätslückenpresse nun mal erfordert) in Bezug aufs Establishment das Fazit: „Jeder Politiker, der den Populismus anprangert, sitzt im Glashaus.“ Zusätzlich sprach er in der FAZ vom 13.2.2017 geradezu subversiv vom alltäglichen Populismus der Herrschenden mit schwerwiegenden Glaubwürdigkeitsfolgen, der die Demokratie viel „stärker“ gefährde. Das Volk seiner Ängste wegen „mit Verachtung zu strafen“, sei „die unklügste und gefährlichste aller Antworten“. Denn hartnäckiges Ignorieren oder Tabuisieren bestimmter Themen verrate eine Schwäche des repräsentativen Systems und fördere politische Entfremdung: „Mit dem alltäglichen Populismus und seinen Unwahrhaftigkeiten müssen Demokratien leben. Sie können mit ihm freilich nur leben, wenn er den demokratischen Wettbewerb nicht durch und durch korrumpiert – das würde die Systemfrage aufwerfen.“


6. Just das geschieht aktuell. Nur verschwindet eine funktionsgestörte Demokratie, wenn ihre Führer schlauer sind als die Bilderbuch-Potentaten des 20. Jahrhunderts, nicht einfach zugunsten einer auch so bezeichneten Diktatur. Sie entartet vielmehr schleichend und entwickelt sich zur Postdemokratie. In der leben wir heute, doch zugleich im Zeitalter des Populismus, das überzeitliche Machtmechanismen zunehmend verdeutlicht. Aufs Wesentliche reduziert, wehrt sich ein bislang geschlossenes Herrschaftskartell mit fast allen Mitteln dagegen, neue Tänzer zum demokratischen Kostümball zuzulassen.

Auch die Vorgänger heutiger Altparteien waren fast durchweg Populisten, hießen im 19. Jahrhundert etwa „Demokraten“, „Liberale“ oder „Sozialisten“, für ihre Verächter schlicht „Demagogen“. Die damalige Obrigkeitsdevise lautete: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“. Wollte man sie, unseren politmedialen Einpeitschern folgend, zeitgemäß abwandeln, liefe dies auf die Empfehlung hinaus: „Gegen Populisten helfen nur Schlapphüte.“ Denn die Populisten von damals tendieren, seit sie sich machtmäßig festgekrallt haben, zur rigiden Abschottung gegen neue.


7. Zu echtem Populismus gehört ein Schuss „Klassenkampf“, konkret: eine nach Millionen zählende Gesellschaftsschicht, die sich berechtigterweise als abgehängt, unberücksichtigt, übervorteilt oder missachtet sieht. Nicht jede Unzufriedenheit wächst sich zur (gar international getragenen) Völkerbewegung aus. Um der jeweiligen Regierungsfähigkeit willen ist das auch gut so. Bei Europas relativer ökonomischer Prosperität bedurfte es daher schon gewaltiger Erschütterungen, bevor sich breite Massen plötzlich für Politik interessieren, deren Detailarbeit bekanntlich wenig sexy ist. Üblicher ist es, sich, mehr oder weniger murrend, von anderen vertreten zu lassen und auf Brot und Spiele zu konzentrieren. Nun aber nötigen bedrückende Verhältnisse dazu sowie der Verdacht, von „denen da oben“ verschaukelt zu werden. Im aktuellen Populismus äußert sich die realistische Sorge vor Altersarmut, verminderter Sicherheit und einer zunehmenden Entfremdung im eigenen Land. Auf der Basis einer zerrütteten Demographie erleben viele den Schwund der Geldwertstabilität, die schleichende Enteignung durch Minuszinsen sowie wirtschaftliche Verwerfungen unter globalem Druck und hochideologischen Vorgaben. One-World-Visionen lassen bislang gehegte sozialstaatliche Zukunftshoffnungen verdämmern, während kostspielige „Eliten“-Projekte dominieren. Das reicht von der Demontage der Nationen über die totale Inklusion bis zur Klimareligion, von Gender Mainstreaming samt sexueller Indoktrination bereits bei Kindern über sprachpolizeiliche Reglements bis zu einer Justizpolitik, die den Rechts- zum Gesinnungsstaat ummodelt. Demgemäß verkörpert Populismus den Protest gegen Technokraten, die von Berliner, Brüsseler oder New Yorker Grünen Tischen aus bloß noch anordnen und das im Begriff „Demokratie“ enthaltene „Volk“ zur Phrase werden lassen. Die besten Repräsentanten einer Alternative tun dies mit Worten, die Missstände nicht rabulistisch verschleiern, sondern in gebotener Drastik zur Kenntlichkeit bringen. Ihr Widerstand gilt tückischen Korrektheitsformeln, die unseren zumindest halbtotalitären Maulkorb täglich enger zurren.


8. Das sind gewichtige Monita. Daher gibt es, jenseits von Machtinteressen, keinen Grund, den Populismus-Begriff grundsätzlich negativ zu besetzen. Ihn gar unter dem Etikett „Demokratieschutz“ zu befehden, ist pure Ideologie, selbst wenn man diese oder jene Äußerungsform missbilligt. Anders gesagt: Wer gegenwärtig Populisten „heilen“ oder gar überflüssig machen wollte, müsste zunächst einmal die aktuelle Demokratiekrise beseitigen.

Fraglos könnte eine weitsichtigere, weniger obrigkeitlich geprägte Herrschaft den Konflikt entschärfen, indem sie etwa die AfD am Regierungskuchen beteiligte. Man könnte einige Ziele zumindest pro forma billigen und sie im Übrigen zunehmend materiell und inhaltlich korrumpieren. Das wäre am wirksamsten und kanalisierte öffentliche Unzufriedenheit auf die wohl unspektakulärste Weise. Dabei drohte fürs politische Seelenheil der AfD vor allem das Österreich-Modell „Kurz“. Denn als Juniorpartner einer Koalition erst programmatisch ausgesogen, dann ausgespien zu werden, ist keine lukrative Option.


9. Das mag bei verschärfter Krise irgendwann ja noch versucht werden. Aktuell erlaubt dies ein lobbyistisch unterwanderter Staat offenbar nicht. So vertraut unser Establishment lieber auf die seit Jahrzehnten erfolgreiche Ausgrenzungsstrategie und präsentierte jüngst in Thüringen, wo ein parlamentarisch gewählter Ministerpräsident durch den Druck Berliner Führungskader wie der Straße aus dem Amt gemobbt wurde, ein Handlungsmodell, das zahlreiche (Vor-)Urteile über „Demokratie als bloße Fiktion“ bestätigt. Man wird künftig also noch schwerer gegen den systemkritischen Fundamentalsatz argumentieren können, wenn Wahlen etwas änderten, wären sie verboten.


10. Zudem trifft es sich bestens fürs Establishment, dass sich sozusagen eine neue Volks- und Jugendbewegung in seinen Dienst stellt als schlagkräftige, emotional hochaktive Hilfstruppe gegen eine wirkliche Alternative. Nun herrscht auf Deutschlands Straßen ein scheinbarer Gegenpopulismus, charakterisiert durch Klima-Kinderkreuzzüge von Wohlstandszöglingen und mächtige NGO-Einbläser hinter den Kulissen. Der politische Infantilismus ist endgültig in unsere demokratische Arena eingezogen mit Helau und Hallali gegen Rechte sowie jegliche Kritiker einer zunehmend unglaubwürdigen politischen Klasse. Wir erleben eine fortwährende Narrenschau als Tagespolitik, eine gigantische Verschwendung von Volksgut, eine Vernutzung von Bildung, Wissen und Tradition, die Torpedierung einer geordneten Zukunft. Hiergegen aufzustehen, ist das Gebot der Stunde. Dagegen verbleibt nur noch echter Populismus als letzte Chance, in praxi zu ermitteln, ob wir überhaupt noch in einer Demokratie leben. Und das ist eine verdammt ernste Frage.




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Über den Autor:


Der Historiker Prof. Dr. Günter Scholdt war bis zum Ruhestand 2011 Leiter des Saarbrücker Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass. Veröffentlichungen u.a.: Autoren über Hitler (1993); Die große Autorenschlacht. Weimars Literaten sreiten über den Ersten Weltkrieg (2015); Literarische Musterung (2017); Anatomie einer Denunzianten-Republik (2018) .


Jüngste Publikation: Populismus. Demagogischer Gespenst oder berechtogter Protest?

Marburg an der Lahn 2020 (Basilisken-Presse, Hirschberg 5, 35037 Marburg). 96 S., € 13,50.


 

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