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Ralf Rosmiarek: DER TURM UND UWE TELLKAMP. EIN NACHTGEDANKE

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin? Zwei Staaten vergehen. Neues formt sich, Treva geheißen. Traum? Realität? Eine Vermischung jedenfalls mit ihren An- und Zumutungen, dazu eine Verunsicherung und auch ein Ahnen. Die eigene Befindlichkeit blättert sich auf. Schon ist man inmitten des Romans. „Was ist geschehen, woher diese Düsternis?“, so heißt es dann auch bald bei Uwe Tellkamp. Denn die Schönheit der Sprache und die Freiheit der Gedanken – sind sie nicht die täglich benötigten Grundnahrungsmittel eines jeden? Jedenfalls eines jeden, dem an der Selbstformung seines Lebens gelegen ist, der es nicht Bescheidwissern und Therapeuten oder gar politischem Personal überlassen will. Wieviel mehr aber sind sie Grundlage eines Dichters? Seit längerem jedoch wird ein Engpaß an diesen Grundversorgern, die eben beileibe keine Genußmittel sind, bemerkbar. Es mangelt immer öfter an der Freiheit der Sprache, an der Freiheit der Kunst wie der Wissenschaft, zudem an der Freiheit der Meinung. Desaströse Verödungen. Die Zunahme von kuratierenden Diätvorschriften lassen sie sichtbar werden, die ersten „Vergiftungsmerkmale“. Die sich darüber einstellende „große Gereiztheit“ nimmt dann nicht mehr wunder. Die mutwillig erzeugte Begrenzung der Sprache ist zu unterscheiden von ihrer immanenten Begrenzung, der einzigartige Schönheit (noch immer) abgerungen werden kann.



Johann Richard Seel: Der Eintritt der Censur in Deutschland (1842)


Immer wieder tauchten sie urplötzlich auf, diese einzigartigen literarischen Begabungen, die eine Ingeborg Bachmann Staunen machte: „Einige hatten Worte zur Verfügung, die sie wie Leuchtkäfer in die anbrechende Nacht schickten und über die Grenzen“. Und Aufgabe des Literaten ist es nun einmal, das Unausgesprochene, das Unsagbare, das Verdrängte zu heben. Aufgabe des Literaten ist es zudem, sich gegen Vereinheitlichung wie Verluderung zu stemmen. Dazu ist ins Labyrinth zu steigen, dort ist den Verzweigungen und den Verästelungen nachzuspüren, wie es Uwe Tellkamp unternimmt. Doch zu bedenken ist immer auch: „Die Kohleninsel ein Labyrinth zu nennen wäre untertrieben, es gibt Labyrinthe auf mehreren vertikalen und horizontalen Ebenen.“


Von der Freiheit


Lustvoll konnte diese Spurensuche einst aufgenommen und unternommen werden, bar jeglicher Diskreditierungen oder Unterstellungen. Worte konnten „über die Grenzen“ gehen in der alten bundesdeutschen Republik. Buchstäblich sogar. Tabubrüche waren statthaft, standen nicht unter Generalverdacht. Notstandsgesetze waren hinreichend verpönt. Außenseiter konnten Außenseiter sein, der Querdenker galt etwas, mancher sah in ihm einen Fortschrittlichen, selbst eine liberale Partei gab es, die noch um die Freiheit als Grundlage allen Lebens wußte. Die Sehnsucht der Ostdeutschen hatte darin einen nicht unerheblichen Grund. Satt hatte man sie längst hier im Osten, diese Zweisprachenregelung. Hier öffentlich, hier privat, dieses Aufpassen-Müssen: „So was kann man denken für sich, aber so was kann man nicht öffentlich sagen“, wie es dann plötzlich auch „drüben“ Günter Grass zu Martin Walser sprach. Satt hatte man es, beständig zwischen den Zeilen lesen zu müssen. Man war im Osten auch des Manichäismus überdrüssig, den die Einheitsgenossen doch bei der politischen Konkurrenz im Westen ausmachten. Es galt vielen längst nicht (mehr) ausgemacht, daß das moralisch und politisch Wahre, Schöne, überhaupt das Gute nur hier zu finden sei, somit das Unwahre, Unschöne, vor allem Ungute allein auf der anderen Seite, bei „den anderen“ sich fand. Überzeugt war man stattdessen: „Es gibt doch ein System, das funktioniert, es ist das der Bundesrepublik.“


Doch heute? Ein Resignieren. Dauernd schallt und hallt es von irgendeiner Empörung. Das Gesagte sei verkehrt, nützlich schon gar nicht, es verletzt. Man ist angesichts der Verknappung des Grundnahrungsmittels „Freiheit“ auch dünnhäutiger geworden. Eines Wortes bedarf es nur und ein Verdacht darf fallen auf den Sprechenden. Hüte sich wer kann, ist das Motto. Distanz! Distanz dann das Mittel erster Wahl, schließlich ist man tolerant. Ursprünglich hatte Toleranz mit Tollheit nichts gemein. Dem Literaten gehen freilich die Bausteine verloren, entleert man Begriffe oder belegt sie mit einem Bannfluch. Wie sollte dem „Erzählerschlendrian“, von dem Alfred Döblin einmal sprach, dann aber begegnet werden, wenn die Worte abhanden kommen, die Bausteine unbrauchbar gemacht werden, denn schließlich: „man erzählt nicht, man baut“. Solch Verlust bleibt nicht folgenlos. Offensichtlich ist die Deformation der deutschen Gesellschaft kein neuartiges Phänomen. Schon Alfred Kerr betonte zu Zeiten der Weimarer Republik: „Die Deutschen bestehn aus Leidenschaft und politischem Defekt… Deutschlands Geschichte heißt: Spaltung. Scheelsucht; Hemmnis; Hass.“ Ein Auseinanderdriften scheint auch der Tellkamp-Romanfigur Fabian Hoffmann unübersehbar: „Wie aus einer Krise, keiner wisse so recht, wie, ein bisher friedliches Volk in Zank und Streit verfalle, sich spalte in Gut und Böse, in aufgeklärte Demokraten und Pack, wie Zeitungen tendenziös würden und es noch nicht einmal bemerkten, wie Kultur- und Medienschaffende ihre Leser oder Zuschauer zu erziehen sich anmaßten und es eine Kluft, plötzlich?, gebe zwischen der Politkaste und dem Volk, jedenfalls doch beachtlichen Teilen von beiden, wie die Auseinandersetzungen infolge von Wahrheitskrümmung, -unterdrückung, -steuerung, -färbung, auch infolge von lücken- und lügenhafter und blödsinniger Berichterstattung.“



Das vergessene Leben


Der Schriftsteller Uwe Tellkamp wittert ein „Gift“ am Werke: „die Tusche, die man für die Vertuschungen brauche, für die Abstreitungen bestimmter Sachverhalte, die Überschreibungen von im Grunde einfachen Wahrheiten“. Dieser Spur des Giftes zu folgen, seine Zusammensetzung zu ergründen, weckt die forschende Neugier: „diese Tusche interessiere ihn“, so schreibt er. Denn immerhin gilt es dem länger schon Vermißten, dem Leben, nachzuspüren. Immer aber ist dabei „der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen“ (Alfred Döblin). Denn waren da nicht einmal: „Die im Überfluss blühenden Rosen, die vollbeladenen Apfelbäume, die Kirschen und die Johannisbeeren, die duftenden Lilien, rankenden Bohnen, die Sonnenuntergänge abends am Fluss“? Waren da nicht, wie Cora Stephan mit Wehmut beschreibt: „Die Freunde, endlich wieder, die Umarmungen, das Gelächter, die Biergärten, die Radtouren. Schnarchende Katzen unterm Sonnenschirm, müde Hunde in der Hausecke, tobende Spatzenbanden im Birnbaum, unermüdlich jubelnde Amseln in wiegenden Baumwipfeln“?


Und überhaupt – die Amsel. So weiß Uwe Tellkamp: „Nicht die Nachtigall, ihr Lieben, die Amsel ist die Königin unter unseren Sängern, die Nachtigall trägt besser vor, aber ihr musikalisches Material ist dürftiger als das der Amsel … Die Amsel ist die bessere Komponistin, die Nachtigall liefert die bessere Vorstellung.“ Vielleicht reift dann in uns mehrheitlich die Überzeugung, „daß Schillers Ausspruch, die Kunst sei nur des Menschen Sache und komme nirgendwo sonst in der Natur vor, falsch ist“. Denn: „Die Amsel komponiere. Es gebe in den Melodien der besten Amselkomponisten oder Komponistenamseln ein Plus, das mit den Forderungen der Balz nicht zu erklären sei.“ Zu entdecken, zu sehen, zu hören, zu spüren ist das Leben aber auch angesichts der „Horden von Mauerseglern hoch am Himmel“, eines „Landregens“ und erfrischenden „Windes“. Dazu sind „Monde, in jeder Form, umtanzt von im Abendlicht rot schimmernden Federwölkchen“. Immer dazu auch der unverwechselbare „Geruch von frisch gemähtem Heu“, zu entdecken der „goldene Staub über den Getreideäckern, auf denen die Erntemaschinen bis spät in den Abend ihre Runden drehen und gelbe Strohballen verteilen“. Mehr oder weniger deutlich: „das Rauschen auf der Bundesstraße, das davon kündet, dass auf der Autobahn wieder einmal Verkehrsberuhigung stattfindet. Mehr als ein Glas Weißburgunder draußen am Gartentisch. Taumelnde Fledermäuse. Im Haus ein frisch bezogenes Bett“.



Schlammschlachten


Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …, wenn riskiert werden muß, daß mit getaner öffentlicher Äußerung sofort das Mißverstehen beginnt, ein gut organisiertes Mißtrauen dazu. Gegen alles, das sich nicht exakt entlang der eigenen Richtschnur bewegt. Gleich der Hyäne begibt sich der Kritiker in die Lauerstellung. Mancher beherrscht die Kunst der Beharrlichkeit und übt sich im Warten. Andere halten die Spannung nicht durch. Lange zehn Jahre auf einen Roman etwa warten zu müssen, ist oft überfordernd, da muß dann ein anderer durchs mediale Dorf getrieben oder ein Skandal initiiert werden. Ein Autor, der sich als Bürger versteht und mit kritischen Anmerkungen zur Migrationspolitik oder den sich verengenden Diskursräumen nicht hinterm Berg hält, bietet Angriffsfläche. Das ungehörige Hinterfragen ist ungehörig. „Inzwischen hat Tellkamp die Seiten gewechselt“, weiß etwa die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in der Welt am Sonntag und folgert: „Aus dem Aufrechten ist ein Rechter geworden“. Schlagworte genügen als Beleg in diesen moral- und haltungsstarken Tagen. Was überhaupt „rechts“ oder „links“ noch bedeuten könnte, bleibt dabei völlig offen. Mitschwimmen braucht das Reflektieren nicht. Kaum erstaunt es darum, wenn die WamS im Februar 2020 im Fall Tellkamp endlich zündeln will, deshalb „Suhrkamps Dilemma“ darstellen möchte, das im schwierigen Verhältnis zu Uwe Tellkamp und der Veröffentlichung des neuen Romans liegen soll. Terminverschiebungen der Veröffentlichung – alltägliches Verlagsgeschehen – werden als Zögern interpretiert, aber gut provozieren läßt sich mit der Frage: „Ist der Aufschub als Zeichen einer Entfremdung zwischen dem Traditionsverlag und seinem Autor zu lesen?“ Kollegen werden mit einer sogenannten „Umfrage“ traktiert, sollen letztlich darauf antworten, ob Tellkamp überhaupt noch zu verlegen sei. „Welcher Skandal soll hier eigentlich herbeidiskutiert werden?“, fragt Monika Maron deshalb zurück, denn: „Niemand kennt das Buch, über dessen Zumutbarkeit wir hier urteilen sollen.“ Verwunderung auch beim Historiker Jörg Baberowski: „Der Suhrkamp-Verlag war einmal Heimat für Intellektuelle, Exzentriker, Anarchisten und Unangepasste, eine Institution, die dem täglich ausgesprochenen Widerwort eine Bühne bot. Ich kann und mag mir nicht vorstellen, dass ein solches Verlagshaus einen Autor nur deshalb fallenlässt, weil ihm dessen politische Auffassungen missfallen. Es wäre das Ende der Suhrkamp-Kultur. Thomas Bernhard hätte, wenn er noch lebte, über den Versuch, einen Autor politisch zu maßregeln, wahrscheinlich Folgendes gesagt: ‚Ich wünsche Ihnen mit Ihrer Isabel Allende alles Gute!‘“


Warum hat die Literaturkritik eigentlich kein Interesse mehr an der Literatur? Warum gehen ihr bewährte Prinzipien verloren? So wäre es doch allererst angemessen, einen Roman als Roman zu lesen, das Urteil nach der Lektüre zu fällen. Warum rückt, ähnlich der Boulevardpresse, der Autor als Person in den Fokus? Schlammschlachten sind wohl nur in den seltensten Fällen vergnügungssteuerpflichtig. Mancher hat trotzdem seinen Spaß daran, fühlt er sich doch durch die Umstände ermuntert und tut den ersten Wurf. Einmal einfach abwerfen, was sich dem Griff bietet. Irgendwohin müssen sie, die angestauten Ressentiments. Und ist der Gedanke so abwegig: „Daß Heldentum dort beginnt, wo man sich für die richtige Sache die Finger schmutzig macht, ohne Schmutz geht es leider nicht zu in dieser Welt“? Gebannt dann der Blick des Werfers, wer da noch einstimmt und auf das Opfer zielt. Im Falle des Schriftstellers Uwe Tellkamp fanden sich nicht wenige Freunde dieses merkwürdigen Spiels zusammen. In den Redaktionsstuben sammelte sich der modrige Schlamm, alles war vorbereitet. Lange genug hatte man schließlich auch gewartet, bis er nun endlich zur Vorlage kam, der neue Roman „Der Schlaf in den Uhren“. Es ist „die langsame Fahrt der Literatur“, die so unruhig macht und ihre „Möglichkeit, erzählerisch zu gestalten, eine Welt erstehen und innerhalb dieser Welt nichts mit Akzent versehen zu müssen“.


Abirrungen


Doch es geht längst nicht mehr nur um Literatur. Gegen die Literatur richtet sich vielmehr offensichtlich diese neue Art der „Literaturkritik“, die doch eigentlich den Resonanzboden bilden sollte für das qualitativ Bessere, die dessen Begründung zu liefern hätte. Wer glaubte, Literaten, Regisseure, Theaterleute hätten sich genug an sexualisierter und fäkalienreicher Sprache abgearbeitet, sieht sich getäuscht. Erneut wird zu Literatur (v)erklärt, wenn es heißt: „Ich wurde ein Werwolf, ein Wenwolf, ein Wenfickeichheute-wuff.“ Oder auch: „Wie unglaublich sanft und lebendig sich ein penetrierter Arsch anfühlt. Als wäre mensch ganz aus Seide gezimmert.“ Der Welt-Redakteurin Marie-Luise Goldmann wird warm ums Herz: „Beschreibungen wie diese entstehen im virtuosen Wechsel aus gefühlvoller Poesie und knallharter Materialität“. „Ich wusste, oder nahm an …“, so der mit dem diesjährigen Deutschen Buchpreis bedachte Kim de l‘Horizon (= Dominik Holzer). Die neue Logik der Erkenntnis.


Doch um die Anrufung der Sprache, die der Solitär der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Uwe Tellkamp, in brillanter Manier aufscheinen läßt, geht es eben nicht mehr. Allein aber diese poetische Kraft seiner Sprache läßt Erkenntnis reifen. Tellkamp scheint einem Komponisten gleich, dem die Melodie zufällt, der aber gar nicht weiß, woher sie kommt. Das Werk „baut“ sich zu einer Urgewalt. Ein Mitreißen sodann. Der Spurensucher, ob Autor oder Leser, durchdringt die Welt, labyrinthisch, gräbt sich zum Urgrund, denn sie lauert dort schlicht überhaupt noch und will angegangen werden, „die Aufgabe im Grunde“. Freilich, was zutage befördert wird, klingt vielen verstörend und irrational, dabei ist dann allerdings die Unterscheidung von Literatur und Wirklichkeit schon wieder vergessen. Aber so ist es eben, „im Nebel wohnen die Geister, und die Geister machen Angst, und was Angst macht, liefert die Ausreden“. Doch wer sich einläßt auf die Spurensuche, der ist nicht gefeit, glauben zu wollen, es sei die Wirklichkeit, die hervortritt, so raffiniert klingt die Erzählung. Roman und Wirklichkeit vermischen sich gelegentlich. Literatur darf das. Immer öfter klingelt das empörte und dabei nur empörende „Aber“ aus dem Erregungsraum dazwischen. Dieses Aber kann allerdings nur einfallen, weil „heute gar nicht begriffen wird, was Romane leisten können“. So konstatierte Uwe Tellkamp vor Jahren schon und merkte weiter an: „daß sie einen Zugang zur Welt bieten, den Geschichtsbücher oder Philosophie gar nicht leisten können. Ich habe keine große Hoffnung für Bücher wie meines, die Zahl der Leser, die damit etwas anfangen können, wird immer kleiner.“ Sehr deutlich stellte schon Botho Strauß heraus: „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Typus des Außenseiters aus Gesellschaft wie Literatur so gut wie verschwunden.“ So gut wie … Zum Glück! „Ein Mährchen aus alten Zeiten, / Das kommt mir nicht aus dem Sinn … Ich glaube, die Wellen verschlingen / Am Ende Schiffer und Kahn“ … doch siehe da: Der Turm!



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