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Rudolf Brandner: DIE PREISGABE DER EIGENVERANTWORTUNG

Den Essay unseres Stammautors Rudolf Brandner über Eigen- und Staatsverantwortung in der Corona-Krise, der zu Beginn des Monats gekürzt in der NZZ erschien, dokumentieren wir an dieser Stelle in vollem Umfang.



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Kaum ein anderes Ereignis der letzten Jahrzehnte hat die Unterscheidung von Eigen- und Staatsverantwortung so ins Schleudern gebracht wie die Corona-Krise. Daß der Einzelne sich vor Gefahren für Leib und Leben wie Infektionen schützt und es Aufgabe des Staates ist, ihn vor allgemein bekannten Risiken, so auch Reisen in Gefahrengebiete zu warnen, galt bislang als selbstverständliche Abgrenzung der verschiedenen Kompetenzbereiche. Denn zum modernen Freiheitsbegriff der Selbstbestimmung gehört die Selbst- bzw. Eigenverantwortung: Es ist Sache des Einzelnen, wie er sich ernährt, ob er raucht oder trinkt, welchen Berufsrisiken er sich aussetzt und womit er seine Freizeit verbringt – lebensgefährliche Abenteuer- und Extremsportarten inbegriffen; ob und wie er geschützten oder ungeschützten Sex hat, in Gegenden mit erhöhten Infektionsgefahren wie Typhus, Cholera, Malaria, Ebola usf. reist oder sich in Krisen- und Kriegsgebieten herumtreibt. Auch in Zeiten von «Epidemien von nationaler Tragweite», wie den jährlich sich wiederholenden Grippewellen, wurde selbst bei signifikanter Übersterblichkeit (wie 2018) am Prinzip der Eigenverantwortung festgehalten und auf staatliche Eingriffe in die Grundrechte verzichtet.


Genau dies aber hat sich nun mit Covid-19 grundsätzlich verändert: Das staatliche Handeln greift via Infektionsschutz auf das eigenverantwortliche Handeln seiner Bürger aus und maßt sich damit eine Schutzfunktion an, die nicht ihm, sondern einzig und allein dem Einzelnen: seiner Freiheit und Selbstverantwortung – angehört. Unter welchen Bedingungen ein solcher Ausgriff legitim wäre, liegt auf der Hand: Einerseits muß die Infektionsgefahr mit einer erheblichen Letalitätsrate einhergehen (Massensterben) und die Gemeinschaft als solche einer existentiellen Vernichtungsgefahr aussetzen – wie zu Zeiten der Pest. Andererseits muß der staatliche Versuch, an die Selbstverantwortung der Einzelnen zu appellieren und gewisse Vorsichtsmaßregel einzuhalten, fehlgeschlagen sein. Dann: angesichts der massenhaften Verantwortungslosigkeit von Einzelnen – bliebe ihm als ultima ratio nichts anderes übrig, als seine Maßnahmen zum Schutz der Gemeinschaft gesetzlich durchzusetzen. Diese aber müssen immer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, indem sie 1. einen klaren und einsichtigen Sachbezug zur Abwehr der Gefährdung aufweisen und 2. nicht mehr Schaden anrichten dürfen als das vermeintliche Infektionsgeschehen. So ließe sich nach 1. bezweifeln, ob Maskenpflicht oder Alkoholverbot überhaupt etwas mit der Gefahrenabwehr zu tun haben, nach 2., ob die Corona bedingten Absagen notwendiger Operationen nicht zu einer erhöhten Übersterblichkeit geführt haben, von allen weiteren existentiellen und ökonomischen Konsequenzen der Maßnahmen einmal abgesehen.


Nun wäre es seinerzeit – im Februar/März 2020 – durchaus denkbar gewesen, dementsprechend zu verfahren. Es war schon damals bekannt, daß es sich bei Covid-19 keineswegs um einen «Killer-Virus» mit exorbitanten Letalitätsraten handelte und die betroffene Risikogruppe die über Sechzigjährigen waren. Entsprechende Empfehlungen, Hygieneregeln und Vorsichtsmaßnahmen hätten ausgereicht, um jede Übersterblichkeit zu vermeiden. Dr. Wolfgang Wodarg, bekannt und geehrt für seine Aufklärungsarbeit in der Schweinegrippe (2009, siehe die Arte Doku: Profiteure der Angst), hatte auch jetzt wieder vor Panikreaktionen gewarnt: Hätte man mit den (nicht-validierten) PCR Tests aufgehört, wäre die ganze Aufregung an uns vorbeigegangen und die Weltgeschichte hätte nichts davon bemerkt: sowenig wie zuvor bei den jährlichen Grippewellen. Warum ist es anders gekommen, und zwar so, daß die Eigenverantwortung des Einzelnen kassiert und an den Staat übereignet wurde?


Mehrere Faktoren wirken hier zusammen. Einerseits sind es weniger die harten wissenschaftlichen Daten als ihre digitale Modellierung (Computersimulation) zu mutmaßlichen Schreckensszenarien, die eine suggestive Wirkkraft auf die politisch Handelnden ausüben, der sie sich angesichts einer medial geförderten Angstlust an «worst case Szenarien» schwerlich entziehen können. Zugleich übt die digitale Vernetzung der globalisierten Welt einen beträchtlichen Konsensdruck aus, der in mimetischen Angleichungsprozessen endet: «Wenn die Anderen das so machen, machen wir das auch so, dann kann man uns nichts vorwerfen». Geht es schief, dann waren es alle und die Verantwortung ist eine kollektiv geteilte – sie diffundiert ins Unzurechenbare. Die wechselseitige Nachahmung (mimesis) entlastet von der personal zu treffenden Eigenentscheidung und Selbstverantwortung. Der massenpsychologische Druck, der auf der Kaste politischer Entscheidungsträger lastet, verlagert die Verantwortung auf umfassende Kollektive und anonyme Institutionen, wie die EU, die WHO, die UN (usf.), die keine zuschreibbaren Autoren mehr kennt: Verantwortungs­dif­fusion, bekannt und namhaft gemacht als entscheidendes Demokratiedefizit der EU-Institutionen. Keiner will’s gewesen sein – und doch waren es (wie in einem Krimi von Agatha Christie) irgendwie alle. Was fehlt, ist die personal übernommene Verantwortlichkeit des Handelns; und dies ist weniger eine Sache der Charakterlosigkeit als ein allgemein neutralisierender Effekt der Institutionalisierung, die alle handelnden Personen im Anonymat eines Allgemeinen und autoritativ Beherrschenden verbirgt. Die politisch handelnden Subjekte sind nicht mehr konkrete, eigenverantwortliche Personen, sondern anonymisierte Institutionen, die sich in massenpsychologischer Mimesis gleichschalten. Das staatliche Handeln automatisiert sich, ohne daß es den handelnden Personen zu Bewußtsein käme; denn ihre Persönlichkeitsbildung ist nun unter dem Zwang der Institutionalisierung selbst zu einer anonymen Funktion geworden, die sich in mimetischen Angleichungsprozesssen automatisiert.


Verstärkend hinzu kommt der technologische Druck. Wie schon in der Digitalisierung der Finanzwirtschaft mehrt sich auch in anderen Bereichen der Zug zur Entäußerung personalen Menschseins an digital kodierte Algorithmen, die automatisierte Entscheidungs- und Handlungsketten auslösen, ohne daß personal zu vertretende Entscheidungen: also Nachdenken, Besinnung, Abwägen – als intermittierende Störfaktoren dazwischentreten könnten. Indem der Mensch einem Hang zur metaphorischen Selbstverständigung folgt, sich aus dem zu verstehen, was er nicht ist - und dies nun auf sich überträgt (metaphorei), bezeichnet er sein Gehirn als «Festplatte», seine Bildung als «Programmierung» oder «Software». Er wird sich metaphorisch selbst zu einer Instanz «Künstlicher Intelligenz» und sucht sich den durch ihn selbst hervorgebrachten Kunstprodukten mimetisch anzugleichen - es der binären Entscheidungslogik digitaler Algorithmen gleichzutun: Sein Denken reagiert mechanisch berechnend auf den Info-Input, der nach einer festen Wenn – Dann Logik durchgespielt ein Simulacrum dessen abgibt, was er sich als «Intelligenz» vorstellt. Daher der Zug zur KI, die den Menschen noch beim Einkaufen, Autofahren und vielem anderen mehr von seiner selbstbestimmten Freiheit und ihrer Verantwortung erlösen soll. Die metaphorische Selbstverdinglichung ersetzt das freie, sich selbst besinnende und eigenverantwortliche Denken und Handeln.


So wird, sobald das WHO eine «Pandemie» - nach welchen fragwürdigen Kriterien auch immer - ausruft, ein zwischenstaatlicher Mechanismus in Gang gesetzt, der in mimetischer Angleichung identische Reaktionsketten freisetzt, die, da alle sich ihr unterwerfen, ja nur die wahre und richtige sein kann. Die Autorität des Allgemeinen wirkt als Konsensdruck und läßt dem kritisch reflektierenden Einzelnen nur die Unwahrheit seiner Selbstmarginalisierung. Die politischen Institutionen beherrscht eine eigene Logik, die der Übertragung personaler Eigenverantwortung auf staatliche Mechanismen vorarbeitet.

Auf dieser Ebene liegt dann der zweite Faktor der politischen Selbstermächtigung, die einen ungeheuren Machtzuwachs verspricht: Angesicht von Todesangst und Massenpanik läßt sich endlich wieder ungeniert frei von der Leber weg befehlen: Das Lustgefühl bedingungslosen Befehlens kompensiert das Ohnmachtsgefühl demokratischer Entscheidungsprozesse und ihrer elenden Kompromisse. Aber dies ist nur möglich, weil es auf der anderen Seite auf die Unterwerfungslust der Massen trifft, endlich wieder gesagt zu bekommen, wo’s lang geht: Die existentielle Leere und Orientierungslosigkeit bekommt einen Inhalt zugewiesen, der ihr, wenn nicht das «ewige», so doch das «gute» Leben verspricht. Was sich die Menschen in einem solchen Zustande alles an absurden Regelungen, widersprüchlichen Verordnungen und puren Schikanen gefallen lassen, ist schon erstaunlich: Die Dramatisierung öffentlichen Lebens ergreift alle mit einem neuen Gemeinschafts­gefühl, das den Atomismus der orientierungslosen Einzelnen überwindet und sie einer kollek­tiven Selbsthypnose verfallen läßt, gebannt wie die Henne auf den Strich. Der Massenaffekt, rauschhaft von sich selbst verzaubert, schließt alles aus, was anders sein und ihn aus ihrer Bannung befreien könnte. Daher die unverhohlene Aggressivität, die alle Unbotmäßigen durch Diffamierung mundtot zu machen sucht.


Die rauschhafte Selbstverzauberung eines von Todesangst und Angstlust, Machtrausch und Unterwerfungsbegierde durchmischten Kollektivgefühls enthebt den Einzelnen seiner kritisch reflektierenden Selbstbestimmung und entlastet ihn aller Eigenverantwortung. Sie wird nur allzugerne dem staatlich institutionalisierten Anonymat überantwortet, das sich in depersonalisierter Verantwortungsdiffusion an Statistiken und digitale Modellierungen veräußert, die über den massenpsychologischen Druck der Öffentlichkeit die Automatismen politischen Handelns auslösen. Hier wie dort vollzieht sich die Verantwortungsentlastung durch die Aufhebung des konkreten, personalen Menschseins als Besinnungs- und Entscheidungsinstanz; an seine Stelle treten mechanisierte Denk- und Handlungsautomatismen, die sich mimetisch ausbreiten und weltweit zu institutionellen Gleichschaltungen koagulieren. Es ist die moderne Angst vor der Freiheit, die alle Selbstverantwortung von sich abwirft und auf anonyme Kollektive und Instanzen überträgt, in denen der nachdenkliche, besinnliche, abwägende und gebildete Mensch, der im Angesicht seines Wissens und Gewissens Entscheidungen fällt, fehlt.


Wenn nur ein einziger politischer Entscheidungsträger, etwa der Ministerpräsident eines Bundeslandes, den Mut zur evidenzbasierten Vernunft und selbstverantwortlichen Besinnung hätte, und entsprechend alle Corona-Maßnahmen samt PCR-Testerei mit sofortiger Wirkung aufhöbe: dann wäre der ganze Spuk im Nu vorbei. Aber genau dafür möchte keiner die Verantwortung übernehmen; und für die Kollateralschäden der Maßnahmen gilt ja: Verantwortungsdiffusion. Wie bei Agatha Christie.




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Über den Autor: RUDOLF BRANDNER, geb. 1955, Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris (Sorbonne) und Heidelberg, 1988 Promotion über Aristoteles, 1993 Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit. 1985 – 1999 neben Lehr- und Vortragstätigkeit im deutschsprachigen Raum zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien. 2000 – 2005 Rückzug in die philosophische Grundlagenforschung. Brandner lebt als freier Philosoph in Freiburg i. Br. und Berlin. Hier geht es zur Internetseite von Rudolf Brandner.


 

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