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Skias Onar: LEBEN HEISST STERBEN

Aktualisiert: 22. Mai 2021

"Komm, mein Freund, auch du musst sterben. Was gibt’s da zu klagen? Sogar Patroklos starb, ein weit besserer Mann als du."


Homer Ilias, 21.107 f.



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Worte des griechischen Helden Achill im Kampf um Troja, ergänzt durch das Eingeständnis, dass selbst ihm, dem Sohn einer Göttin, jederzeit das Ende drohe. In Homers Epos Ilias ruft der Tod auf jeder Seite unterschiedslos und mitleidlos Menschen und Heroen zu sich. Ihm unerschrocken zu begegnen, ja ihn trotzig zu verlachen und eben dadurch der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben, das gilt als ehrenwert; Feigheit, Todesangst, Flehen um das eigene Leben, nicht. Bringt das in uns noch eine Saite zum Schwingen? Immerhin markiert die Ilias den Beginn der europäischen Literaturgeschichte und ist heute noch Schullektüre. Allein wer lernt dieser Tage noch Altgriechisch und wozu?


Bekanntlich sind wir längst im postheroischen Zeitalter angekommen, wie Herfried Münkler schon vor Jahren konstatierte. Nach dem Höllensturz des 20. Jahrhunderts war „Verhausschweinung“ angesagt: Das wöchentliche Grillen von ein paar Würstchen markierte für den Durchschnittsbürger, neudeutsch „Boomer“ genannt, die bedeutendste archaische Unterbrechung seines drögen Alltags. Er blinzelte und war glücklich. Doch dann brach in apokalyptischer Gestalt ein Virus aus China in diese beschauliche Welt ein: Seitdem heißt es wieder „Sein oder Nichtsein“ – für den Einzelnen, die ganze Nation, ja die ganze Welt!


Anlass genug, Innen- und Rückschau zu halten und über den Stellenwert von Leben und Tod wieder intensiver nachzudenken: Wie beurteilten unsere Vorväter einst die Schlüsselfragen des menschlichen Seins, mögen es Griechen oder Germanen, Heiden oder Christen, Denker oder Helden gewesen sein? Der Tod raffte sie ja in aller Regel dahin, bevor sie ein höheres Alter erreichten. Was sahen sie folglich als gutes und erstrebenswertes Leben im höheren ethischen Sinne an? Hieß gut zu leben, auch lang zu leben? Und wenn ja, um welchen Preis?


Diese Überlegungen führen uns zurück zu den vier Kardinaltugenden nach Platon: Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit (oder Klugheit). Sie kulminierten in der 'arete', römisch 'virtus', der Mannhaftigkeit. Als deren Inkarnation galten die mythischen Helden Achill und Hektor, sie ließ einen Leonidas standhalten, führte Alexander zum Indus und Cäsar über den Rubikon, war Handlungsmaxime für Feldherrn, Könige, Kaiser. Und die Männer der Weisheit, die Philosophen, lehrten sie nicht nur, sondern lebten sie auf ihre Weise vor, wie das Beispiel des Sokrates zeigt:

„Aber schon ist es Zeit, zu gehen – ich um zu sterben, ihr um zu leben. Wer aber von uns den besseren Weg beschreitet, das weiß niemand, es sei denn Gott.“ (Platon, Apologie 42a)


Mit diesen schicksalsschweren Worten quittierte Sokrates sein Todesurteil für angebliche Blasphemie und verderbliche Beeinflussung der Athener Jugend, das er durch freimütige Reden vor Gericht geradezu provoziert hatte. Akzeptierte er auch nicht Anklage und Urteilsbegründung, so ging er doch in Frieden mit sich und den Menschen aus der Welt, Vorbereitungen zur Flucht wies er zurück, stattdessen spendete er noch auf dem Totenbett seinen Freunden Trost.

Sokrates‘ klagloser Exitus mittels des Schierlingsbechers wurde zur Ikone. Man könnte einwenden, dass er sich zu diesem Zeitpunkt schon im hohen Alter von 70 Jahren befand. Fällt ein würdevoller Abtritt da nicht leichter, wenn man den Großteil seines Lebens schon hinter sich hat? Das berühmte Apollon-Orakel von Delphi ermahnte den Menschen daher auch, am Ende des Lebens ohne Bedauern zu sterben. Und Cicero urteilte über den jüngeren Scipio, den Zerstörer Karthagos, der mit 54 Jahren verstarb: „Was hätte ihm der Zuwachs weniger Jahre noch nützen können?“ (De amicitia, 3.11) – In einer Zeit, in der noch Hundertjährige nach der vermeintlich rettenden Corona-Impfung gieren, scheint dies nicht mehr zu gelten.


Dabei war der Tod die längste Zeit des menschlichen Daseins dessen omnipräsenter Begleiter gewesen: Krankheiten, Kriege und Seuchen forderten stets ihren Tribut. Erst im Zuge der Moderne und einer rapide steigenden Lebenserwartung verschob sich das Sterben in immer spätere Lebensphasen (von den großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts abgesehen). Und gut so, möchte man meinen: die Menschen wurden älter, lebten gesünder und (schmerz)freier als je zuvor.


Die Schattenseite dieses beispiellosen zivilisatorischen Plateaus offenbart sich im Zuge der „Corona-Pandemie“ auf frappierende Weise: eine hypochondrische Greisengesellschaft bangt täglich um ihr Ableben, das hinter jedem Mundschutz vermutet wird. Es herrscht Ausnahmezustand – Carl Schmitt sähe sich bestätigt –, Notverordnungen regulieren das Leben der Bürger: Masken, Testen, Impfen – alle Mittel werden aufgeboten, um die Krise zu beenden, den Tod zu besiegen, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Die Mehrheit murrt und fügt sich doch. Ist das nun primär eine psychologische Krise? Ertragen wir es nicht mehr, eine noch so vage Gefahr nicht beherrschen, auch ein Virus nicht kontrollieren und einhegen zu können?


In besseren Zeiten nannte man einen solchen Anspruch Hybris, Selbstüberschätzung mit dem Ruch des Frevels, der sich in höhere Geschicke einzumischen wagt. Nachzulesen in Ovids Metamorphosen: Hüte dich vor der Hybris eines Ikaros, einer Arachne oder einer Niobe, sie alle traf der Götterzorn für das Überschreiten heiliger Grenzen. Dies galt im Besonderen für das Totenreich: Orpheus, der Eurydike zurückholen wollte und dem es dank seines bezaubernden Gesanges auch gestattet wurde, verlor sie dann doch wieder. Nur (wenigen) Heroen wie Herkules und Äneas war es beschieden, aus dem Reich der Schatten zurückzukehren, und selbst dann nur auf Zeit.


Aber wen interessieren noch Mythen und Götter? Als wir noch Christen waren, ruhte unser Schicksal in Gotteshand, rief er uns ab, so war es höchste Fügung. Ähnlich sahen es auch die alten Germanen, deren tapferste Krieger mit Odin in Walhalla tafelten, wie wir derzeit effektvoll in Netflix-Serien wie Vikings oder Video-Spielen wie Assassin‘s Creed wieder vor Augen geführt bekommen. Auch für sie war Unerschrockenheit vor dem Tod oberstes Gebot, Feigheit im Kampf unverzeihlich.


Doch zurück zum christlichen Erbe: „Fürchtet euch nicht!“, sprach der Engel zu den Hirten. Habt keine Angst vor dem, was kommt, Gott wird Vorsorge treffen. Dieses Leben ist nur die Vorbereitung auf das Jenseits, die Hoffnung auf Wiederauferstehung und das Paradies soll euer Herz mit Liebe und Zuversicht erfüllen – und euch den möglicherweise grausamen Tod unverzagt hinnehmen lassen. Über viele Jahrhunderte beeindruckten christliche Märtyrer ihre Peiniger mit ihrer Todesverachtung, ja Verzückung, mit der sie ihr Ende erwarteten. Immerhin besaßen 21 koptische Christen vor sechs Jahren noch solche Glaubensfestigkeit, als sie von den Mördern des Islamischen Staates am Strand von Libyen hingerichtet wurden.


Wir Europäer hingegen halten uns längst für aufgeklärte Verstandesmenschen, auch das barocke „Memento mori“ ist längst verhallt, bleibt noch die moderne Philosophie: Friedrich Nietzsche sprach von „Amor fati“. Liebe zum Schicksal hatte der große Verächter des Christentums als Maxime ausgegeben: Komme, was wolle, stelle dich ihm, nimm es an, umarme es, es muss wohl so sein, im Guten wie im Schlechten. Werde, der du bist!


Pindars Epinikien, Siegeslieder also, hatten Nietzsche dazu inspiriert, noch mehr verdankte er der Stoa, der vielleicht wirkmächtigsten Philosophenschule der Antike. Deren Lebensideal der Unerschütterlichkeit wurde für die Römer geradezu staatstragend und von zahlreichen Vertretern der Nobilität wie dem Philosophen Seneca oder Kaiser Marc Aurel vorgelebt. Seneca, der selbst auf Weisung seines ehemaligen Zöglings, Kaiser Neros, den Freitod wählte und dabei, wenn man den Quellen trauen kann, Sokrates‘ Beispiel keine Schande machte, mahnte in seinen Werken zu Furchtlosigkeit und Todesverachtung:


"‘Bereite Dich auf den Tod vor!‘ Wer dies sagt, will uns auf die Freiheit vorbereiten. Wer sterben gelernt hat, hat verlernt, Sklave zu sein [...]. Nur eine Kette ist, die uns gefesselt hält, die Liebe zum Leben; ist sie zwar nicht abzuwerfen, so ist sie wenigstens zu schwächen, damit, wenn die Umstände es fordern, nichts uns halte und hindere, bereit zu sein, was einmal doch geschehen muss, auf der Stelle zu tun.“ (Epistulae morales 26, 10)


Zu leben bedeutete für Seneca, sich mit dem Tod abfinden zu lernen, denn dieser nimmt jeden Tag mehr von einem Besitz und nur, wer ihn nicht fürchtet, ist wahrlich frei. Diese Geisteshaltung ließ auch Marc Aurel, den Philosophen auf dem Kaiserthron, während der Markomannenkriege jahrelang demütig im garstigen Grenzgebiet seine Selbstbetrachtungen verfassen, bis ihn dort der Tod ereilte. Sich in sein Schicksal (fatum) zu fügen, seine Pflicht zu tun und standhaft zu bleiben, das war die Voraussetzung für ein gutes und glückliches Leben.


Wir kommen zum Ende: Lassen sich die alten Tugenden noch für die aktuelle Lage fruchtbar machen? Sie können zumindest Klarheit darüber verschaffen, dass es unseren Vorfahren als ehrlos und schändlich erschienen wäre, die physische und psychische Gesundheit ihrer Kinder und die Zukunft ihrer Heimat eines Virus‘ wegen zu gefährden, dem (laut Stanford-Professor John Ioannidis) bislang gerade einmal 15-20 Menschen von 10.000 zum Opfer fielen, die in Deutschland ein Durchschnittsalter von 82 Jahren hatten.[1] Wie meinte Boris Palmer unlängst: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“[2] Vielleicht ist es an der Zeit, wieder das Sterben zu lernen.



[1] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/eci.13423 [2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article207575263/Boris-Palmer-Retten-Menschen-die-in-halbem-Jahr-sowieso-tot-waeren.html




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SKIAS ONAR unterrichtet an einem westdeutschen Gymnasium Latein und Geschichte. Wie viele andere leidet er „an den Umständen dieser alles nivellierenden Spätzeit, an ihren geistigen und ästhetischen Zumutungen, der Borniertheit ihrer Bewohner und Eliten“.

Um Diffamierungen und Repressionen zu vermeiden, schreibt Skias Onar unter einem Pseudonym. Bei diesem handelt es sich um ein verkürztes Zitat von Pindar aus der Achten Pythischen Ode, das vollständig lautet: Σκιᾶς ὄναρ ἄνθρωπος, zu Deutsch: "Eines Schattens Traum (ist) der Mensch.“





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