Beteiligungsprojekte, Mitmachformate – der „zufällig ausgewählte“ Bürger ist neuerdings politisch und medial sehr gefragt. Dumm nur, wenn sich die „Zufallsauswahl“ als regierungskonform entpuppt. Oder dem Zufall entsprechend nachgeholfen wird.
Rechtsstaat kommt primär von Recht (indogermanisch h₃reĝ „aufrichten, gerade richten“; althochdeutsch reht, recht, rehd, riht, reth ). Ungemütlich wird es hierzulande aber schnell, wenn der Rechtsstaat seine Bürger anlasslos zu „Rechten“ erklärt und Grundrechte in Frage stellt nach dem Motto: „Ist der Bürger unbequem, gilt er gleich als rechtsextrem!“ So brachte es Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor fast genau zwei Jahren fertig, Demonstrationen, die sie lediglich erwartete, präventiv als illegitim und rechtsextremistisch vorzuverurteilen: „Natürlich besteht die Gefahr, dass diejenigen, die schon in der Corona-Zeit ihre Verachtung gegen die Demokratie herausgebrüllt haben und dabei oftmals Seite an Seite mit Rechtsextremisten unterwegs waren, die stark steigenden Preise als neues Mobilisierungsthema zu missbrauchen versuchen“, sagte sie dem Handelsblatt. Offiziell zu Herbstprotesten aufgerufen hatte übrigens die Linkspartei.
Gleichzeitig forderte Faeser die Distanzierung von vermeintlich verwerflichen Mitdemonstranten: „Demokratiefeinde warten nur darauf, Krisen zu missbrauchen, um Untergangsfantasien, Angst und Verunsicherung zu verbreiten …“ Es sei verantwortungslos, „die Ängste der Menschen zu befeuern, die von den stark steigenden Preisen besonders hart getroffen werden“. Mündige Bürger erst kollektiv in ein fiktives Nazi-Boot setzen, damit sie gar nicht erst einsteigen und besser den Mund halten, befand Ralf Schuler in der Weltwoche. Spätestens seit dieser Zeit ist die Semantik des „Bürgers“ als Citoyen, als Souverän, als Landeskind und Einheimischer in eine massive ideologische Schieflage geraten. Denn erinnern wir uns: Wer im Winter 2023/24 auf der Straße gegen die wohlstandsvernichtende Ampelregierung protestierte – eine breite Bewegung der Mittelschicht von zehntausenden Handwerkern, Truckern, Gastronomen, Ärzten und Jägern –, wurde vom politmedialen System in die staatsgefährdende Ecke gestellt – wie im Herbst 1989.
Vor allem das Framing der Öffentlich-Rechtlichen lief auf vollen Touren: „Aktuelle Kamera reloaded“, befand Olaf Opitz bei Tichys Einblick TE. So sei langfristiges Ziel der Demonstranten: „Einen Umsturz herbeizuführen … Kurzfristig aber auf jeden Fall: Das Land lahmzulegen, für Instabilität und Unsicherheit in der Bevölkerung zu sorgen“, wie sich Olaf Sundermeyer im WDR sorgte. Aber am 17. Oktober 1989 kommentierte Lutz Herden schon auf DDR1: „Der Mehrheit der Demonstranten soll hier nicht unterstellt werden, sie wollten dieses Land aus den Angeln heben… Dieses Gespräch wird sich nicht auf der Straße führen lassen. Die Türen sind offen. Wer nicht hindurchgeht, wird sich die Frage gefallen lassen müssen, ob er es ehrlich meint. Ehrlich mit dieser Gesellschaft, diesem Land, seinen Menschen.“
Der Aufruf des Neuen Forums, das am 8. November 1989 offiziell zugelassen wurde, begann damals so: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört“. Der Satz könnte auch für die aktuelle Situation stehen, wenn man „Staat“ durch das politmediale System aus (Alt-)Parteienstaat und staatshörigen Medien sowie „Gesellschaft“ durch Bürger substituiert. Das hat das System denn doch erkannt und Gegenmaßnahmen ergriffen, um „den Bürger“ aufzuwerten und ihm Gefühle des Gehörtwerdens, ja der Entscheidungsteilhabe zu verschaffen: eine politisch-autoritative und eine medial-manipulative. Perfide in ihrer Wirkung sind beide – und daher vom unmündigen Bürger kaum zu durchschauen.
Instrument einer gelenkten Demokratie
Die politisch-autoritative besteht seit rund zwei Jahren in der kommunalen bis nationalen Etablierung eines „Stellvertretergremiums“ für mehr Bürgerbeteiligung namens „Bürgerrat“. Eigentlich besitzt Deutschland schon einen Bürgerrat, und zwar unter dem Namen Bundestag, erkannte Anna Gröning in der Welt völlig zu Recht. Und eigentlich gehört es zur Aufgabenbeschreibung von Abgeordneten, mit Bürgern zu sprechen, um deren Ansichten in ihrer politischen Arbeit zu berücksichtigen. Im Mai 2023 hatte eine Bundestagsmehrheit dennoch beschlossen, sich für dieses Gremium einzusetzen, das die Aufgabe übernehmen soll, dem Bundestag in politischen Fragen Empfehlungen zu geben – das Premierenthema lautete: Ernährung. Wer sich näher mit der Genese dieses in der Verfassung nicht vorgesehenen Gremiums befasste, wunderte sich nicht, dass alle neun Punkte der Empfehlungen fast eins zu eins dem grünen Parteiprogramm entsprachen.
Eine Gruppe zufällig ausgewählter Menschen erarbeitet zu einem festgelegten Thema Ideen und Lösungsvorschläge und gestaltet so maßgeblich die Entwicklung des Landes oder der Stadt mit – das ist der Grundgedanke von Bürgerräten, neudeutsch auch Bürger:innenräten. In Lüneburg hat es dieses Jahr einen solchen erstmals gegeben, das Beteiligungsformat soll nun einmal im Jahr fest in der Stadt etabliert werden. Wie die 30 Bürger ausgewählt wurden, bleibt unklar. Anders die Stadt Böblingen: In einem einjährigen Leitlinienprozess möchte sie dafür Spielregeln entwickeln und spricht von einem „trialogischen“ Prozess, bei dem Bürgerschaft, Verwaltung und Gemeinderat miteinbezogen werden sollen. 22 Menschen bewarben sich, von denen zwei – weil sie nach eigenen Angaben zu kritisch seien – nicht genommen wurden.
Alexander Wendt verallgemeinerte auf TE ein „Instrument einer gelenkten Demokratie, die Debatten nicht führt, sondern simuliert“. Denn worüber der Rat debattieren soll, entscheidet er nicht selbst – sondern der Bundestag per Mehrheit, konkret mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und der Linkspartei. Und schon die vorgegebene Fragestellung lenkt die Debatte: „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“. Die Möglichkeit, dass es sich bei der Ernährung um eine reine Privatangelegenheit handelt, die den Staat nichts angeht, scheidet also schon von vornherein aus, ärgert sich Wendt. Zudem gehen die Bürgerratsmitglieder nicht aus einer Wahl hervor: Wer hineinkommt, entscheidet ein undurchsichtiges Losverfahren. Dabei wurden per Algorithmus zunächst 20.000 Personen in 82 ebenfalls ausgelosten Gemeinden ermittelt; von den 2.220, die sich dann zur Teilnahme bereit erklärten, siebte der Algorithmus noch einmal so lange aus, bis 160 übrigblieben.
Angeblich sollen die nach Alter, Geschlecht, Herkunft und Bildungshintergrund genau die deutsche Bevölkerung abbilden. Die Namen der Ratsmitglieder und Angaben zu ihrem Hintergrund sucht man auf der entsprechenden Bundestagsseite vergeblich, ebenso den Auswahlalgorithmus, was die Überprüfung der Ausgewogenheit praktisch unmöglich macht, beklagt Wendt. Für etwas Transparenz über den Verlauf der Beratungen sorgte ein Bürgerratsmitglied – Stefan Staudenecker aus Ehingen in Baden-Württemberg, der im November 2023 das Gremium aus Protest wegen der aus seiner Sicht offenkundig einseitigen Lenkung verließ. Der Schwäbischen Zeitung sagte er, vor allem die Hauptmoderatorin Jana Peters sei „eher politisch grün und links“. Kein Wunder: 2021 war Peters Vorsitzende der Grünen in Bad Vilbel, im gleichen Jahr kandidierte sie für den Bundestag. Außerdem arbeitet Peters für das Beratungsunternehmen ifok, das wiederum zu dem Konsortium gehört, das den Bürgerrat organisiert.
Lügen sind legal
Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), forderte im Februar einen Bürgerrat, um die Einführung eines allgemeinen Dienstes in Bundeswehr und Zivilorganisationen zu erörtern: „Das Thema gehört in den Bundestag und in die Mitte unserer Gesellschaft. Ein Bürgerrat verbindet beides vortrefflich“. Und im Juni sprachen sich die Ampel-Fraktionen grundsätzlich für eine Aufarbeitung der deutschen Corona-Politik in einem Bürgerrat aus. Allerdings erkannte Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, im Stern richtig: „Die politische Aufarbeitung gehört ins Parlament“. Die Verantwortung habe bei den politischen Entscheidungsträgern gelegen, jetzt sei es die Verantwortung der Parlamentarier, die Entscheidungen zu prüfen und Schlüsse daraus zu ziehen. „Es kann und darf nicht sein, dass wir als Parlamentarier die Verantwortung für das, was geschehen ist, an eine zusammengewürfelte Versammlung von Bürgerinnen und Bürgern abgeben“.
Letzter Akt des Beteiligungstheaters: Der „Bürgerrat Forum gegen Fakes“. In dem von der Bertelsmann-Stiftung organisierten Gremium hatten unter der Überschrift „Gemeinsam für eine starke Demokratie“ 120 zufällig ausgeloste Bundesbürger aus 424.000 Beteiligten einen ausführlichen Forderungskatalog erstellt. Flankiert durch Online-Befragungen wurden insgesamt 15 Politikempfehlungen mit 28 konkreten Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation ausgearbeitet und das entstandene „Bürgergutachten“ Mitte September an Innenministerin medienwirksam Nancy Faeser (SPD) überreicht. Das aber wirft erhebliche Zweifel auf „am Debattenverständnis der Beteiligten und an dem, was in besorgten Kreisen derzeit unter ‚starker Demokratie‘ firmiert“, meint Michael Bröning in der Welt, immerhin Mitglied der SPD(!)-Grundwertekommission. Er schreibt von einer „Handlungsanweisung in Sachen Meinungskontrolle. Demokratische Erneuerung wird so zu autoritärer Versuchung“ und erkennt „Rückzugsgefechte eines Milieus, das um seine Deutungshoheit fürchtet“.
Obwohl einige Vorschläge wie die Kennzeichnung von Beiträgen, die auf Künstlicher Intelligenz beruhen, durchaus überzeugend anmuten, beschränkt sich das Forum nämlich „nicht auf gesunden Menschenverstand, sondern versteigert sich zu umfassender Diskurskontrolle“. Das beginnt beim Desinformationsbegriff. „Die Bedeutung dieses Schwammwortes variiert je nach Absender, womit über seine Sinnhaftigkeit eigentlich auch schon alles gesagt wäre. Doch davon lässt man sich – zumindest in Deutschland – freilich nicht abschrecken. … Was genau kann und soll also dabei herauskommen, wenn die Bundesregierung in Gestalt der sozialdemokratischen Innenministerin Nancy Faeser sogar an einer Früherkennungseinheit in Sachen Desinformation arbeitet, wo es doch schon so schwer ist, sich auf eine klare Umreißung des Gegenstandes zu einigen?“ so Anna Schneider ebenfalls in der Welt.
Auf Faesers Website heißt es etwa: „Mal werden Dinge völlig frei erfunden, mal absichtlich aus dem Zusammenhang gerissen, zugespitzt oder wesentliche Informationen weggelassen.“ Das beschreibt auch zunehmend das Gebaren der öffentlich-rechtlichen Medien. Und so sind Lügen nicht nur von der Meinungsfreiheit gedeckt, „da sich das Grundgesetz herzlich wenig für etwaige Desinformations-Kategorisierungen interessiert. Lügen sind legal, sofern sie nicht gegen das Strafgesetzbuch verstoßen“, so Schneider. Offenbar ist selbst ein Gummiparagraf solider. „Was durchgehend fehlt, ist jedes Verständnis für die Schwierigkeit, objektive Wahrheit abzubilden und Wahrheitsurteile in der Politik von Werturteilen zu trennen“, so Bröning.
Medienkompetenz als Pflichtmodul
Schon im Februar dieses Jahres wies der Medienwissenschaftler Christian Hoffmann im DLF darauf hin, dass der öffentliche Diskurs in dieser Angelegenheit stark am Forschungsstand vorbeigehe. Das Thema Desinformation bekomme nicht zu wenig, sondern eher zu viel Aufmerksamkeit: „Wir wissen inzwischen, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger sehr wenig Fake News sehen. Und auch die Wirkungen von Fake News sind nach wie vor unklar. Also insofern scheint mir eigentlich, dass wir sehr viel Aufmerksamkeit richten auf ein Thema, das wir eigentlich noch wenig verstanden haben bisher.“ Es gebe nur eine sehr kleine Minderheit von Bürgern, die relativ intensiv Fake News konsumieren und diese sogar gezielt suchen würden, die ihr Weltbild bestärken und bestätigen, so Hoffmann. „Die öffentliche Vorstellung, dass Bürgerinnen und Bürger im Netz unschuldig herumsurfend über Fake News stolpern und dadurch in die Irre geführt werden, können wir in den Daten eigentlich überhaupt nicht feststellen.“ Es könnte also durchaus sein, dass Menschen auch im Jahr 2024 noch fähig sind, sich ihres Verstandes zu bedienen.
Medienkompetenz müsse als Pflichtmodul – an Altersstufe, Lernniveau und den soziokulturellen Hintergründen angepasst – in alle Semester des Lehramtsstudiums aufgenommen werden, lautete eine weitere „Empfehlung“. Zudem wird ein „Desinformationsranking von Aussagen politischer Akteurinnen und Akteure“ während des Zeitraums des Wahlkampfes vorgeschlagen. Dieses Ranking solle von einem gemeinwohlorientierten, unabhängigen Medienhaus/Kollektiv, beispielsweise Correctiv, aus kontinuierlich gesammelten Daten erstellt werden. Ausgerechnet Correctiv, das durch seine Fake News über ein angebliches Potsdamer „Geheimtreffen“, bei dem die „Remigration“ deutscher Staatsbürger geplant worden wäre, unrühmliche Bekanntheit erlangt hat. Das Ranking solle von Stiftungen, Unternehmen, Organisationen (bspw. „Initiative Transparente Zivilgesellschaft“) und durch private Spenden finanziert werden.
Alternativ-Parlament zusammencasten
Andere Vorschläge dagegen sind nicht nur gefährlich, sondern schlicht verfassungswidrig; etwa der, Posts in Social Media vor einer Veröffentlichung von einer Künstlichen Intelligenz auf ihre Zulässigkeit überprüfen zu lassen. „Das lässt sich mit der Meinungsfreiheit nicht im Ansatz vereinbaren“, empört sich der Oldenburger Medienrechtlicher Volker Boehme-Neßler im Cicero. Und es zeige ein erschütterndes Menschenbild: „Ob eine Meinungsäußerung gut ist, entscheidet nicht mehr der mündige Mensch. Das entscheidet eine Künstliche Intelligenz. Der Bürgerrat schlägt ernsthaft vor, dass sich die Menschen selbst entmündigen sollen?“ Wenn der politische, nicht rechtliche Einfluss von Bürgerräten auf die Parlamente zu groß wird und sie die Gesetzgebung dominieren, führe das zu einer Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie.
Die Zusammensetzung des Bürgerrats ist überdies nicht vollständig transparent, beklagt Martina Binnig auf achgut. Zwar sei ein Gruppenfoto in der 60seitigen Broschüre abgebildet und würden die Namen etlicher Teilnehmer aufgelistet, doch darunter wird klein gedruckt vermerkt, dass 27 weitere Personen an einer oder mehreren Sitzungen des Bürgerrats teilnahmen, die einer namentlichen Nennung nicht zugestimmt haben. „Da wüsste man natürlich schon gerne, warum sie nicht zugestimmt haben und ob sich unter diesen Personen vielleicht doch einige befanden, die bestimmten NGOs oder Parteien zuzuordnen wären“, so Binnig in ihrem umfangreichen Essay zu den Verquickungen zwischen Parteien und Bertelsmann. Ihr drängt sich prompt der Verdacht auf, dass das Bürgergutachten „lediglich ein Citizen-Washing-Projekt ist, mit der die Politik der Bundesregierung durch einen angeblichen Bürgerwillen abgesegnet werden soll.“
Ein Parlament, das seine ureigene Aufgabe faktisch an einen Bertelsmann-Bürgerrat abgibt, wäre „krass verfassungswidrig“, resümiert Boehme-Neßler. Das findet auch Staatsrechtler Ulrich Vosgerau (CDU) auf X, denn hier würde sich die Exekutive ein „Alternativ-Parlament“ nach eigenem Geschmack erst „zusammencasten“, das dann die Regierung am Ende eines von dieser kuratierten „Meinungsbildungsprozesses“ um bestimmte Maßnahmen bittet. Und die Empfehlungen des Bürgerrates sind „verfassungsfeindlich, weil sie auf eine Abschaffung der Meinungsfreiheit wie des Demokratieprinzips hinauslaufen. Denn hier soll der Staat entscheiden, was richtig oder falsch ist, und die Bürger dann zwangsweise schulen; Abweichungen von staatlich als ‚wahr‘ definierten Anschauungen sollen nach den Empfehlungen des Bürgerrats künftig strafbar sein.“ Offenbar ist die Ampelregierung oder Innenministerin Faeser, wie er bilanziert, inzwischen an einem Punkt angelangt, „zu dem radikale Linke früher oder später immer kommen: man merkt, dass man ohne Einführung einer Diktatur irgendwie nicht weiterkommt!“
Bürgerräte statt Bürgerrechte
Denn „Alle Macht den Räten“ war die Parole, die Lenin ausgab, nachdem die Bolschewiki bei den ersten und einzigen Wahlen nach dem Sturz der Monarchie in Russland klar gescheitert waren. Damit wurde der Putsch gegen die weniger radikalen Fraktionen der russischen Revolutionsparteien und die massenhafte Verfolgung von deren Mitgliedern und Anhängern eingeleitet. Für Wolfgang Ackner tickt die Bertelsmann-Installation „vermutlich ausnahmslos rotgrün“. Das sei natürlich praktisch, „wenn man eine medial und gestaltungstechnisch brutal überpräsentierte Kleinpartei ist, die gerade im Osten kurz vor dem Rausschmiss aus den Parlamenten steht, auch im Westen stark an Zustimmung verliert und man trotzdem weiter ungebremsten Zugriff auf die staatlichen Tröge und die Richtlinien der Politik haben möchte“, schreibt er auf Facebook. „Manchmal frage ich mich schon, was unsere Verfassungsschützer und Verfassungsrichter eigentlich beruflich machen.“ Bürgerräte statt Bürgerrechte scheint das neue Motto der Bundesregierung zu sein.
„Ich persönlich glaube nicht, dass uns derartige Relativierungen der repräsentativen Demokratie helfen“, meint der CDU-Bürgerbeauftragte Philipp Amthor MdB in der Zeit, ja spricht von „Entparlamentarisierung“. Aber auch der umgekehrte Fall ist für Boehme-Neßler problematisch: Weil Bürgerräte keine verbindlichen Entscheidungen treffen dürfen, ist die Gefahr groß, dass sie im politischen und gesellschaftlichen Alltag irrelevant bleiben und keine Auswirkungen haben. Dann aber „wären sie pseudodemokratische Veranstaltungen, die den Bürgern Einflussmöglichkeiten vorgaukeln, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Für das Vertrauen der Bürger in die Demokratie wäre das schädlich.“ Der Augsburger Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner spricht in der Welt nicht nur von „Vorzensur“, sondern wirft dem Projekt gar vor, „die Bürger an der Nase herumzuführen“. Es sei unseriös und intransparent, die Öffentlichkeit darüber im Unklaren zu lassen, dass es sich um einen „von einer privaten Organisation aufgesetzten“ Bürgerrat handle und nicht um das vom Bundestag legitimierte Original – auch wenn „Bürgerrat“ kein verfassungsrechtlich geschützter Begriff ist, sei der Vorgang „politisch unschön“, ja „bizarr“.
Die Grünen sind begeistert, obwohl das Ergebnis dieser „teuren Form der obrigkeitlich verordneten Beschäftigungstherapie“ zum „Gruseln“ ist, konstatiert Susanne Gaschke in der NZZ. Denn Fraktionsvize Konstantin von Notz MdB kündigt in einer Pressemitteilung nicht nur eine „ressortübergreifende Strategie gegen Desinformation“ an, sondern meint auch, der Staat müsse „Nutzerinnen und Nutzer, öffentliche Diskurse und demokratische Willensbildungsprozesse gerade im Kontext von Wahlen schützen. Regulierung bleibt das Gebot der Stunde“. Eine „Orwell’sche Sprachverdrehung“ erkennt Riegel: Aus Maßnahmen zur Einschränkung von „offiziell“ als „Desinformation“ markierten Beiträgen wird bei von Notz ein „Schutz“ der demokratischen Willensbildungsprozesse. Er übernehme indirekt einen Teil der Vorschläge des „Bürgerrats“: „Werden hier Pseudo-Parlamente benutzt, um indirekt Stimmung gegen geltendes Recht, z.B. die Meinungsfreiheit, zu machen?“
Andere Kommentatoren sehen Anfänge eines „Wahrheitsministeriums“, das nicht mehr zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit unterscheidet. Meinungsfreiheit sei das Betriebssystem unserer Demokratie, fasst Bröning zusammen: „Ohne sie sind alle anderen Freiheiten bedeutungslos, weil sie dann nicht mehr verteidigt werden können.“ Für Christian Dorn höhlen in Bürgerräte das parlamentarische Prinzip der Bundesrepublik aus und betreiben damit ganz real eine „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, wie er in der Jungen Freiheit JF erklärt. Und für Alexander Wendt geht es bei TE „nicht um die Bekämpfung von Desinformation, sondern um Kontrolle der öffentlichen Kommunikation … durch die Empfehlungen des zusammengecasteten Rats weht ein Hauch von Nordkorea“.
Sie verhöhnen uns ganz offen
Die medial-manipulative Gegenmaßnahme nun kam im Gewand von Fernsehunterhaltung als Spielshow daher, nannte sich Die 100 und wurde vom NDR in Hamburg produziert. Das Konzept, das nach zwei Pilotsendungen in dritten Programmen nun in der ARD zur besten Sendezeit lief: eine Stunde lang bewegen sich auf einer Bühne als „Spielfeld“, das Claudio Casula auf Nius an Michael Schanzes Kinder-Spielshow „1, 2 oder 3“ erinnerte („Ob Ihr recht habt oder nicht, sagt euch jetzt das Licht“), andere gar an ein Rugbystadion, einhundert im Wortsinn durchnummerierte Bürger ständig hin und her und beziehen dabei auf gestaffelten Markierungslinien eine mehr oder weniger deutliche Ja-Nein-Position zu den Fragen der Moderatoren – eine im wahrsten Wortsinn „Abstimmung mit den Füßen“. Ein „scheinrepräsentatives Bürgerratsfernsehen“, ja einen „Polit-Porno“ erkennt Ulrich Clauß in der JF.
Geadelt wird das Ganze durch die Aura ultimativer Nachrichtenkompetenz: Als Moderator fungiert Ingo Zamperoni von den Tagesthemen, als eine Vertreterin der Pro-Argumente Anna Planken vom Morgenmagazin. Zamperoni erklärte übrigens einst der Augsburger Allgemeinen: „Gerade in Zeiten wie diesen sollten Journalisten nicht als Aktivisten auftreten.“ Und es sei „nicht unsere Aufgabe, eine Strömung, eine Partei oder irgendwas zu verhindern oder zu befördern.“ Nebenbei: Die Show wurde umgehend für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Dass sie nach den vielen Vorwürfen, die gleich zu erörtern sind, leer ausging und stattdessen das Böhmermann-Format „Lass dich überwachen“ (!) gewann, ist da keinerlei Trost: „Sie verhöhnen uns ganz offen. Und lassen uns auch noch selbst dafür bezahlen“, ärgert sich Boris Reitschuster. „Schade, dass Karl-Eduard von Schnitzler das nicht mehr erleben konnte“, ironisiert Casula und erinnerte daran, dass dessen Propaganda-Show „Der schwarze Kanal“ auch montagabends lief.
Nicht die AfD, sondern die ARD ist inzwischen zum Problem für die Demokratie geworden, resümiert der pressepolitische AfD-Fraktionssprecher Baden-Württembergs Dennis Klecker MdL. Denn die Hauptfrage der Sendung lautete: „Ist die AfD eigentlich ein Problem für die Demokratie?“, und das sechs Tage vor der Brandenburgwahl, deren Vorwahlumfragen allesamt die AfD vor der SPD sahen – ein Schelm, der Arges dabei denkt. „Was das ‚eigentlich‘ in dieser Fragestellung zu suchen hat, war dabei noch die größte intellektuelle Herausforderung für den Zuschauer“, ergötzte sich Ben Krischke im Cicero. Er erkennt ein kitschiges „Schlagwort-Bingo …, wie man das aus einschlägigen Demokratieretterkreisen bereits kennt.“ Seichteren Gemütern müsse es beim Zusehen „tatsächlich Angst und Bange geworden sein vor dieser Partei“. So offenbarte ein halbjunger Mann seine Angst vor der AfD, weil er schwul sei. Warum ein schwuler Mann Angst vor einer Partei hat, deren Vorsitzende lesbisch ist, fragte Zamperoni nicht – ein Beweis, dass Framing nicht nur dadurch entsteht, dass etwas hinzugefügt wird, sondern auch dadurch, dass etwas weggelassen wird.
Oder es wurden aus dem Kontext geschnittene Aussagen von AfD-Politikern kombiniert mit einem auf Großbildschirmen mahnenden Michel Friedman. Der fabulierte in einer theaterähnlichen Inszenierung, er als Jude sitze wegen der AfD auf gepackten Koffern. Das wurde dadurch übertrieben, dass in der Mitte des Spielfelds tatsächlich ein dramatisch ausgeleuchteter Koffer stand, was stellenweise unterlegt wurde mit Bildern aus der NS-Zeit. Das hatte nicht nur wenig mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu tun, sondern war für Krischke „auch insofern Foulspiel, da die AfD in der Migrationsdebatte vor Antisemitismus warnt.“ Die Macher schreckten dabei auch nicht vor Infantilisierung zurück: An einer Stelle etwa sollten die Teilnehmer ein Haus der Demokratie mit einem roten Dach aus einzelnen Teilen zusammenstecken, auf dem in schwarzen Lettern „Demokratie“ stand. An anderer Stelle wurde der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland bei einem Quiz eingeblendet, dann die Quizfrage, vorgetragen von „Checker Tobi“ Tobias Krell: „Wer ist schuld am Klimawandel?“ „A: Der Mensch. B: Die Sonne. C: Der Mond.“ Oder: „Womit schützt man unsere Kinder?“ „A: Mit Fahrradhelmen. B: Mit gutem Kinderfernsehen. C: Mit Hitlergrüßen.“ Das ist kein Witz. Krell bekundet offen, dass er die AfD hasst: Auf X etwa verwendete er den Hashtag „FckAfd“, und die schrankenlose Migration befürwortet der „Refugees-welcome“-Mann natürlich auch.
Als „Geschenk für die AfD“ bezeichnete Frédéric Schwilden in der Welt diesen „Waldorfkindergarten mit Bessermenschen“: „falsch, gewollt und schlampig umgesetzt“. Alexander Kissler stellte auf X fest: „Der Pflichtbeitrag bekommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht. Als leistungsloses Einkommen macht er träge im Kopf, faul im Geist und feige in der Haltung.“ Am Ende bleibt die Interpretation einer Abschreckungsveranstaltung für all jene, die die Nase voll haben von der etablierten Politik, ja als Umerziehungsshow für potenzielle AfD-Wähler. Angesichts dieses Settings bekommt der Oktoberklub-Gassenhauer „Sag mir, wo du stehst“ eine neue alte Bedeutung, wird darin doch der Adressat („Du“) von einem gleichsam gewissenserforschenden sozialistischen Kollektiv, das sich selbst auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts sieht („wir bringen die Zeit nach vorn Stück um Stück“), aufgefordert, sich „zu erkennen“ zu geben, die „nickende Maske“ abzulegen und damit das „wahre Gesicht“ zu offenbaren.
Psychotische DDR-Propaganda im Endstadium
„Wie groß muss die Angst des politmedialen Systems eine Woche vor der Brandenburg-Wahl inzwischen sein, so einen grotesken Kampf gegen die AfD zu führen?“, fragte Klecker und erkannte „psychotische DDR-Propaganda im Endstadium“. Selbstverständlichkeiten wie „Unser vorhandener Wohnraum ist erstmal für Einheimische da“ zu bester Prime Time zu „Hass“ und „Rassismus“ umzudeuten, sei versuchte Umerziehung schlimmster Sorte. Und Aussagen wie „Die AfD greift unser Verständnis von Wahrheit und Wissenschaft an“ sei Demagogie gegen politische Positionen ohne jede weitere inhaltliche Auseinandersetzung. Er forderte SWR- und ARD-Chef Kai Gniffke (SPD) auf, das Hetzformat umgehend einzustellen. Dessen dröhnendes Schweigen zu den Unerträglichkeiten der Show ist ein Schuldeingeständnis, erkannte Klecker einen gleich mehrfachen Verstoß gegen geltendes Recht.
Zum einen, weil die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten laut Rundfunk-Staatsvertrag „in besonderem Maße der Einhaltung journalistischer Standards, insbesondere zu Gewährleistung einer unabhängigen, sachlichen, wahrheitsgemäßen und umfassenden Information und Berichterstattung wie auch zur Achtung von Persönlichkeitsrechten verpflichtet“ sind. Und zum anderen, weil der für den produzierenden NDR maßgebende Medienstaatsvertrag Hamburg/Schleswig-Holstein vorschreibt: „Die Sendungen dürfen nicht einseitig einer Partei, einem Bekenntnis, einer Weltanschauung oder einer sonstigen Gruppe dienen.“ In der Verantwortung sah Klecker auch ARD-Programmchefin Christine Strobl, „zufälligerweise die Frau unseres Innenministers“. Das ist leider nur die eine Seite des zwangsgebührenfinanzierten Spektakels.
Die andere, skandalösere geschah unter dem Hashtag # Die100 im Internet: Viele Nutzer – offenkundig ebenso viele wie die acht Prozent Einschaltquote – überprüften nämlich die Protagonisten – „eine Fünfte Gewalt aus Bürgern in den sozialen Netzwerken steht zunehmend der Vierten Gewalt aus Pressevertretern gegenüber“, freuten sich Lorenz Bien und Gil Barkei in der JF. Mehrere Teilnehmer der Sendung entpuppten sich prompt als Politiker linker Parteien, Laiendarsteller und Schauspieler – ohne dass dies durch die ARD kenntlich gemacht wurde. Den Stein ins Rollen brachte der Kandidat Michael Schleiermacher. Der als „Bankkaufmann“ beschriebene 54jährige wandelte sich zum Ende der Sendung vom AfD-Anhänger zum geläuterten AfD-Kritiker und sagt, die Partei sei „ein Wolf im Schafspelz“. Verschwiegen wird, dass Schleiermacher aufgrund einer Behinderung nicht mehr in seinem Beruf tätig ist und stattdessen regelmäßig als Laienschauspieler arbeitet, unter anderem im Tatort.
Manipulation statt Information
Ein „Student aus Barsinghausen“, Dennis Knorn, erklärte, dass die Sendung helfen könne, „die verschiedenen Meinungen zu visualisieren“. Dass er seit März SPD-Chef im niedersächsischen Egestorf ist, erfährt der Zuschauer ebenso wenig wie ihm der Arbeitspädagoge Kofi Bernd Räder nicht als Kreistagspolitiker der linken Satirepartei „Die Partei“ vorgestellt wurde. Ebenfalls Gast waren der SPD-Kommunalpolitiker Martin Hobmeier, die ehemalige Linken-Abgeordnete Bärbel Beuermann, deren Wechsel zur SPD verschwiegen wurde, oder der 57jährige „Inklusionskünstler“ Arne Arnemann, der bei einer Kommunalwahl für die SPD kandidiert hatte. Selbst die AfD-Unterstützerin Christina-Maria von Gusinski entpuppte sich als Komparsin, die an öffentlich-rechtlichen Produktionen wie etwa dem ZDF-Film „Abgebrannt“ mitwirkte. Auf dem Profilfoto ihrer Agentur-Seite trägt sie dieselbe Kleidung wie in der „Die 100“-Sendung. Bei der besagten Agentur Stagepool ist auch Michael Schleiermacher sowie „Teilnehmer 42“ Harry Leutfried Tomberg gelistet.
Nius warf der ARD prompt „Manipulation statt Information“ vor. AfD-Chefin Alice Weidel fordert eine umgehende Aufklärung des Skandals. „Der ÖRR gibt sich nicht einmal mehr den Anschein, politisch ausgewogen zu sein, und strahlt kurz vor der Wahl in Brandenburg eine Anti-AfD-Sendung aus“, schrieb sie auf X. Für den stellvertretenden Bundessprecher der AfD, Stephan Brandner, steht angesichts „solch plumper Beeinflussung der Wähler“ fest: „Der zwangsfinanzierte Regierungsrundfunk muss abgeschafft werden!“ Die 18,36 Euro im Monat nimmt die ARD aber auch von Rechts- und Protestwählern gern. Der Brandenburger Spitzenkandidat Hans-Christoph Berndt stellte klar, die Öffentlich-Rechtlichen hätten „in diesem Wahlkampf alle Argumente für die Abschaffung der GEZ-Finanzierung geliefert und manifestiert“, und drohte mit dem Boykott von ARD-Journalisten am Wahlabend. Georg Restle vom WDR-Format Monitor stellt die Auffälligkeiten prompt als zufällige Fehler dar und schreibt auf X, wer behaupte, „das sei böse Absicht gewesen, verbreitet Verschwörungsmythen“.
Denn „auch Hobby-Komparsen haben eine politische Meinung“, dekretiert Annika Schneider auf Übermedien: „Dass unter Menschen, die sich mit ihrer Meinung freiwillig ins Fernsehen begeben, überproportional viele politisch Aktive sind, ist aber naheliegend und nicht per se skandalös. Es wäre fatal, wenn sich Redaktionen in Zukunft den kruden Krawalllogiken rechtsextremer Akteure unterwerfen würden.“ Und prompt verteilt sie selbst Medienschelte: „Wahrscheinlich ist, dass Rechtspopulisten in jedem Fall etwas gefunden hätten, um die Sendung anzugreifen und sich die Kampagne gar nicht verhindern ließ. Was sich durchaus hätte verhindern lassen: Dass diverse Medien mit ihrer Berichterstattung dabei so bereitwillig mitziehen.“ Das wertet Anna Diouf auf TE entgegengesetzt: „Wenn von 100 Menschen, die zumindest tendenziell die Gesamtgesellschaft und den Durchschnittsbürger abbilden sollen, über ein Dutzend Schauspieler und Politiker sind, so stellt diese Überrepräsentation so oder so eine unangemessene Verzerrung dar, die kaum mehr als authentisch gelten kann.“
Möglichst bunte Mischung vor Ort
Die zuständige Produktionsfirma Ansager & Schnipselmann des ehemaligen ARD-Moderators Frank Plasberg gibt sich schmallippig und bittet auf JF-Anfrage darum, sich „zu allen Fragen“ an den NDR zu wenden. Der wiederum verweist lediglich auf die wegen der scharfen Kritik aktualisierten FAQ und betont: „Der Norddeutsche Rundfunk weist die erhobenen Vorwürfe zur Produktion ‚Die 100’ als falsch zurück. Es werden keine Darstellerinnen oder Darsteller eingesetzt.“ Die Teilnehmer würden „erst kurz vor der Aufzeichnung der Sendung“ erfahren, „welches Thema behandelt wird“. Zwar werde versucht, „eine möglichst bunte Mischung vor Ort“ zu haben, weshalb „die Redaktion im Vorfeld auch nach allgemeinen politischen Ansichten fragt, um sicherzustellen, dass möglichst Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen“. Allerdings bildeten „die Teilnehmenden keinen repräsentativen Durchschnitt der Bevölkerung ab“. Zudem würden nur „die Reisekosten übernommen und ein Zuschuss zu den Hotelkosten gezahlt“. Fazit: „Niemand wird bezahlt, um eine bestimmte Meinung zu äußern, alle sollen ihre persönliche Meinung zum Ausdruck bringen.“
Angesichts der länger und länger gewordenen Liste von teilgenommenen Laiendarstellern und Schauspielern wirft Apollo News den Verdacht ein, der NDR habe, „nicht nur eine Sendung und seine Zuschauer manipuliert, sondern auch gegenüber Presse und Öffentlichkeit die Unwahrheit verbreitet“. Auch zu diesem Vorwurf äußert sich der NDR auf JF-Nachfrage nicht. „Die bloße Zurückweisung der Vorwürfe reicht laut FDP-Bundesvorstand Gerald Ullrich MdB nicht aus: „Wenn es Zweifel an der Zusammenstellung der Teilnehmer gibt, erreicht die Sendung genau das Gegenteil von der eigentlichen Absicht. Sie stärkt nämlich die AfD“, sagte er Nius. Allerdings wurden allein im Januar 2024 laut Auflistung des ÖRR Blog in 90 Fällen Politiker, eigene Mitarbeiter, Experten mit Parteibuch oder aus parteinahen Stiftungen interviewt, größtenteils ohne dies kenntlich zu machen, vor allem bei Berichten zu den Bauernprotesten und den Anti-AfD-Demos.
Das einzige wohl sicher nicht gescriptete Statement kam gegen Ende der Sendung von der 84jährigen Hotelkauffrau Brigitte Gromm aus Limburg: „Ich weiß, dass die AfD extrem ist, aber ich wähle sie trotzdem. Das ist Protestwahl. Ich höre immer nur, die fremden Menschen haben Angst. Es fragt kein Mensch, was wir Einheimischen für Angst haben. Ich traue mich bei mir zuhause kaum noch auf die Straße.“ Abgesehen davon, dass Zamperoni sogleich einhakte: „Haben Sie denn auch mal etwas erlebt oder ist das eher eine gefühlte Angst?“ – eine Frage, die er zuvor bei keinem der Teilnehmer gestellt hatte, die ihre Angst vor der AfD ausgedrückt hatten –, offenbart sich hier die grenzenlose Dummheit seriös scheinender Journalisten: Angst ist eine menschliche Primäremotion, die sich ergo immer auch (aber nicht nur) auf Gefühlsebene manifestiert, einerlei ob vor Tieren, anderen Menschen oder Naturphänomenen.
Diouf erkennt zwei „Hauptprobleme der redaktionellen Elfenbeintürme: Eine mittlerweile unverhohlene Verachtung des Publikums und das dringende Bedürfnis, die Realität nicht abzubilden, sondern sie zu manipulieren, um sie in aktivistischer Manier zu gestalten ... Wer ungeniert so tut, als müsse er sich für Fehler nicht entschuldigen, und vermittelt, über die finale Deutungshoheit des Weltgeschehens zu verfügen, wird über kurz oder lang verlieren.“ Sie erkennt einen „Gruppendruck“: Der „einfache Bürger“ soll den Zuschauern erklären, warum die AfD „unwählbar“ ist. „Wenn von hundert Menschen am Ende 68 der Ansicht sind, dass die AfD ein Problem sei, ja, da wird man sich doch wohl der Mehrheitsmeinung anschließen“, ätzt sie, „so funktioniert Demokratie doch, wenn sie lupenrein sein soll, oder nicht?“ Dass Manipulation hier billigend und fahrlässig in Kauf genommen wurde, ist für sie die wohlwollendste aller möglichen Deutungen. Versagt habe die ARD in jedem Fall: „entweder durch fahrlässige Faulheit in der Auswahl der Protagonisten und durch mangelnde Transparenz in der Angabe von Tätigkeiten, die die ‚Unvoreingenommenheit‘ der Teilnehmer beeinträchtigen könnten – oder aber durch bewusste Manipulation, die der Simulation freier Meinungsbildung und freien Diskurses gleichkommt“, womit sich der Kreis schließt.
Wir müssen gar nichts
„Egal ob Ukraine, Palästina, Klima, Corona, Trump, islamistische Messerstecher, Migration, Grenzsicherung, Verbrennermotoren, Atomkraft oder das Wahlverhalten durchschnittlicher Ostdeutscher, in Sekundenschnelle wird der deutsche Bürger ungefragt von seinen Regierenden und Berichterstattenden belehrt, was er zu denken, zu sagen und zu lassen hat, um nicht als Rechter oder gar als staatsgefährdendes Subjekt, Schwurbler, Rassist, Transphober und sonstiger Menschenverächter zu gelten“, erregt sich Birgit Kelle auf Nius. „Immer müssen ‚wir‘ Bürger gerade etwas tun, zulassen, respektieren, verstehen, leisten, integrieren, auf etwas verzichten, lernen oder tolerieren. Wer nicht diskussionslos zustimmt, macht sich verdächtig.“ Aber: „Wir müssen gar nichts. Weder gehorchen noch folgen noch schweigen und auch nicht tolerieren. Schon gar nicht, wenn unsere körperliche Unversehrtheit, unsere Freiheitsrechte, unser Wohlstand und die Zukunft unserer Kinder auf dem Spiel stehen. Es ist einer der größten Irrtümer der deutschen Migrationspolitik, dass wir sie wollen müssen.“
Gerade letztere hat wohl zu dem Wahlergebnis beigetragen, das trotz der Propagandashow zu verzeichnen war: Fast jeder dritte Brandenburger zwischen 16 und 24 Jahren gab seine Stimme der AfD, die insgesamt 29,2 % holte und knapp hinter der SPD landete. „Es gelang den Öffentlich-Rechtlichen, die konkurrierenden, in Umfragen über Monate haushoch führenden AfD-Kandidaten nahezu vollständig die Sichtbarkeit zu entziehen. Und so sah das staunende Wahlvolk, wie binnen acht Wochen ein 11%iger Umfragerückstand der SPD in einen fast zweiprozentigen Vorsprung verwandelt wurde – ein Vorgang, der in der bundesdeutschen Demoskopie einmalig sein dürfte“, wunderte sich Rocco Burggraf auf Ansage und erklärte den „trudelnden SPD-lastigen Staatsfunk“ zum eigentlichen Gewinner dieser Wahl. Aber gerade junge Menschen sind wie keine zweite Gruppe von einer „Migrationspolitik betroffen, die sie nie wollten und die ihre Heimat zum Negativen verändert hat“, so Jan A. Karon auf Nius. Öffentliche Räume, ob Fußgängerzonen, Schwimmbäder, Spiel- und Fußballplätze, Clubs oder Schulen, werden seit 2015 zunehmend und immer häufiger von muslimischer Überheblichkeitskultur dominiert: In Schulklassen und Sportvereinen wird nur noch gebrochen Deutsch gesprochen. Die Jugendkultur ist arabisch, Abifeiern werden gestürmt und enden in Schlägereien, Frauen fühlen sich unsicher, und die Erosion der inneren Sicherheit ist spürbar.
Und die Kriminalität ist nicht nur gefühlt präsenter, sondern auch brutaler geworden, wie die zunehmende Zahl an Messerdelikten beweist, gegen die jetzt Messerverbotszonen bemüht werden. Der Augsburger Psychologe Rüdiger Maas hat diese offenkundigen Zusammenhänge nun erstmals öffentlich erwähnt: in der „Jugendwahlstudie 2024“. Ralf Höcker fasst bei X zusammen: „Noch nie ist ein funktionierendes, hoch entwickeltes Industrieland mit brummender Wirtschaft und halbwegs intakter Gesellschaft in kürzester Zeit von ideologisch komplett freidrehenden Dilettanten derart sinnlos ruiniert worden.“ In dieser Situation nun brachte es die Publizistin Grit Poppe, Tochter des DDR-Bürgerrechtlers Gerd Poppe, fertig, im DLF das Wahlergebnis mit „mangelnder Bildung“ zu erklären – obwohl die Ostländer mit Sachsen und Thüringen an der Spitze laut INSM-Bildungsmonitor mit Abstand am besten abschneiden – und Flüchtlinge in Schulen gehen und Ostdeutschen etwas beibringen sollen.
Seit Merkel habe sich eine schulmeisterliche Haltung in der Politik und in den ihr verbundenen gesellschaftlichen Subsystemen des Kulturbetriebs, der Medien und der Wissenschaft verfestigt, beschreibt Susanne Gaschke in der NZZ das „düstere Gefühl“, dass „die ARD am Leben etlicher Zuschauer vorbeisendet“, obwohl die Programmverantwortlichen „doch permanent für alles eintreten, was gut und richtig ist“. Maßnahmen wie das jährlich 200 Millionen Euro schluckende Programm „Demokratie leben“ verstärkten den Eindruck, dass die Bevölkerung zur richtigen politischen Haltung erzogen werden soll: „Die politische Öffentlichkeit spürt die Absicht – und sie ist verstimmt. Viele Bürger reagieren mit Entfremdungsgefühlen oder mit Trotz.“ Gerade der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz sage ja oft sinngemäß, was die Regierung mache, sei gut – denn wenn es nicht gut wäre, würde sie es ja nicht machen: „Da ist erklärtechnisch sicher noch Luft nach oben“. Deutschland hat offiziell noch nie so entschlossen gegen „rechts“ agitiert – und zugleich gab es noch nie so viele Wähler rechter Parteien, wundert sie sich: „Irgendetwas an dieser Strategie muss falsch sein, und der Verdacht liegt nahe, dass es die Pädagogisierung der politischen Kommunikation sein könnte.“
Diese Pädagogisierung betrifft angesichts der AfD-Erfolge auch und gerade ein Ende der „Brandmauer“. Bei den „Rittern dieser pseudosouveränen Idee“ erkennt Stern-Chefin Franziska Reich „eine eitle Nihilisten-Pose, die Unsinn gebiert.“ Sage und schreibe elf Gründe rabulistert sie herbei, warum das Unsinn sei. Die Forderung „Sollen sie doch mal zeigen, was sie drauf haben“ etwa klingt für sie „nach Egoshooter-Träumchen postpubertärer Halbstarker“. Damit ist unter anderem NZZ-Chef Eric Gujer gemeint, der am 6. September schlagzeilte: „Ministerpräsident Höcke, na und?“ Gekrönt wird die Rabulistik mit der Aussage: „Millionen Wähler könnten aus falschen Motiven falsche Entscheidungen treffen. Sie holt man nicht zurück, indem man das Falsche adelt.“ Das ist auch kein Witz. Wen wundert bei so viel Arroganz noch die Einschätzung eines sächsischen Protagonisten in der ZDF-Doku „Ossiversum stabil? – Jung im Osten“, dass sich die Medien ihre Glaubwürdigkeit selbst „kaputtgemacht“ hätten? Treffender kann man die Misere nicht benennen. Und eine Lösung ist nicht in Sicht, so der Befund von Mathias Brodkorb im Cicero, solange der Westen an seiner Idee einer „Umerziehungsrepublik“ festhält und sich „noch immer wie die strengen Eltern eines leider schwer erziehbaren Kindes“ aufführt. Denn die AfD ist „ein Kind der anderen Parteien, ohne deren jahrelange Wirklichkeitsverleugnung, deren Wokeness und deren ‚Weiter so‘ wäre sie nie so stark geworden“, so Harald Martenstein in der Welt. „Nun, wo das ungeliebte eigene Balg groß ist, würde man am liebsten so tun, als existiere es nicht.“
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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