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Nicholas P. Sargen: PUTINS STRATEGIE, EUROPA UNTER DRUCK ZU SETZEN, GERÄT INS WANKEN

Als Russland im Februar letzten Jahres in die Ukraine einmarschierte, rechnete Präsident Wladimir Putin mit einem raschen militärischen Sieg, um den Westen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Es wurde jedoch bald klar, dass er sich verkalkuliert und die Entschlossenheit der Ukraine unterschätzt hatte. Putin ging daraufhin zu der Strategie eines langen Krieges über, der mit der Zeit die Moral der ukrainischen Bevölkerung untergraben und die Unterstützung der europäischen Länder verringern würde.



Der Russische Präsident Wladimir Putin und Energieminister Nikolai Shulginov. www.kremlin.ru


Putins Strategie für Europa bestand darin, die Energiepreise durch eine Verknappung der Erdgaslieferungen in die Höhe zu treiben. Die russischen Gasexporte über Pipelines nach Europa sanken 2022 auf einen postsowjetischen Tiefstand, als die EU ihre Importe aufgrund des Ukraine-Konflikts drosselte und eine wichtige Pipeline durch eine Explosion beschädigt wurde.

Viele Beobachter sind der Ansicht, dass sich die europäische Wirtschaft bereits in einer Rezession befindet, die sich in diesem Winter wahrscheinlich noch vertiefen wird. Diese Einschätzung muss jedoch möglicherweise revidiert werden, da die Preise für Erdgas unerwartet auf das Niveau vor dem Ukraine-Krieg gefallen sind. Der europäische Referenzpreis für niederländisches TTF-Gas liegt um mehr als 75 % unter dem Rekordniveau von 350 Euro/MWh im August, da die überdurchschnittlich vollen Lagerbestände die Sorgen über Engpässe zerstreut haben.


Diese Überraschung hat bei den Prognostikern ein Rätselraten darüber ausgelöst, wie es dazu kommen konnte und mit welcher Wahrscheinlichkeit dieser Zustand andauern wird.

Über einen der Faktoren, die zum Preisrückgang beitragen, herrscht allgemeine Einigkeit: Europa erlebt seit Oktober ein ungewöhnlich warmes Wetter, wobei die Temperaturen in der nordwestlichen Region fast 8,5 Grad über dem langfristigen Durchschnitt liegen. Javier Bias von Bloomberg berichtet, dass der Rückgang der Energienachfrage aufgrund der wärmeren Temperaturen 13 % unter dem 30-jährigen Durchschnitt liegen könnte. Dies hat es den europäischen Ländern ermöglicht, die Energiespeicherung auf 83 % der Kapazität auszubauen, ein Wert, der 30 Prozentpunkte über dem Niveau von 2021 liegt.


Die große Unbekannte ist natürlich, wie lange die Wärmeperiode anhalten wird. Die gute Nachricht ist, dass die Heizsaison in Europa nächste Woche fast zur Hälfte vorbei ist. Dennoch könnten die Preise in die Höhe schnellen, wenn das Wetter kälter wird. Einige Rohstoffanalysten erwarten, dass 2023 ein weiteres starkes Jahr für Rohstoffe sein wird, da die Nachfrage nach Energie wieder ansteigt, während das Angebot knapper wird.


Was mit den Energiepreisen geschieht, ist jedoch mehr als reines Glück. Es belegt auch, wie der Anpassungsprozess in marktorientierten Volkswirtschaften funktioniert. Als die Energiepreise nach dem Einmarsch Russlands in die Höhe schnellten, ging die weltweite Energienachfrage zurück, und Haushalte und Unternehmen wichen von Erdgas auf billigere Energie aus.


Darüber hinaus hat Europa wichtige Schritte unternommen, um Erdgas und andere Energieformen einzusparen. In einem Artikel der Financial Times werden die Opfer dokumentiert, die die europäischen Länder bringen, um die Auswirkungen des russischen Drucks zu begrenzen. Dazu gehören: (1.) Reduzierung der Saunabesuche in Finnland; (2.) Dimmung der Lichter und Absenken der Temperaturen in öffentlichen Räumen in Deutschland, Frankreich, Österreich und anderen Ländern und (3.) die Rückbesinnung auf die Methoden zur Energieeinsparung in Osteuropa während der Sowjetära. Unternehmen und Haushalte sind auch auf andere Energiequellen umgestiegen, u.a auf die verstärkte Nutzung von Kohle in Deutschland, von Kernenergie in Frankreich und von Windenergie in der gesamten EU.


Insgesamt wird der Rückgang des Erdgasverbrauchs in ganz Europa auf etwa 15 % in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 geschätzt, was im Einklang mit der Verpflichtung steht, die die EU-Regierungen im Juli eingegangen sind.


Der wichtigste Faktor auf der Angebotsseite sind die verstärkten Einfuhren von Flüssigerdgas (LNG). Hauptlieferant waren die Vereinigten Staaten, die sich zum weltweit größten Exporteur von LNG entwickelt haben. Nach Angaben der Energy Information Agency gingen in der ersten Hälfte des Jahres 2022 fast zwei Drittel der US-LNG-Exporte in die EU und das Vereinigte Königreich.

Ermöglicht wurden diese Lieferungen durch einen erheblichen Anstieg der Importkapazitäten der EU und des Vereinigten Königreichs; diese sollen bis 2024 gegenüber 2021 um ein Drittel zunehmen. Die europäischen Länder haben die Entwicklung von zuvor stillgelegten Re-gasifizierungs-Anlagen an bestehenden Terminals reaktiviert und seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine Modernisierungen vorgenommen.


Die Auswirkungen der niedrigeren Gaskosten, der schwächeren Nachfrage und des verstärkten Rückgriffs auf Alternativen zeigen sich besonders deutlich bei den stark gesunkenen Strompreisen. So sind die deutschen Preise, die im August auf 700 Euro pro MWh angestiegen waren, in der vergangenen Woche in den negativen Bereich gefallen. Das bedeutet, dass die Erzeuger die Verbraucher für die Abnahme ihrer Stromerzeugung bezahlen mussten.


Was bedeutet das nun für Europa? Meiner Meinung nach hat Europa unabhängig von der Entwicklung der Erdgaspreise eine dringend benötigte Atempause erhalten, um den Winter zu überstehen. Zwar ist eine Rezession nach wie vor wahrscheinlich, da die EZB ihre Politik weiter strafft, doch dürfte dies die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sie nicht schwerwiegend ausfällt. Es bedeutet jedoch nicht, dass sich Europa auf seinen Lorbeeren ausruhen sollte, denn es könnten neue Probleme auftauchen.


An der politischen Front werden diese Entwicklungen die Entschlossenheit Europas gegenüber der russischen Aggression stärken. Der eindeutige Verlierer ist Wladimir Putin. Er sieht sich nicht nur damit konfrontiert, dass die russischen Truppen dem ukrainischen Widerstand auf dem Schlachtfeld unterlegen sind, sondern auch damit, dass seine Strategie, der Ukraine und Europa einen harten Winter aufzuzwingen, in die Brüche geht. Tatsächlich scheint das frühlingshafte Wetter in Europa Putins Winter der Unzufriedenheit zu sein.


Über den Autor: Nicholas Sargen, Ph.D., ist Wirtschaftsberater bei Fort Washington Investment Advisors und arbeitet mit der Darden School of Business der Universität von Virginia zusammen. Veröffentlicht hat er die folgenden Bücher: JPMorgan’s Fall and Revival. How the Wave of Consolidation Changed America’s Premier Bank. Basingstoke/Hampshire, Großbritannien (Palgrave Macmillan) 2020. Investing in the Trump Era. How Economic Policies Impact Financial Markets. Basingstoke 2019. Global Shocks. An Investment Guide for Turbulent Markets. Basingstoke 2016.



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