Thomas Hartung: DIE TRICKSPIEGEL DER REPUBLIK
- vor 57 Minuten
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Im Namen der Objektivität definieren wir unsere Kategorien, bis sie uns gefallen – und „messen“ dann genau das, was wir vorher unterstellt haben. Erkenntnis wird so zur Selbstbestätigung.
Die Gegenwart liebt Messgeräte. Wo früher gestritten wurde, werden heute Skalen gebaut. Sie wirken kühl, präzise, wissenschaftlich – und sind doch oft nur die Disziplinierung des Politischen durch Redaktionslogik und Behördensemantik. Man verschiebt den Nullpunkt und wundert sich später, dass bürgerlich-liberale Antworten sich plötzlich als rechte Randerscheinung wiederfinden. Man faltet Mehrdimensionales auf eine Achse und erklärt Abweichung zum Alarmsignal. Man veredelt die eigene Voreinstellung zur Norm, der alle zu entsprechen haben. So entsteht der große Trickspiegel unserer Zeit.

Die Frage, die bleibt, ist unfreundlich und notwendig: Wie viel „Objektivität“ steckt tatsächlich in den vielgeteilten Politik-Tests, in den Deutungsstudien der so genannten Mitte und in den Einstufungen der Sicherheitsbehörden? Und noch grundsätzlicher: Was ist gewonnen, wenn Kategorien zuerst konstruiert und dann als Befunde zurückgeliefert werden? Wer das erkennt, sieht die Demokratie nicht schwächer, sondern klarer – sie lebt von offener Axiomatik, nicht von heimlichen Kalibrierungen.
Die Achse, die alles verschluckt
Beginnen wir mit dem scheinbar Harmlosen: einem Online-Test der Zeit, der verspricht, die eigene politische Verortung zu zeigen. Dreizehn Fragen, ein paar Schieberegler, und am Ende eine Markierung auf der Karte der Gesinnungen. Klingt wie eine pädagogische Spielerei, ist aber in seinem Kern ein Lehrstück über stille Macht: Ökonomie, Kultur, Staatsverständnis und Sicherheitsfragen werden auf eine einzige Links-Rechts-Achse projiziert, deren Nullpunkt redaktionell gesetzt ist. Wo eine Mehrzahl von Dimensionen sauber zu trennen wäre, wird verschmolzen; wo unterschiedliche Gewichtungen geboten wären, wird gemittelt; wo eine Achsenwahl gerechtfertigt werden müsste, bleibt sie implizit.
Wer in diesem Raster klassische Marktwirtschaft, Haushaltsdisziplin, Subsidiarität oder Skepsis gegenüber dirigistischen Eingriffen betont, rutscht semantisch nach „rechts außen“. Nicht, weil er ein Extremist wäre, sondern weil die Skala es so vorgesehen hat. Die Pointe liegt also nicht im Ergebnis, sondern in der Konstruktion: Die angebliche Messung misst Konformität zur Normmatrix – nicht die Topografie realer Haltungen. Man erfindet die Kategorien, in denen man später triumphierend „findet“, was man hineingeschrieben hat.
Hinzu kommt die semantische Elastizität der Items: Mal sind sie schwammig („starker Staat“), mal hyperkonkret (Tempolimit, Einzelmaßnahmen), sodass ungleichgewichtige Inhalte am Ende gleich gewichtet in den Topf fallen. Statistisch wirkt das sauber, weil die Maschine überall dieselbe Grammatik anlegt; inhaltlich ist es ein Kategorienfehler. Die Zahl, die am Ende herauspurzelt, ist präzise – aber über die falsche Frage.
Diese Mechanik wäre halb so problematisch, wenn sie ausgewiesen würde: Achsen offenlegen, Gewichte begründen, Alternativmodelle prüfen – „valide“ muss das Untersuchungsdesign sein, sagt der Sozialwissenschaftler. Stattdessen wird Scheinobjektivität erzeugt. Aus der Ferne blicken Daten auf uns, tatsächlich blicken wir in einen Spiegel: Die Redaktion legt fest, was „Mitte“ ist, und die Testperson darf sich zu dieser Mitte hin sortieren lassen. Wissenschaft beginnt jedoch dort, wo der Spiegel zerspringt und ein Fenster auf die Wirklichkeit aufgeht. Wenigstens ansatzweise muss die Redaktion das erkannt haben, denn mehrfach wechselte der Text vor oder hinter die Bezahlschranke. Davor zum Erschrecken der sich testenden „Bösen“, dahinter zur Selbstbestätigung der „Guten“.
Die Mitte als bewegliches Ziel: Die Mitte-Studie
Komplementär zum publizistischen Test wirkt die publizistisch vielzitierte Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung FES. Vordergründig beruhigt sie – ein großer Teil der Bevölkerung lehnt rechtsextreme Einstellungen ab, nur eine kleine Minderheit teilt ein geschlossenes extremistisches Weltbild. Gleichzeitig wird eine Alarmkulisse aufgebaut: ein „nach rechts offener Graubereich“, in dem angeblich gefährliche Dispositionen lagern. Wie entsteht dieser Schatten? Nicht vornehmlich im Feld, sondern im Instrument.
Ein „rechtsextremes Weltbild“ wird aus Mosaiksteinen zusammengesetzt: Zustimmung hier, Skepsis dort, ein Ja zum starken Nationalgefühl, ein Festhalten an traditionellen Rollenvorstellungen – und schon wächst der Verdachtsraum, als habe man eine verborgene Struktur des Antidemokratischen freigelegt. Doch diese Struktur ist zu großen Teilen ein Laboreffekt. Denn was zählt, ist nicht nur, was gefragt wird, sondern wie die Antwort mit Labels belegt wird. „Nationalchauvinismus“ ist ein starker Begriff; hinein rutscht aber auch das schlichte Plädoyer für nationale Interessen und Selbstbehauptung. „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ist ein unerbittlich wichtiger Grenzbegriff; codiert werden darunter mitunter bereits soziokulturell konservative Haltungen, die nicht ansatzweise diskriminierend sind.
So wird die Trennlinie zwischen demokratischem Dissens und antidemokratischer Grenzverletzung durch Begriffe verschoben. Der „Graubereich“ wirkt groß, weil man ihn groß definiert hat. Die Statistik imponiert, doch sie bleibt abhängig von der semantischen Vorentscheidung. Es ist der alte methodische Zirkelschluss: Definition und Diagnose fallen in eins; der Befund bestätigt, was die Kategorie versprochen hatte. Noch gravierender ist die implizite Erziehungsagenda. Wer die Mitte als Problemzone abbildet, entzieht der Demokratie das, was sie braucht: robuste, legitime Konflikte in der Sache. Man ersetzt Argumente durch Zuordnungen, Debatten durch medizinische Metaphern, die Gesellschaft durch eine „Lage“. Am Ende steht nicht Erkenntnis, sondern das gute Gefühl, den eigenen Standort wissenschaftlich geadelt zu haben. Die Mitte schrumpft logotechnisch, nicht real.
Definitionsmacht statt Wissenschaft: Was der Verfassungsschutz wirklich misst
Dritte Ebene: die Sicherheitsbehörden. Anders als Studien oder Tests entfalten ihre Einstufungen Folgen im Rechtsstaat. Umso mehr müsste Sprache hier so präzise sein, wie Sprache nur sein kann. Ist sie das? Das Grundgesetz kennt das Parteiverbot als schärfste, zugleich riskanteste Waffe der wehrhaften Demokratie. Die Schwelle wurde vom Bundesverfassungsgericht hoch gezogen: verfassungsfeindliche Ziele, aggressiv-kämpferische Vorgehensweise, reale Potenzialität, die freiheitliche Ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Schon die NPD, deren Ziele vom Gericht klar als verfassungsfeindlich benannt wurden, scheiterte an der fehlenden Gewichtskraft – ein rationaler, strenger Maßstab.
Darunter liegt die nachrichtendienstliche Stufe aus „Verdachtsfall“, „gesichert extremistisch“ oder „erwiesene Bestrebungen“. Diese Begriffe sind, notwendigerweise und gefährlicherweise, elastisch. Sie müssen aus Äußerungen, Kontexten, Netzwerken, Programmen, ja Taten abgeleitet werden; Gerichte kontrollieren Rechtsfehler, nicht politische Geschmackslosigkeit. Aber was genau ist eine „Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“? Wo beginnt das Aggressiv-Kämpferische – in Programmsätzen, in Kampagnen, in Praxis? Wo endet der legitime, scharfe Dissens, der zur Demokratie gehört, und wo beginnt die antidemokratische Zielrichtung? Es sind definitorische Schwellen, keine naturwissenschaftlichen Messwerte. Sie gewinnen ihren „Messwert“ erst im Zusammenspiel von Gutachten, Behördenpraxis und richterlicher Deutung.
Ein jüngstes Beispiel aus Hessen verdeutlicht die Brüchigkeit solcher Einstufungen. Ein unbescholtener Professor, einst kurzzeitig AfD-Kommunalpolitiker, wurde 2024 vom Verfassungsschutz dem „rechtsextremistischen Personenpotenzial“ zugeordnet – allein aufgrund einer spontanen Übernachtung im Haus des über einen Dritten bekannten Compact-Herausgebers Jürgen Elsässer. Ohne weitere Anhaltspunkte führte dies zu 16 Monaten Lehrverbot, Verhören, Kontenabfragen und gespenstischer Isolation am Arbeitsplatz, wie Jochen Buchsteiner im November in der FAZ berichtete. Kollegen tuschelten hinter verschlossenen Türen, aus Angst vor eigener Verdächtigung; der Betroffene, als „vorsichtiger, anständiger Mann“ beschrieben, sah sich wie ein Schwerkrimineller behandelt. Die Akte umfasste über 2000 Seiten, darunter Beschattungen und E-Mail-Überwachung – ein Aufwand, der Steuergelder verschlang, ohne je ein konkretes, nach außen gerichtetes Handeln nachzuweisen.
Das Gericht hob das Verbot schließlich auf und tadelte die Behörden scharf: Bloße Kontakte zu eingestuften Personen rechtfertigen keine Sanktionen, solange keine verfassungsfeindlichen Bestrebungen evident sind. Die Richter forderten „Zurückhaltung“ bei nachrichtendienstlichen Quellen und die Berücksichtigung von Meinungs- und Informationsfreiheit – eine Mahnung, die das hessische Verfassungsschutzgesetz nun nachbessern muss. Dennoch bleibt der Schaden: 50.000 Euro Anwaltskosten, seelische Narben und ein Kollegium, das in Schweigen erstarrt. Solche Fälle enthüllen den Trickspiegel in voller Schärfe – eine Einstufung, die nicht auf Taten, sondern auf Assoziationen basiert, untergräbt das Vertrauen in den Staat und verschiebt die Grenze zwischen Dissens und Gefahr willkürlich.
Gerade deshalb wäre methodische Transparenz doppelt geboten: Welche Items tragen die Einstufung? Wie werden sie gewichtet? Welche Gegenbefunde werden geprüft? Welche alternativen Hypothesen falsifizieren die These der Verfassungsfeindlichkeit? Ohne diese Offenlegung droht der gleiche Trickspiegel-Effekt wie in Test und Studie: Man findet, was zuvor als Kategorie bereitgestellt wurde – nur dass diesmal Grundrechte, Ruf und politischer Wettbewerb betroffen sind.
Der orchestrierte Gleichklang
Auffällig ist nicht nur, wie getestet und gemessen wird, sondern wann. Binnen weniger Tage erscheint im November 2025 ein eng getaktetes Paket, das wie eine Drehbuchszene wirkt: Zuerst die große Mitte-Publikation samt Pressekit, dann der interaktive Selbsttest, fast zeitgleich Leitmedienberichte mit stets ähnlichem Framing – die große Mehrheit sei zwar demokratisch, doch in der „Mitte“ lauere eine gefährliche Bereitschaft, autoritäre Lösungen zu akzeptieren; hinzu tritt eine Forschungsnotiz aus dem akademischen Raum, derzufolge Themen „von rechts“ die Agenda der Etablierten vorhersagen und so die Republik „nach rechts“ verschieben.
Wer all das nur als Zufall aufnimmt, unterschätzt, wie Kommunikation in medialen Ökosystemen funktioniert. Synchronität ist hier kein Beweis, aber ein starkes Indiz für Agenda-Kompatibilität. Studien liefern das semantische Rohmaterial; der populäre Test übersetzt es in ein persönliches Erlebnis („Wo stehe ich?“); die Leitartikel ziehen die normative Lehre; die Forschungspresse rundet es mit einem Prognosenarrativ ab.
Das Muster ist stets dasselbe: eine einachsige Verortung, eine Warnung vor „rechter“ Gefahr und die subtile Botschaft, dass konservative Antworten – marktwirtschaftlich, souveränitätsbewusst, ordnungsliberal – in problematischer Nähe zu „rechts“ lägen. Die Häufung in zwei, drei Tagen treibt die Suggestion in die Fläche: Was einzeln diskutabel wäre, wirkt in der Gleichzeitigkeit wie eine Selbstverständlichkeit.
So entsteht eine Kommunikationswelle, die bürgerliche Positionen semantisch an den Rand rückt, ohne je offen zu erklären, warum dieser Rand dort verläuft, wo man ihn gezogen hat. Wer sich in dieser Welle wiederfindet, soll sich fortan rechtfertigen – nicht für eine radikale Position, sondern für das bloße Beharren auf Normen der Mitte. Das erzeugt Einschüchterungseffekte: Man schweigt, um nicht „auffällig“ zu sein; man relativiert, um „Mitte“ zu bleiben; man übernimmt die Fremdachsen, um nicht aus dem Koordinatensystem zu fallen.
Das gemeinsame Muster: Unsichtbarkeit der Axiomatik
Zwischen Test, Studie und Behörde läuft eine unsichtbare Pipeline: von der Achsenwahl zur Diagnose, vom Label zum Befund, von der Axiomatik zur Autorität. Die Achse wird monodimensional, obwohl das Feld mehrdimensional ist. Das Label gewinnt, obwohl der Inhalt strittig bleibt. Die Axiomatik bleibt unsichtbar, obwohl sie das Ergebnis strukturiert. So entstehen Scheinpräzision und moralische Überhöhung, ein doppelt gefährlicher Cocktail. Denn wer die Mitte mit Definition verkleinert, treibt den politischen Rand statistisch in die Breite – ein Effekt der Skala, nicht der Gesellschaft.
Wissenschaftlich redlich wäre das Gegenteil: Dimensionen trennen, Gewichte begründen, Cut-offs offenlegen, konkurrierende Modelle einander aussetzen, Hypothesen gegen das eigene Milieu testen. Das klingt trocken, ist aber die Bedingung der politischen Hygiene. Es geht nicht um Schonung, sondern um Schärfe. Nicht um „beide Seiten“, sondern um die Fähigkeit, Kategorien zu rechtfertigen, statt sie zu verstecken. Die Demokratie verdient die Zumutung, dass auch das eigene Lager an sauberen Achsen scheitern kann.
Die Alternative ist die bequeme Selbstbestätigung. Sie macht den Diskurs stromlinienförmig und untergräbt damit Vertrauen: Wer sich einmal im Trickspiegel ertappt hat, glaubt beim nächsten Mal auch dem ehrlichen Spiegel nicht mehr. Am Ende schadet die Ahnung von Voreingenommenheit sogar den notwendigen Messungen: den klaren Grenzziehungen gegen wirklichen Extremismus, den unmissverständlichen Sanktionen gegen Gewalt, den sauberen Entscheidungen in Sicherheitsfragen.
Wissenschaftliche Hygiene: Wie man misst, ohne zu herrschen
Wissenschaft beginnt nicht mit Tabellen, sondern mit Axiomatik: Welche Freiheits-, Gleichheits-, Ordnungsbegriffe liegen zugrunde? Was ist „Mitte“ – eine statistische Lage oder eine normative Tugend? Welche Dimensionen müssen getrennt werden, damit ihre Kreuzung sichtbar bleibt – Ökonomie, Kultur, Staat, Sicherheit? Welche Gewichte werden gesetzt, und warum? Wo liegen die Cut-offs, jenseits derer ein Befund den Rang wechselt? Was passiert, wenn man alternative Modelle zulässt – liberal vs. konservativ vs. sozialdemokratisch vs. libertär –, die nicht entlang einer Einheitsachse verlaufen?
Erst wenn solche Fragen offen, konkurrierend, auch gegen das eigene Milieu gestellt werden, verdient ein Instrument den Namen „Test“. Solange aber Kategorien als Naturgesetze auftreten, liefern Tests und Studien vor allem eine Bestätigung des eigenen Koordinatensystems. Sie erzeugen Scheinpräzision: gerade Linien auf krummem Gelände. Und sie produzieren politische Kosten: Der legitime Dissens wird mit dem Verdacht verwechselt; die Mitte wird semantisch verschoben; Vertrauen in Messungen erodiert – auch dort, wo es am nötigsten wäre.
Hinzu kommt eine öffentliche Psychologie. Wer zwei Tage hintereinander liest, er sei nach einem „neutralen“ Test rechts von der Mitte, die Mitte selbst sei „angespannt“ und öffne sich „nach rechts“, und überhaupt drängten Themen „von rechts“ in die „Mitte“, wird sein Antwortverhalten ändern. Nicht, weil er überzeugt wurde, sondern weil er sozial konditioniert ist. Das Ergebnis nennt man dann „Trend“ – und verwechselt damit die Wirkung der Welle mit einer Veränderung im Wasser.
Ein Plädoyer für axiomatische Nacktheit
Was wäre also zu tun? Zuerst: die Offenlegung der Axiome. Ein Politik-Test hat das Recht, seine Achse frei zu wählen – er hat die Pflicht, sie zu zeigen. Eine Mitte-Studie darf normative Begriffe verwenden – sie muss erklären, warum eine Zustimmung zu nationaler Souveränität oder zu klassischen Rollenbildern in denselben Korridor mit verwerflichen Ressentiments geschoben wird. Eine Behörde soll Erkenntnisse bündeln – sie muss angeben, welche Items wie tragen, welche Alternativannahmen geprüft, welche falsifiziert wurden.
Dann: die Wiederentdeckung der Mehrdimensionalität. Ökonomie ist nicht Kultur, und Kultur ist nicht Staatsverständnis. Wer diese Dimensionen miteinander verrechnet, erhält eine hübsche Zahl, aber kein Wissen. Es gibt liberale Konservative, sozialkonservative Marktkritiker, linke Souveränisten, rechte Etatisten – die politische Landschaft ist ein Netz, keine Linie. Je mehr die Modelle diese Komplexität abbilden, desto geringer wird der Reiz des moralischen Kurzschlusses.
Schließlich: die Demut des Messers vor der Wirklichkeit. Eine Skala ist nie die Welt. Sie ist ein Werkzeug, das sich jederzeit als stumpf erweisen darf. Eine Studie ist nie das Gewissen. Sie ist ein Angebot, ketzerisch geprüft zu werden. Eine Einstufung ist nie das Ende. Sie ist ein Stand der Erkenntnis, der widerrufen werden kann. Diese Zumutungen sind kein Luxus, sie sind die Voraussetzung, dass wir uns selbst ernst nehmen.
Jenseits der Selbstbestätigung: Maß, Mitte, Mut
Der demokratische Staat braucht die Fähigkeit zur harten Grenzziehung. Dafür sind klare Kategorien unverzichtbar: Antisemitismus, Diktatursehnsucht… was die Personenwürde oder die Ordnung angreift, muss ohne Hemmung benannt und geahndet werden. Gerade deshalb darf das Vorfeld nicht mit wolkigen Verdachtskategorien zugeschüttet werden. Wer alles in den Graubereich zieht, verfehlt das Schwarze. Wer legitimen Dissens etikettiert, verschleißt die moralische Währung, die er im Ernstfall braucht.
Ebenso braucht die Republik die robuste Mitte. Sie ist nicht die weiche Rückzugszone der Unentschlossenen, sondern das Feld der streitbaren Ambivalenzen. Dort dürfen sich Souveränität und Offenheit reiben, Tradition und Modernisierung, Marktfreiheit und Sozialstaat. Wer die Mitte als Problemzone definiert, weil sie nicht glatt ist, hat das Prinzip Republik nicht verstanden: Sie ist kein pädagogisches Projekt, sondern die Verwaltung von Konflikten in Freiheit.
Und schließlich braucht sie den Mut, „wissenschaftlich“ zu sagen, wenn Wissenschaft betrieben wird – und „publizistisch“, wenn ein Werturteil als Werturteil daherkommt. Das ist keine Kränkung der Redaktionen, keine Entmachtung der Behörden, sondern die Voraussetzung, dass beide ernst genommen werden. Die Presse darf Partei ergreifen; der Staat darf werten; aber beide müssen es kenntlich machen, wenn sie werten – und nicht so tun, als sei die Wertung eine Naturkonstante.
Wir definieren unsere eigenen Kategorien und finden dann heraus, was wir sowieso unterstellt haben – so soll es künftig nicht mehr laufen. Der politische Test, der zur Normerziehung wird; die Studie, die ihre Begriffe in den Befund hineinzieht; die Behördensprache, die elastische Rechtsbegriffe in harte Eingriffe übersetzt: All das verdient Widerrede, nicht aus Trotz, sondern aus Respekt vor der Sache.
Wissenschaft beginnt bei der Axiomatik. Rechtsstaat beginnt bei der transparenten Schwelle. Öffentlichkeit beginnt bei der Unterscheidung von Sein und Sollen. Wer diese drei Sätze ernst nimmt, wird ein anderes Land sehen: eines, das seine Gegner klarer erkennt, weil es seine Begriffe klarer führt; eines, das seine Mitte schützt, weil es den Streit nicht pathologisiert; eines, das seine Freiheit verteidigt, ohne sich mit Spiegeln zufriedenzugeben.
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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