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Hubert Geißler: DER HERBST DES DEUTSCHEN

Aktualisiert: 16. Dez. 2018

Durch über drei Jahrzehnte im staatlichen wie privaten Schuldienst gründlich desillusioniert, belässt es unser Autor nicht bei einer schonungslosen Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Bildungsunwesens, sondern entwickelt im Rückgriff auf Humboldt und Chomsky auch mögliche Ansätze für eine didaktische Neubesinnung.

Sprachverfall und mangelnde Sprachbeherrschung werden zunehmend zum gesellschaftlich relevanten Thema. Die Verbände der Wirtschaft begreifen das Absinken schulischer Leistungen als Bedrohung für den Standort, Eltern sorgen sich um die zukünftigen Karrieren ihrer Kinder, Nachhilfe-Institute boomen und die Verantwortlichen der Universitäten beklagen die zunehmende Zahl der immer schlechter mit Basisfertigkeiten ausgerüsteten Schulabgänger mit einem Anspruch auf Studienplätze. Von den Leiden der Deutschlehrer wollen wir nicht reden.

Während sich die Aufmerksamkeit der Medien auf den »plötzlich und unerwartet« eingetretenen Lehrermangel konzentriert und eine umfassende Digitalisierung von Schule als Allheilmittel gegen jedwedes Defizit angepriesen wird, bleibt ein Faktor weitgehend außen vor: Die Langzeitfolgen von massiven Veränderung in Fächerkanon, Methodik und Didaktik seit der Bildungsreform der 70er-Jahre, die jetzt erst ihre desaströsen Wirkungen zeigen.

Dazu exemplarisch eine bemerkenswerte Nachricht vorneweg:

»Wie sollen Lehrkräfte vermitteln, was sie selbst nicht können?« fragt Philipp Frohn in einem Artikel vom 26.1.2018 in der FAZ: »Am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen (UDE) ist man besorgt: Viele Lehramtsstudierende haben große Probleme mit Rechtschreibung und Grammatik – und stehen bald selbst vor Schulklassen.« »Patrick Voßkamp und Ulrike Behrens lehren an der UDE im Bereich der Linguistik und der Sprachdidaktik. Die Texte, die sie von Studierenden zu Gesicht bekommen, lösen bei ihnen zum Teil Erschrecken aus, sagen sie. In einigen Texten hätte es von Zeichensetzungsfehlern, lexikalischen und grammatikalischen Fehlern sowie erheblichen Defiziten in der Kasusbildung und Flexion gewimmelt. Grundlegende Sprachregeln würden nicht beherrscht. ›Im Prinzip werden hier Standards nicht erfüllt, die am Ende der Sekundarstufe I – und eigentlich schon nach der 6. oder 7. Klasse – erfüllt sein müssen‹, sagt er und fügt hinzu: ›Und das im Lehramtsstudium im Master im Fach Deutsch.‹«


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Diese Meldung sollte überdeutlich machen, dass sich die Folgen einer problematischen Schulpraxis längst an die Spitze der Bildungspyramide durchgefressen haben. Eine objektive Evaluation der Ergebnisse der Bildungsexperimente der letzten Jahrzehnte ist allerdings kaum zu erwarten. Zu sehr sind die Haltungen zu diesem Problemkomplex politisch geprägt.

Das wertkonservative Lager scheint in den Kommentaren zu bildungskritischen Presse-Artikeln numerisch zahlreicher zu sein. Beklagt wird der Rückgang von Kenntnissen im elementaren sprachlichen und mathematischen Bereich, der meist auf unkontrollierte Mediennutzung, mangelnde Fürsorge der Elternhäuser, Reformitis im Schulsystem und mangelnde Notengerechtigkeit zurückgeführt wird. Kritik gibt es am Konzept der Gesamtschulen, erwünscht ist ein Rollback zu einem autoritären dreigliedrigen Schulsystem mit klaren Notenkriterien. Bildung wird oft als der einzige Rohstoff unsres Landes bezeichnet und ein düsteres Bild der Fähigkeiten künftiger Generationen gezeichnet. Eine Steigerung dieser wertkonservativen Kritik findet sich in einer zusätzlich kulturpessimistischen Haltung: Sprache und Literatur als Medium der kulturellen Tradition eines Volkes verkomme und damit schwände dessen bewahrenswerte Identität. Den zweiten Deutungsansatz zur Sprachproblematik vertritt das liberal-sozialpädagogische Lager.

Generell wird bei dessen Vertretern mehr Wert auf den Erwerb sozialer Kompetenzen gelegt als auf die Einübung von Fähigkeiten und Aneignung von Wissen. Prägend für diese pädagogischen Ansätze ist eine gleichsam permanente Revolution der Methoden, eine positive Einstellung zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht und eine Stärkung der Schüler und Elternrechte, die Auslese und damit das dreigliedrige Schulsystem unterminiert. Dies geschieht in enger Kooperation mit der universitären wissenschaftlichen Pädagogik, die natürlich aus einer gewissen Eigendynamik heraus ständig neue Konzepte und Ansätze produziert und veröffentlicht. Ebenfalls unterstützt dieser ständige Methodenwandel, der sich als Methodenwechsel im Unterricht niederschlägt, die Konjunktur profitorientierter Bildungsanbieter, wie Schulbuchverlage oder Medienkonzerne.

Das Menschen- oder Kinderbild ist optimistisch. Ideal ist das »aus Spaß an der Freud« wie unmerklich lernende Kind, das sich in der Lerngruppe sozial positiv und kooperativ verhält. Das klassische »Pauken und Bimsen« wird negativ gesehen. Gesteigert wird diese Haltung zu Bildungsproblemen noch durch einen halb esoterischen Ansatz. Zwar gibt man zu, dass Fertigkeiten wie Sprachbeherrschung und mathematische Kenntnisse zurückgehen. Dies würde aber kompensiert durch neue Fähigkeiten der jetzigen Schülergeneration, wie eine fast angeborene Medienkompetenz, soziale Fähigkeiten und intuitives Verständnis von Zusammenhängen. Man sei zudem ohnehin auf dem unaufhaltsamen Weg vom linear denkenden, lesenden Menschen zum bildhaft »sehenden« digitalen. Dem müsse und würde die antiquiert korrekte Sprachbeherrschung letztlich geopfert werden.

Schon die Ursachenforschung gestaltet sich schwierig: Die Zunahme von Kindern mit Migrationshintergrund und mangelnder Beherrschung des Deutschen für die Misere verantwortlich zu machen, ist politisch unkorrekt; dasselbe gilt für die oft chaotische Einführung der Inklusion. Einerseits wird die Schuld an der überhand nehmenden Mediennutzung der Schülerschaft gesehen, andererseits soll es aber gerade die Digitalisierung des Unterrichts wieder richten. Beklagt wird das partielle Versagen der Elternhäuser, aber keiner traut sich, Elternrechte zurückzunehmen und wie Studien zeigen, ist das Personal in Kindergärten und Horten auch mit der Aufgabe der sprachlichen Frühförderung überfordert. Hinzu kommt neuestens auch noch das Phänomen eines katastrophalen Lehrermangels.

Man hat den Eindruck, dass die Kultusbürokratie nur allzugerne etwas gegen diesen Abwärtstrend tun würde. Mit bildungspolitischen Themen können Wahlen gewonnen oder verloren werden.

Susanne Eisenmann, die Kultusministerin von Baden-Württemberg zum Beispiel antwortet mit einem umfangreichen Rechtschreibrahmen auf das Absinken der Leistungen in den Schulen ihres Bundeslandes. Eisenmann reagiert damit auf den Bildungstrend 2016 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Besonders schmerzt es den einstigen Klassenprimus Baden-Württemberg, dass demnach rund ein Fünftel der Schüler nicht einmal den Mindeststandard bei der Orthografie erreicht. Damit liegt das Land laut IQB allerdings im Bundesschnitt, allerdings fast gleichauf mit früher oft despektierlich betrachteten Ländern wie NRW.

Ob da allerdings Eisenmanns »Bekenntnis zur Rechtschreibung« wirklich hilft, wenn eine Art didaktisch aufbereiteter Schrumpfduden den Märtyrern der Korrektur, den Lehrern, zwangsverordnet wird?

Was in der Ursachenforschung eigenartigerweise kaum Beachtung findet, ist ein möglicher Anteil der schulischen Didaktik an der Misere. Das ist umso verwunderlicher, als Sprachverfall als Massenphänomen seit den schulreformerischen Umwälzungen im Gefolge der 68er zu bestehen oder sich deutlich zu verstärken scheint. Die Bildungsreform der 70er-Jahre organisierte vor allem in den SPD-regierten Bundesländern das Schulsystem neu, führte neue Ansätze der Methodik und Didaktik ein und verdrängte die Relikte des seit Wilhelm von Humboldt in Deutschland bestehenden Bildungswesens. Auffällig ist, dass gerade die reformeifrigsten Bundesländer in den gegenwärtigen Vergleichsstudien am schlechtesten abschneiden.

Was den Bereich der Sprache anbelangt, sind die bedeutendsten Veränderungen die faktische Abschaffung der früher dominierenden altphilologischen Fächer und die Zurückdrängung eines auf Literaturvermittlung abhebenden Unterrichts zugunsten einer Sprachauffassung, die auf Informationsübermittlung, Funktionalität und Einübung von Alltagssprache abzielt. Primäres Lernziel sind Kritikfähigkeit und analytische Fertigkeiten, die auf die endliche Erschaffung des »mündigen Bürgers« abzielen. Erreicht werden soll das in allen Sprachunterrichten durch eine Kombination der Vermittlung eines aufgeklärten Weltbildes und dem Rüstzeug einer standardisierten Rhetorikanalyse. Dies gilt für die den Unterricht bestimmenden Prüfungsanforderungen in Deutsch, den Fremdsprachen, aber auch für historische und gesellschaftswissenschaftliche Fächer. Wichtig ist dabei die inhaltliche Reproduktion kritischen Denkens, wie es ab Mitte des vorigen Jahrhunderts in Soziologie und Sozialpsychologie entwickelt wurde.

Gerade in den modernen Fremdsprachen ist der didaktische Ansatz funktional: Alltagssprache soll beherrscht werden, Alltagssituationen sollen bewältigt werden. Das Dogma des strikten Unterrichtens in der Zielsprache schließt Reflexion durch Übersetzung und damit Bewusstsein sprachlicher Differenzen zwischen Fremd- und Muttersprache aus.

Der Grammatik-Unterricht in der Muttersprache bleibt in der Folge relativ erfolglos. Was früher wie selbstverständlich durch Übertragung der lateinischen Grammatik auf die deutsche an Strukturbewußtsein erworben wurde, fällt weg. Benennung und Unterscheidung von Phänomenen der Lexik und Syntax werden oft auch in der Sekundarstufe trotz häufiger Wiederholung nicht beherrscht.

Literaturbezogener Unterricht findet eher selten statt, ist auch durch den Schwierigkeitsgrad der Texte kaum mehr möglich. Der Trend zum Zweitbuch scheint sich nicht durchzusetzen. Lyrik ist nur im Kontext der Rhetorik-Analyse interessant und in den Fremdsprachen ein Fremdkörper. Methoden wie Auswendiglernen sind gar völlig obsolet. Schillers »Glocke« ist verstummt. Die historische Dimension einer Sprache kann weder in der Muttersprache noch in der Fremdsprache erfasst werden und wird, wenn überhaupt, durch an die Gegenwartsprache angepasste, vereinfachte Texte umgangen.

Ein emotionales Hauptmotiv für die Auseinandersetzung mit Fremdsprachen fällt weg, weil das Bewusstsein gerade für das Fremde und Interessante ausfällt. Das Einpauken des Metro-Planes für Paris, London oder Madrid kann nicht die Faszination eines Gedichtes von Rimbaud, Coleridge oder Gongora ersetzen, zumindest nicht für die emotionalen Bedürfnisse eines Heranwachsenden. Damit folgt die Sprachvermittlung der zunehmenden globalen Vereinheitlichung der Kulturen überhaupt. Ein Einkaufscenter in Lissabon sieht nicht mehr anders aus als das in Oberhausen. Das war noch vor einigen Jahrzehnten anders.

Fazit: Der Unterricht in Mutter- und Fremdsprache stützt sich nicht mehr gegenseitig. Erstaunlicherweise ist das besonders fatal für die korrekte Beherrschung der Muttersprache. Häufig wird eine zwar restringierte Grammatik der Fremdsprache noch besser beherrscht als die der Muttersprache, die sich weitgehend chaotisiert.

Ein immer wieder angeführtes, aber kaum verstandenes Phänomen des alten, von Humboldt geprägten Gymnasiums ist, dass ein fast monothematisches, auf alte Sprachen und alte Geschichte abhebendes Curriculum, von Mathematik und wenigen naturwissenschaftlichen Einsprengseln abgesehen , die Voraussetzung für den Bildungserfolg in verschiedensten Bereichen darstellte: Die Absolventen reüssierten nicht nur als Philologen und Philosophen, sondern auch als Naturwissenschaftler, Beamte, Industrielle oder Militärs, ohne dass sich das Gymnasium wie heute schon in spezifische Interessensbereiche auffächerte. In den damaligen Inhalten muss also eine Form der Persönlichkeitsförderung gelegen haben, die erfolgreich diversifizierbar war oder ist und mit zu den beeindruckenden Erfolgen der deutschen Natur- und Geisteswissenschaft zum Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts beigetragen hat.

Dazu kommt ein kaum mehr erreichtes Niveau der literarischen Produktion in diesem Zeitraum. Namen zu nennen ist hier wohl überflüssig. Die kulturell prägenden Milieus der Epoche waren polyglott. Wissenschaftssprache war häufig noch Latein. Man denke auch an die sprachliche Internationalität des Habsburgerreiches oder die hugenottisch-jüdische Tradition des damaligen Berlin und Ähnliches. Hinzu kommt immer der damals noch virulentere Regionaldialekt als Hintergrund der Hochsprache. Kurz: Ein gebildeter Mensch in dieser Epoche musste immer übersetzen. Diese Tätigkeit erweiterte das Verständnis von Bedeutungsdifferenzen im Bereich der Lexik und führte unweigerlich zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der ästhetischen Wirkung verschiedener Sprachstile. Anzumerken ist, dass nicht die wenigsten Literaten auch Übersetzer waren: Goethe beispielsweise beschreibt in »Dichtung und Wahrheit« ausführlich seine Begegnung mit alten und neuen Sprachen in seiner Frankfurter Zeit und betätigte sich auch als Übersetzer, beispielsweise Diderots.

Es könnte sich lohnen, sich zum Verständnis der aktuellen Sprachprobleme mit den Sprachtheorien Humboldts zu befassen. Zwar hat dieser seine entscheidenden Schriften zur Sprache erst nach seiner Tätigkeit als Bildungsreformer in Preußen verfasst, aber allein das offensichtliche Funktionieren seines Bildungsmodells macht seine Denkansätze zur Linguistik schon interessant. Dabei soll es hier nicht um eine wissenschaftlich Auseinandersetzung mit Humboldts Sprachtheorie gehen, sondern um ein Verständnis seiner Grundtheoreme, die später mit denen Noam Chomskys vergleichend erweitert werden sollen.

Ein Zitat von zentraler Bedeutung soll Humboldts Auffassung der Sprache verdeutlichen: Sprache »ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen.« (W. von Humboldt, »Schriften zur Sprache« Stuttgart 1995, S. 36, Reclam). Dieser einfache Satz ist hochgradig interpretationsbedürftig. Sprache ist eben nicht ein tradiertes, funktionales Kommunikationsmittel, sondern das Ergebnis von »Arbeit«, also eines Prozesses. Sie ist, wie Humboldt sagt, kein fertiges Werk (Ergon) sondern das Ergebnis einer Tätigkeit (Energeia), und zwar einer Aktivität des Geistes. Gemeint kann hierbei nicht der menschliche Geist sein, denn dieser setzt, um sich seiner selbst inne zu werden, Sprache schon voraus. Humboldt formuliert das so: »Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache, um aber die Sprache zu erfinden müsste er schon Mensch sein.« (op. cit. S. 241) Der Geist, der am Laut arbeitet, ist also nicht oder nur eingeschränkt menschlicher Geist. Und der Gedanke oder die Gedanken, die die artikulierten Laute ausdrücken sollen, müssen vorsubjektiv im Weltganzen existent sein. Geist wäre also das Erzeugende, ein aktives Ingrediens des Weltganzen, das in der Sprache als artikulierter Laut durch den Menschen im Gedanken objektiviert wird. Geist wirkt auf den Stoff der Laute formend in einem analogen Verhältnis zu dem, wie er sich in der Objektwelt ausdrückt.

Man merkt diesen Beschreibungen eine gewisse Selbstreflexivität an, die sich notwendig aus der Untrennbarkeit des Begriffs des Geistes, der Objektwelt, die er prägt, und der Gedanken, die sie erfassen und symbolisieren, ergibt. Wichtig ist, dass Humboldt Sprache nicht als konventionelles Zeichensystem sieht, das das Kind sich im sozialen Kontext aneignet und das quasi als Lautsystem beliebigen Charakter hat, sondern dass er hinter der Sprache eine formende Kraft annimmt, die den Sprachstoff quasi plastifiziert. Diese formende Kraft dürfte analog zu Chomskys LAD (language aquisitive device) aufzufassen sein.

Bezieht man diese hochtheoretischen Überlegungen auf das Thema der Sprachförderung, so wird deutlich, dass die meisten Methoden, die in Form eines Sprachdrills exekutiert werden, lediglich auf die Verstärkung der Stoffseite der Sprache abzielen, nicht aber die formende Energie im Auge haben, welche zunächst einmal außerhalb des gegebenen Sprachkörpers liegt. Konkret gesagt: Alle Arbeitsblätter, Lückentexte und Diktate, alles wiederholende Memorieren von Regeln ist lediglich Verfestigung des Sprachstoffes und nicht Förderung der Sprachproduktion.

Sprache bildet sich also nicht nur durch »Nachplappern« an der Umwelt, sondern es wird ein System vorausgesetzt, das sie erst impulsiert und konfiguriert. Auf die Sprachpädagogik bezogen stellt sich damit die Frage, wie dieses System im Individuum aktiviert und gestärkt werden kann.

Chomsky geht bei seinem Konzept des LAD davon aus, dass ein Kind für den Prozess des Spracherwerbs über angeborene Strukturen verfügt, die den aus der menschlichen Umwelt andrängenden Laut- und Sprachstoff in immer komplexer werdenden Formen verarbeiten. Dabei ist ein vorbewusstes System von sich transformierenden Grundstrukturen oder Universalien, die Sprache und Welt gleichermaßen prägen (Subjekt, Objekt, Verb), wirksam. Vereinfacht gesagt: »Aus ›da, Auto, brumm, aua!‹ wird ›da könnte ein Auto kommen und mich überfahren.‹«

»Device« selbst bedeutet ungefähr »Werkzeug«, »Gerät« oder allgemein eine Art von sinnvoller Struktur zu Erreichung eines Ziels. Der Begriff ist selbst unscharf, wirft aber die Frage nach dem Benutzer oder Handhaber dieses »Werkzeugs« und seiner Entstehung oder Geschichte auf. Das LAD ist dem Kind angeboren, logischerweise ist das Kleinkind aber nicht sein Konstrukteur. Auch ist das LAD nicht statisch, sondern entwickelt die Sprachkompetenz durch mehrere sich systematisch ablösende Phasen vor allem der Syntax, die in sich logisch von immer komplexeren Strukturen abgelöst werden und sich weiterentwickeln.

Es scheint evident, dass das Konzept des LAD einen markanten Bezug zu Humboldts Geistbegriff aufweist, wobei dieser in der Vorstellung der »Arbeit des Geistes« sogar noch dynamischer wirkt. (Hilfreich könnte für die Theoriebildung hier das Konzept des »morphogenetischen Feldes« sein, wie es von dem englischen Biologen Rupert Sheldrake entwickelt wurde.)

»Feld« ist hier ein nicht im Einzelkörper fixierter Wirkungszusammenhang, der quasi über die Gattung auf die Individuen einer Art zurückwirkt. So ist das LAD ein Werkzeug der Gattung Mensch, das von Einzelindividuum zu Ausprägung seiner Sprache benutzt wird.

Sprache wäre also auch Produkt einer Art außermenschliches Feldes, das auf den konkret Sprechen lernenden Menschen wirkt. Erfahrungsgemäß lässt die Prägung durch die Strukturen der generativen Transformationsgrammatik mit zunehmendem Alter nach. Einfache Satzstrukturen werden noch wie selbstverständlich erlernt, beim Dativ und Akkusativ oder bei der indirekten Rede versagt allmählich der Automatismus der Sprachstrukturierung.

Die gestellte Frage nach Aktivierungsmöglichkeiten des spracherzeugenden Feldes macht eine Auseinandersetzung mit Humboldts Geistbegriff unabdingbar. Die Untiefen dieses Begriffes in diesem Text auszuloten, ist sicherlich unmöglich, aber einige Überlegungen sollen doch angestellt werden: »Geist« ist, hält man ihn überhaupt für real denkbar, eher eine »Energie«, die vom Individuum realisiert werden muss, damit sie zur Wirkung gelangt. Als überindividuelles Phänomen dürfte er auch jenseits von zeitlicher oder räumlicher Beschränkung wirksam sein. Geist könnte also nicht ahistorisch, sondern transhistorisch sein und setzt eine emotional gesättigte Wahrnehmung historischer Zusammenhänge sowie ein ästhetisches Einfühlungsvermögen in geschichtliche Realitäten jenseits von reiner Faktizität voraus.

Wenn ich also diesen von Humboldt vorausgesetzten und auf den Sprachbau einwirkenden Geist aktivieren will, muss ich Differenz-Erlebnisse zu anderen Sprachen oder zu historischen Schichten der Muttersprache schaffen. Ich muss die eindimensionale Auffassung von Sprache als plattem Kommunikationsinstrument überwinden, sonst laufe ich Gefahr, Marcuses »eindimensionalen« Menschen zu produzieren. Greift der Geist oder das spracherzeugende Feld nicht mehr genügend in den Sprachkörper ein, dann entsteht nicht jener Assoziationsreichtum, der sich in moderner Lyrik findet, sondern lediglich die defizitäre Alltagssprache platter Schulaufsätze.


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Am Münster zu Münster in Westfalen stand vor Jahren der Satz »Der Geist sprayt, wo er will Das ist sicher richtig, aber man kann ihm entgegenkommen oder ihm eher davonlaufen.

Akzeptiert man dies, so müssen einige unangenehme Fragen gestellt werden: Wie steht es mit der Lektüre historischer Texte im Deutschen und ihrer sprachlichen Aufarbeitung? Ich glaube kaum, dass noch irgendwo das Nibelungenlied oder der Parzival gelesen wird (mit zumindest einem Versuch einer Begriffsdeutung mittelhochdeutscher Termini).

Tritt kein Umdenken in der Sprachdidaktik ein, dann dürften alle von oben verordneten, hilflosen Versuche, des Übels Herr zu werden, scheitern. Man muss nicht immer bloß nicht von Humboldt sprechen: Man darf ihn auch lesen! Doch natürlich könnte auch eine Rückbesinnung auf Ansätze der romantischen Sprachwissenschaft den Sprachverfall nicht schlagartig umkehren. In der Schweiz werden die offensichtlich sehr anspruchsvollen Maturitätsschulen lediglich von 15% eines Schülerjahrgangs besucht. Man gewinnt dennoch nicht den Eindruck, dass die Eidgenossenschaft in Intelligenz-Ermangelung zusammenbricht, sondern sorgt sich eher um die Bundesrepublik mit ihren 50% Abiturienten, die, wie Untersuchungen zeigen, einen ruhigen Job in einer nur allzu oft als Produktivitätsbremse agierenden Verwaltung anstreben, wo man sie hoffentlich nicht zum Verfassen eigener Texte nötigen wird. Weiterführendes und Tiefergehendes zu den Hintergründen der Bildungsmisere: Josef Kraus - 50 Jahre Umerziehung WERKREIHE #06


 

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