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Philipp Mack: EINE REPLIK AUF DIE SIEBEN GEDANKENBLÖCKE ZUR PALÄSTINA-FRAGE

Herrn Sacks Gedankenblöcke zur Palästina-Frage habe ich mit großem Interesse gelesen, wie so vieles, was seit dem 7. Oktober 2023 über den Nahostkonflikt veröffentlicht wurde. Dass der Verfasser ein studierter Mensch und scharfsinniger Beobachter ist, bezweifle ich nicht. Einige seiner Gedanken sind durchaus interessant und lesenswert.

 

Dennoch stechen innerhalb seiner Argumentation bedeutende Fehlannahmen hervor, bei denen es sich zum Glück nicht um jene manisch wiederholten Verkürzungen handelt, durch die Israel im Verständnis der Menschen zu einer Unternehmung reduziert werden soll, die man bei zu hohen Kosten einfach auflösen kann. Herr Sacks nähert sich dem Thema feinsinniger; umso problematischer sind jedoch die Fehler in seiner Argumentation.

 

Zuerst will ich auf Herrn Sacks These eingehen, der Zionismus habe sich für das Judentum keineswegs als heilsame Idee erwiesen, nicht zuletzt, da die in Israel lebenden Juden die gefährdetsten der Welt seien. Doch wie soll eingeschätzt werden, ob der Zionismus und die Gründung eines jüdischen Staates heilsam waren? Sprechen wir von einem physischen Heilen, oder eher einem psychischen, einem seelischen?


Etwa 6 Millionen Juden vernichteten die Nationalsozialisten, doch demographisch hat sich das Judentum mittlerweile fast erholt[1] – natürlich auch in und durch Israel, ein Land, in dem das jüdische Volk leben, arbeiten und sich fortpflanzen kann (die israelische Geburtenrate gehört zu den höchsten in den westlichen Industrienationen).  


Und seelisch? Ganz besonders unter diesem Gesichtspunkt ist ein echter Heilungsprozess doch naheliegend. Schließlich war es den Juden erst durch die Staatsgründung Israels möglich, einige der schmerzhaftesten Lektionen aus dem Holocaust umsetzen: Bis 1948 gab es keinen Staat, der sie verteidigte, keine Armee, die den Feind bekämpfte, und keine Botschafter, die auf nationaler oder internationaler Ebene das Wort ergriffen.


In den dunklen Jahren des Holocaust standen die Juden auf verlorenem Posten, waren vorwiegend zum Opferdasein verdammt; eine zweifellos traumatisierende Erfahrung, eine Verletzung, die, so würde ich vermuten, nur dann heilen kann, wenn alles darangesetzt wird, nicht mehr Opfer, sondern wehrhaft zu sein, nicht mehr vereinzelt, sondern geschlossen zu stehen. Kaum vorstellbar, dass die vom Zionismus vorangetriebene Ermächtigung der Juden, jene Erfahrung der Selbstwirksamkeit, keine heilsame gewesen sein soll.


Hier sei eingeräumt, dass die vielschichtige Frage der Heilung des Judentums für Außenstehende wie mich kaum zu beantworten ist; dennoch halte ich es für gewagt, dem Zionismus schlichtweg die Heilsamkeit abzusprechen.


Wie sieht es mit dem Argument aus, die Juden Israels seien nun die gefährdetsten der Welt? Tatsächlich wurde den rassistischen und religiösen Grundlagen des Antisemitismus durch die Gründung Israels eine politische hinzugefügt. Nun kann sich der Feind auf ein konkretes politisches Gebilde konzentrieren. Außerdem ist es leichter, Millionen von Juden in einem Gebiet von der Größe Hessens mit Raketenfeuer einzudecken, als über New York, Berlin, Paris und London verstreut lebende Juden anzugreifen.

 

Allerdings bleibt außen vor, dass es sich hierbei um ein rein hypothetisches Gedankenspiel handelt, und zwar deshalb, weil wir nie wissen werden, wie gefährdet wie viele Juden wo auf der Welt wären, hätten die Israelis ihren Staat nicht gegründet. Vielleicht hätte man sich in den 60ern, 70ern, oder später ja erneut auf sie gestürzt – in New York, in Berlin, in Paris oder im Nahen Osten. Gerade, weil sie keinen Staat gehabt hätten, keine IDF und keinen Mossad; gerade, weil sie die offensichtlichen Lehren aus der Judenvernichtung nicht gezogen respektive umgesetzt hätten und somit eine der Weltgeschichte schutzlos ausgelieferte Gemeinschaft geblieben wären. Wer kann es also wissen? Wir jedenfalls nicht.

 

Bis hierhin, könnte man meinen, ist alles eine Frage der Interpretation, eben Ansichtssache. Im zweiten Gedankenblock werden allerdings einige Punkte angesprochen, die sich den zuvor erwähnten Verkürzungen zumindest annähern: Die Juden hätten sich das Land ohne Rechtfertigung im Völkerrecht und ohne die Verbreitung eines „seligmachenden“ Glaubens oder einer fortschrittlichen Zivilisation genommen.

 

Ich möchte auf den zivilisatorischen Aspekt eingehen: Israel hat vorgeführt, wie man ein karges Land zum Blühen bringt. Wer das für abgedroschene hasbara hält, kann es sich gerne selbst ansehen. Und falls man sich nicht in eine hart-linke critical-whiteness-Geringschätzung der jüdisch-christlichen Zivilisation und ihrer Errungenschaften versteigert, sollte auch offensichtlich sein, dass Israel als einziges nahöstliches Land die Institutionen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Frauenrechte und Akzeptanz Homosexueller hochhält und als Angebot in die Region trägt.

 

Dass sich immer mehr nahöstliche Staaten Israel annähern – man bedenke die Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien sowie die Abraham-Abkommen und die saudisch-israelische Annäherung –, mag weniger mit westlichen Werten und mehr mit technologischem Fortschritt wie z.B. Wasserentsalzungsanlagen[2] und mit der gemeinsamen Bedrohung durch den Iran zusammenhängen – dennoch beweist es, dass viele regionale Akteure wenig an der israelischen Zivilisation auszusetzen haben. Barbaren würde man sich jedenfalls eher ungerne annähern.    

 

Was den völkerrechtlichen Aspekt betrifft, sollte es ausreichen, auf die Anerkennung Israels durch die UN sowie auf das britische Mandat für Palästina hinzuweisen. Dass Herr Sacks behauptet, die Briten hätten ihr Mandat „missbraucht[e]“, indem sie die Gründung einer jüdischen Heimstätte auf Kosten der einheimischen Bevölkerung vorantrieben, ist nicht nachvollziehbar. Zum einen forderte das Mandat explizit die Umsetzung der von der britischen Regierung abgegebenen Erklärung, in Palästina den Aufbau einer jüdischen Heimstätte zu unterstützen. Zum anderen handelte es sich auch bei vielen im Mandatsgebiet Palästina lebenden Juden um Einheimische, da die ersten jüdischen Einwanderungswellen bereits im 19. Jahrhundert anrollten und auch sonst ununterbrochen Juden im Gebiet Palästina lebten. 

 

Der Fairness halber sei noch erwähnt, dass Herr Sacks im Detail auf den völkerrechtlichen Aspekt eingeht, indem er beispielsweise auf die unklaren Staatsgrenzen und das damals noch unklar definierte Staatsvolk hinweist. Auch merkt er kritisch an, dass die Waffenstillstandslinien als Staatsgrenzen anerkannt wurden.

 

Dass Staatsgebiet und -volk bei der Entstehung Israels noch unklar waren, kann man den Juden Palästinas aber nicht vorwerfen. Die palästinensischen Araber hatten die Teilungspläne von 1937[3] und 1947 abgelehnt, was keine klaren Bedingungen schaffte. Dieser Schritt war womöglich der Hoffnung geschuldet, eine Staatsgründung verhindern zu können.

 

Nach dem Pogrom an den Juden Hebrons 1929[4], der gewalttätigen arabischen Revolte 1936, dem Pogrom an Bagdads Juden 1941 (farhud)[5], dem Beginn des Bürgerkriegs 1947 und natürlich dem Holocaust, dessen weitere Umsetzung im Nahen Osten der Mufti von Jerusalem und Hitler-Verbündete Mohammed Amin al-Husseini[6] anstrebte – nach alledem dürfte der Jischuw die aggressive Ablehnung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina durchaus als existenzielle Bedrohung erkannt haben.

 

Da sich die Briten am Ende schleunigst aus dem Scherbenhaufen ihres Mandatsgebiets zurückzogen und sich die arabischen Völker diplomatisch und mit Waffengewalt gegen eine jüdische Heimstatt stemmten, waren die Juden dort auf sich allein gestellt. Sie taten das einzig nachvollziehbare: Sie gründeten ihren Staat, sie schafften Fakten, bevor die historische Gelegenheit verpuffte oder von Panzern überrollt wurde.  

 

Es gibt so vieles, was noch über diese Gedankenblöcke gesagt werden könnte. Ich beschränke mich jedoch auf einen letzten, besonders wichtigen Aspekt – einen, mit dem der Konsument von Schriften, Podcasts und Videoschnipseln zum Nahostkonflikt regelrecht bombardiert wird: die angebliche Nachvollziehbarkeit des palästinensischen Terrors und sein klarer Zusammenhang mit territorialen Verlusten und Besatzung.

 

Um dem üblichen Vorwurf der Ignoranz zu begegnen, will ich folgendes einräumen: Natürlich will sich der Sohn für den gedemütigten Vater rächen, natürlich kommt nach der Niederlage der Revanchismus, natürlich folgt auf den Schmerz der Hass. Immer und bei allen gleichermaßen? Nein, das vielleicht nicht; dennoch sind diese Regungen nicht palästinensisch, sondern allgemein menschlich. So viel steht fest.

 

Aber: Wie ich Herrn Sacks lese, erklärt er den palästinensischen Terrorismus damit, dass im 6-Tage-Krieg die letzten palästinensischen Territorien verspielt worden seien. Das erklärt zwar so einiges, aber eben nicht, weshalb es den Terror auch schon vor dem 6-Tage-Krieg und sogar vor der Staatsgründung Israels gab. Noch weniger erklärt es, weshalb der Raketenterror und das Schlachten am 7. Oktober von einem Gebiet ausgingen, das die Palästinenser seit 2006 selbst regieren, in dem es keinen einzigen jüdischen Sieder mehr gibt und regulär auch kein israelisches Militär. Wenn überhaupt, dann handelt es sich beim Gaza-Streifen um zurückerlangtes palästinensisches Territorium. Dieser Umstand scheint den Terror, den bewaffneten Kampf gegen Soldaten und Zivilisten, allerdings keineswegs abzumildern. Das Gegenteil ist der Fall.

 

Unter diesem Gesichtspunkt muss auch die Annäherung der Hamas an den Iran verstanden werden. Diese Entwicklung hat wenig mit der Ausweitung der von Israel beherrschten Gebiete zu tun; wie gehabt, aus Gaza hat sich Israel zurückgezogen, aus dem Süd-Libanon übrigens ebenfalls, und den Sinai gab Israel für den Frieden mit Ägypten auf.

 

Diese Annäherung an das Mullah-Regime ist vielmehr damit zu erklären, dass sie eine besonders aussichtsreiche Allianz darstellt, und zwar für all jene, die nicht nur Israels Besatzung im Westjordanland beenden wollen, sondern die Besatzung des gesamten Gebiets Palästina, denn so interpretieren die Radikalen die Existenz Israels: als illegitime Besatzung von jedem Quadratzentimeter zwischen Mittelmeer und Jordan. Dies ist keine neue Interpretation, die sich ausschließlich durch die Siedlungspolitik und die vielen Opfer des Nahostkonflikts erklären lässt. Vielmehr handelt es sich um eine zerstörerische Hoffnung, die bereits an dem Tag existierte, als David Ben-Gurion den Staat Israel gründete.

        


[1] „80 Years After Holocaust, World’s Jewish Population Has Yet to Recover“ (2022). Jewish Press. URL: https://www.jewishpress.com/news/israel/80-years-after-holocaust-worlds-jewish-population-has-yet-to-recover/2022/04/27/

[2] „The Geopolitics of Water: How Israel Will Leverage Desalination in Its Regional Normalization Efforts“ (2024). Rane. URL: https://worldview.stratfor.com/article/geopolitics-water-how-israel-will-leverage-desalination-its-regional-normalization-efforts 

[4] „The Hebron Massacre“. Jewish Virtual Library. URL: https://www.jewishvirtuallibrary.org/the-hebron-massacre-of-1929

[5] „Das vergessene Pogrom von Bagdad“ (2021). Deutschlandfunk. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/80-jahre-farhud-das-vergessene-pogrom-von-bagdad-100.html

[6] „Der Mufti von Jerusalem und die Nationalsozialisten – Eine politische Biographie Amin el-Husseinis“ (2008). Damals. URL: https://www.wissenschaft.de/rezensionen/buecher/der-mufti-von-jerusalem-und-die-nationalsozialisten-eine-politische-biographie-amin-el-husseinis/


Das Titelbild zeigt die Ankunft des jüdischen Flüchtlingsschiffs Exodus im Hafen von Haifa am 20. Juli 1947.


Über den Autor: Philipp Mack ist Psychologe und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Nahost. Er arbeitet als Führungskraft in einem Großunternehmen. Davor verdingte er sich bei einer inter-parlamentarischen Organisation sowie in der Brüsseler „EU-Bubble“.



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