Carsten Germis: WIE DER WERTEWESTEN SICH ÜBER DEN KRIEG STÜLPT
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Der Krieg in der Ukraine ist für die Ukrainer ein nationaler Existenzkampf. Für den Westen ist er etwas anderes. Genau darin liegt seine Tragik. Während ukrainische Soldaten seit nunmehr vier Jahren einen klassischen Unabhängigkeitskrieg gegen den imperialen Großmachtanspruch Russlands führen – einen Krieg um Territorium, staatliche Souveränität und politische Selbstbehauptung –, wird dieser Kampf im Westen in ein anderes Bedeutungsregister übersetzt. Er wird moralisch umcodiert, semantisch aufgeladen und in einen Stellvertreterkrieg westlicher Selbstvergewisserung transformiert. Die Ukraine kämpft um ihre staatliche Existenz. Der Westen kämpft um seine Werte – oder genauer: um das Bild seiner Werte. Um für diesen Krieg politische Unterstützung im Westen zu mobilisieren, muss er umgedeutet werden: aus einem nationalen Abwehrkampf wird ein Kampf für Demokratie, Menschenrechte und eine »werte- und regelbasierte internationale Ordnung«.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 gilt in der Bundesrepublik eine neue außenpolitische Orthodoxie. Sie ist ebenso eindeutig wie alternativlos formuliert: Russland ist der Aggressor, die Ukraine das moralisch Unangreifbare, der Westen der letzte Träger »demokratischer Werte«. Sanktionen, Waffenlieferungen und militärische Eskalationsbereitschaft erscheinen nicht mehr als politische Entscheidungen unter Risiko, sondern als moralische Pflichten. Wer sie in Frage stellt, stellt sich außerhalb des legitimen politischen Diskurses.
In dieser moralischen Totalisierung liegt der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen deutschen Politik. Sie erklärt, warum ausgerechnet die Grünen – einst Träger einer pazifistischen Identität – heute die entschlossensten Vertreter eines moralisch legitimierten Bellizismus sind, ohne allerdings daraus in zentralen Fragen wie Wehrdienst, nachhaltige Stärkung der Bundeswehr oder die Anerkennung soldatischer Tugenden entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Krieg ist in diesem Denken nicht länger tragisches Übel, sondern sittliche Notwendigkeit. Die Sozialdemokratie, lange Zeit Architektin einer pragmatischen Russlandpolitik, fügte sich nach der von Olaf Scholz ausgerufenen »Zeitenwende« reibungslos in dieses neue Moralregime ein. Die Christdemokratie trägt es aus atlantischer Tradition ohnehin mit. Opposition formiert sich öffentlich ausgerechnet vor allem in Gestalt der AfD – flankiert von punktueller, aber strukturell begrenzter Kritik durch das BSW –, die sich rhetorisch als »Friedenspartei« inszeniert, Sanktionen als wirtschaftlich selbstschädigend kritisiert und die Rückkehr zu vermeintlich nationalen Interessen einfordert.
Die Russlandfrage fungiert in Deutschland nicht mehr primär als außenpolitisches Thema, sondern als Loyalitätsprüfung im Inneren. Der AfD wird von den herrschenden Klassen nicht nur politischer Irrtum, sondern moralische Gefährlichkeit zugeschrieben. Der Vorwurf reicht von der Reproduktion »russischer Narrative« bis zur impliziten Unterstellung politischer Illoyalität. Selbst parlamentarische Anfragen werden in den Dunstkreis von Spionage und Feindbegünstigung gerückt. Moral ersetzt Argument, Verdacht ersetzt Debatte.
Hier zeigt sich mit besonderer Klarheit das Funktionsprinzip dessen, was mit Max Horkheimer als Racket-Herrschaft beschrieben werden kann: eine Herrschaftsform, in der sich – begünstigt durch die Strukturen der deutschen Parteiendemokratie – organisierte Machtgruppen den Staat zur Beute machen (dazu: RACKETS IM INTERREGNUM. Mosaiksteine für eine Politische Ökonomie der BRD in TUMULT Winter 2025/26).

Die herrschende Formation in Deutschland lässt sich als Staatsracket begreifen: ein Gefüge aus Regierungsparteien in Bund und Ländern, Ministerialbürokratie und para-staatlichen Akteuren, das nicht nur über staatliche Entscheidungsgewalt verfügt, sondern über Deutungshoheit. Leitmedien, große NGOs, öffentlich finanzierte Expertennetzwerke, EU-Institutionen, kulturpolitische Apparate und staatsnahe Industrien bilden ein eng gekoppeltes System gegenseitiger Legitimation, Versorgung und symbolischer Absicherung.
Dieses Staatsracket ist nicht »der Staat« im verfassungsrechtlichen Sinne, sondern eine positionsbasierte Herrschaftsformation mit privilegiertem Zugang zu Geld, Regulierung, Öffentlichkeit und moralischen Ressourcen. Seine Macht beruht weniger auf offenem Zwang als auf normativer Vorfeldkontrolle. Es definiert, was als verantwortungsvoll, demokratisch und moralisch gilt – und was nicht mehr sagbar ist. Diese Definitionsmacht reicht von der Migrationspolitik über die sogenannte »grüne Transformation« von Wirtschaft und Gesellschaft bis hin zur Außenpolitik.
Die Russlandpolitik eignet sich dafür in besonderer Weise. Sie erlaubt den herrschenden Klassen angesichts der durch ihre eigene realitätsverweigernde Politik verantworteten wirtschaftlichen Stagflation, wachsenden gesellschaftlichen Spaltung und erstarkenden rechtspopulistischen Bewegungen eine maximale moralische Aufladung bei minimalem Risiko innerer Selbstkritik. Dass große Teile eben dieses Establishments bis 2022 eine enge wirtschaftliche und energiepolitische Kooperation mit Russland betrieben haben, wird nicht aufgearbeitet, sondern moralisch überschrieben. »Nord Stream« erscheint retrospektiv als Sündenfall, nicht als politisch gewollte Strategie. Die Geschichte wird nicht erklärt, sondern gereinigt. Moral ersetzt Erinnerung.
In diesem moralisch verdichteten Feld agiert vor allem die AfD als Gegen-Racket – nicht als systemfremder »gesichert rechtsextremer« Störfaktor, sondern als konkurrierende Elitenformation mit anderen Interessenlagen. Ihre soziale Basis speist sich aus energieintensiven Wirtschaftssektoren, regionalen politischen Milieus, rechtspopulistischen Akteuren und publizistischen Netzwerken, die sich gegen Globalisierung, kulturelle Liberalisierung und staatlich verordnete Gesinnungskonformität wenden.
Dieses Gegen-Racket ist noch fragmentiert und strukturell unreif. Es verfügt über keine institutionelle Verankerung im Staatsapparat. Öffentlich-rechtliche Medien, Bildungseinrichtungen und Universitäten, Verwaltung und selbst höchste Gerichte sind über Ämterpatronage, Milieukontinuitäten und Rekrutierungsmechanismen strukturell vom Staatsracket dominiert. Die AfD ist gerade deshalb gefährlich, weil sie einen Elitenwechsel anstrebt. In ihr vereinen sich sozialpatriotische, wirtschaftsliberale, kulturidentitäre und freiheitlich-demokratische Residuen, ohne über einen stabilen Zugriff auf staatliche Ressourcen zu verfügen. Sie ist weniger ein ausgebildetes Racket als eine herausfordernde Gegenelite, die den Zugang zu den Machtzentren erzwingen will – und genau deshalb moralisch bekämpft wird.
Ihre zentrale Strategie ist zwangsläufig Gegen-Moralisierung. Sie entlarvt den Universalismus des Staatsrackets als Herrschaftsideologie und setzt ihm eine Moral der Partikularität entgegen: nationale Souveränität, Fürsorge für die eigenen Bürger, demokratische Selbstbestimmung. Moral ist hier kein ethisches Beiwerk, sondern Kampfmittel. Damit wird die Russlandpolitik zum Scharnier eines umfassenderen Machtkampfes. Außenpolitik dient der Innenintegration rivalisierender Elitenblöcke. Gegner werden nicht widerlegt, sondern delegitimiert. Der Konflikt verläuft nicht zwischen Demokratie und Autoritarismus, sondern zwischen etabliertem Staatsracket und aufsteigendem Gegen-Racket innerhalb eines staatskapitalistischen Systems.
Der Staat ist in Deutschland schon lange kein neutraler Schiedsrichter mehr. Bereits in der alten Bundesrepublik haben Philosophen wie Karl Jaspers, Politologen wie Wilhelm Hennis oder Soziologen wie Erwin Scheuch davor gewarnt, dass sich Parteikartelle den Staat zur Beute machen und die Demokratie von innen aushöhlen könnten. Spätestens seit der Finanzkrise 2008, massiv beschleunigt durch die »grüne Transformation«, hat sich gegen die Reste der sozialen Marktwirtschaft ein Modell durchgesetzt, in dem Marktsteuerung durch administrative Planung ersetzt wird, Großakteure durch Subventionen stabilisiert werden und politische Zielsetzungen systematisch über Effizienz und Wettbewerb stehen. Public-Choice-Theorien beschreiben präzise, wie in einem solchen System politische Entscheidungen Renten erzeugen, Gefolgschaften versorgen und Opposition marginalisieren.
Der moderne deutsche Staatskapitalismus ist daher vor allem ein machtstrukturelles Racket-System. Der Staat entscheidet über Kapitalströme, Industriepolitik, regulatorische Zugänge und die moralische Rahmung politischer Konflikte. Wer politischen Einfluss besitzt, kontrolliert Ressourcen, Narrative und Legitimität zugleich. In einem solchen System geht es nicht mehr nur um politische Programme, sondern um den Zugriff auf Macht und Privilegien. Die Moralökonomien der konkurrierenden Rackets spiegeln diese Funktion: Universalismus stabilisiert bestehende Herrschaft, Partikularismus mobilisiert Herausforderer. Der Konflikt ist kein Streit zwischen Moral und Zynismus, sondern ein Kampf um moralische Deutungshoheit.
Dass die Ukraine seit Jahren einen realen, verlustreichen Existenzkampf gegen russische Großmachtpolitik führt, wird in diesem Machtkampf zunehmend zur Nebensache. In Washington ist diese Instrumentalisierung besonders deutlich sichtbar – gerade seit dem erneuten Machtantritt Donald Trumps. Trump steht dabei weniger für eine kohärente außenpolitische Strategie als für den offenen Bruch mit der moralischen Selbstbeschreibung des westlichen Machtblocks. Er verzichtet weitgehend auf die universalistische Rhetorik von Demokratie und Menschenrechten und spricht stattdessen offen in Kategorien von Interessen, Kosten und Macht.
Er legt dadurch frei, was zuvor moralisch verhüllt war: dass auch die amerikanische Ukrainepolitik nie primär einem nationalen Unabhängigkeitsideal folgte, sondern strategischen und ökonomischen Kalkülen unterlag. Trump entmoralisiert den Konflikt nicht im Sinne humanitärer Zurückhaltung, sondern im Sinne brutaler Racket- und Machtökonomie. Die Ukraine erscheint in dieser Logik nicht mehr als moralischer Prüfstein, sondern als Verhandlungsmasse. Was im liberalen Westen moralisch verbrämt wurde, wird unter Trump offen ausgesprochen. In Brüssel und vor allem in Berlin wirkt diese Entzauberung besonders verstörend. Denn hier ist die moralische Aufladung des Ukrainekriegs am weitesten fortgeschritten – und am stärksten mit innerer Herrschaftsstabilisierung verknüpft. Während Trump den moralischen Schleier zerreißt, halten die europäischen Staatsrackets an ihm fest. Sie benötigen ihn, um ihre eigene politische Ökonomie der Macht, ihre Steuerungsansprüche und ihre moralischen Monopole zu sichern.
Dass die Ukraine seit Jahren einen realen, verlustreichen Existenzkampf gegen russische Großmachtpolitik führt, wird in diesem Machtkampf zunehmend zur Nebensache. Die Ukrainer werden zum moralischen Kapital, das rivalisierende Rackets einsetzen, um eigene Machtpositionen zu sichern. Das ist die eigentliche Tragik dieses Krieges: Ein realer nationaler Überlebenskampf wird in den Zentren westlicher Macht zum Spielfeld eines moralisierten Elitenkonflikts. Nicht Kiew steht im Zentrum dieser Auseinandersetzung, sondern Berlin, Brüssel und Washington. Und die Frage lautet längst nicht mehr, wie dieser Krieg endet – sondern wer ihn moralisch verwerten darf.
Über den Autor: Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung.
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