In der Pandemie lieferten zunächst viele Wissenschaftler, was Politiker hören wollten – um sich jetzt als Opfer unwissenschaftlicher Kritiker, ja Medium von Metaphysik umzudeuten. Das ist unverfroren.
Man könnte einen „Wer hat’s gesagt“-Wettstreit daraus machen: „Wir müssen Fehler in der Corona-Pandemie aufarbeiten und denen, die Impfschäden erlitten haben, beistehen. Und in Zukunft brauchen wir mehr Respekt vor denen, die andere als die Mehrheitsmeinung vertreten.“ Wer bei dieser Forderung an einen frustrierten, gar verurteilten „Querdenker“, „Corona-Schwurbler“ oder „Pandemie-Gegner“ denkt, liegt komplett falsch: Es war der einst die Flutschäden im Ahrtal weglächelnde Ex-CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet, der diese Botschaft am 19. März auf Twitter verkündete. „Ein Haupttäter setzt sich an die Spitze der Aufklärer … wenn das nicht opportunistisch und verlogen ist, was dann? Er hat mitgemacht“, kommentiert User Pinco Palino diese unverfrorene Äußerung eines Ministerpräsidenten, der Ungeimpften noch am 10.8.2021 im ZDF drohte, „sie werden an bestimmten Dingen nicht mehr ohne Test teilnehmen können. Und sie werden den auch selbst bezahlen müssen. Und das ist auch fair gegenüber den vielen Geimpften, die einen Beitrag zur Solidargemeinschaft leisten.“
Diese Unverfrorenheit geht einher mit einer ebenso oberflächlichen wie nachgeradezu hyperheuchlerischen Entschuldigungskampagne des politmedialen Komplexes, die von einer tiefgründigen Analyse der Corona-Maßnahmen und vor allem -Folgen ablenken soll. „Wir Corona-Versager“ textet etwa Alexander Neubacher im Spiegel und räumt ein, „dass einige Coronamaßnahmen fragwürdig, unsinnig, auch rechtswidrig waren“. Das Brandenburger Verfassungsgericht hat nach Klage der AfD-Landtagsfraktion entschieden, dass das sogenannte kommunale Corona-Notlagegesetz gegen die Landesverfassung verstieß, weil es die Gewaltenteilung aushebelte. Auch die ganztägige Ausgangssperre in Bayern hätte es so nicht geben dürfen: „Unverhältnismäßig“, urteilte mittlerweile das Bundesverwaltungsgericht. „Ich schrieb: ‚Die autoritäre Versuchung ist groß. Ich entdecke den Diktator in mir‘“, bekennt Neubacher, um dann zu reflektieren, „wie leicht die Freiheitsrechte in unserer angeblich so liberalen Gesellschaft suspendiert wurden“. Dann allerdings ablenkend zu fragen, ob „Freiheit für die Deutschen doch nur ein Schönwetterkonzept“ sei, ist Witz und Frechheit zugleich.
Selbst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) distanzierte sich im Nachhinein von einigen Corona-Maßnahmen, sprach bei Schul- und Kitaschließungen von „Exzessen“ der Bundesländer, bezeichnete „diese Regeln draußen“, etwa Verbote, sich in Parks aufzuhalten oder ohne Maske joggen zu gehen, als „Schwachsinn“. Ein Schelm, der nicht an eine konzertierte Aktion denkt: Denn parallel dazu starteten Versuche, die Rolle der Wissenschaft als Büttel von Corona-Politik umzudeuten zur Rolle als Opfer unwissenschaftlicher Kritiker, gar als Medium von Metaphysik – eine wissenschaftspolitische Volte innerhalb gerade eines Jahres, die in der Geistesgeschichte ihresgleichen sucht.
Kein individueller, sondern struktureller Missbrauch
Auslöser dieser Volte waren die anfangs unbeachteten neun „Wiener Thesen zur wissenschaftsbasierten Beratung von Politik und Gesellschaft“, die die Österreichische Akademie der Wissenschaften und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina anlässlich des „Joint Academy Day“ am 1. Februar 2023 in Wien veröffentlichten. Der aufgrund seiner Kritik an den überzogenen Corona-Maßnahmen suspendierte Leiter des Aichacher Gesundheitsamts, Friedrich Pürner, hatte sie später entdeckt und auf Tichys Einblick TE einer vernichtenden Kritik mit dem Tenor unterzogen: „Von Reflexion oder gar einem Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben, ist dieses Papier meilenweit entfernt […] Beim Lesen der Thesen entsteht der Eindruck, dass die Mitglieder weder Kritik ertragen können noch bereit für das Erkennen eigener Fehler sind.“
Denn liest man die drei Seiten, fällt die Kluft zwischen wohlfeilen Theoremen wie „Wissenschaft soll informieren, nicht legitimieren“ und der Praxis auf, die die Leopoldina in den letzten fünf ihrer insgesamt zehn Ad-hoc-Stellungnahmen übte. In der 7. Ad-hoc-Stellungnahme zu Weihnachten 2020 forderte sie die Politik etwa auf, die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown zu nutzen. Zudem wurde diese Aufforderung als alternativlos hingestellt. Dass diese Aussage mehr als dürftig war und keinerlei wissenschaftlicher Grundlage entsprang, ist heute hinreichend bekannt. Aber nicht nur das. Dieses Papier wurde als deutliche und letzte Warnung der Wissenschaft postuliert und die Politik aufgefordert, sie möge sich für „die Wissenschaft“ entscheiden.
Daraufhin hatte der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld, selbst Leopoldina-Mitglied, in einem Protestbrief an den Leopoldina-Präsidenten Gerald Haug seine „Bestürzung“ geäußert. Das Schreiben endete so: „In einer solchen Situation wissenschaftlicher und ethischer Kontroverse sollte die Leopoldina ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen, die vorgeben, eine bestimmte politische Position wissenschaftlich zu untermauern. Ich möchte Sie daher höflichst bitten, die entsprechende Stellungnahme umgehend als Stellungnahme der Leopoldina zurückzuziehen.“ Dafür wurde er als „Querdenker und Nestbeschmutzer“ (FAZ vom 11. Mai 2021) diffamiert. Bereits damals hatte Ferdinand Knauss auf TE treffend erkannt, dass für die Regierenden eine neue Krise heraufziehe, „die für sie schon bald viel dramatischer werden kann als die eigentliche Pandemie: der Verlust ihrer Glaubwürdigkeit.“
Denn die Experten werden von der Politik ausgesucht, nicht umgekehrt, führt er aus. „Und die Politik berät sich nur mit denen, mit denen sie sich beraten will. Die Politik braucht die Wissenschaft, um das zu begründen, was sie tun will. Aber sie ist nicht willens oder auch gar nicht fähig, mit dem umzugehen, was zu Wissenschaft unbedingt dazu gehört, nämlich unterschiedliche, sich auch widersprechende Perspektiven und Ergebnisse. Politiker wollen, dass Forscher möglichst laut sagen: Das, was ihr wollt, ist wissenschaftlich erwiesen.“ Das sei für Politiker einerseits in der schwierigen akuten Entscheidungssituation attraktiv, andererseits aber auch im Nachhinein zur Rechtfertigung des eigenen Handelns vor der Öffentlichkeit und zur Erleichterung der Last der Verantwortung. Knauss spricht nicht von individuellem, sondern strukturellem Missbrauch, den Politiker wohl seit jeher mit Wissenschaft treiben: Es finden sich eben stets genug Wissenschaftler, die „sich willig missbrauchen lassen“, wie Esfeld seinen Leopoldina-Kollegen vorwarf, zu denen auch Christian Drosten gehörte.
Im Dezember 2021 trug die zehnte und letzte Stellungnahme die Überschrift „Klare und konsequente Maßnahmen – sofort!“. „Mit gemäßigten und rein beratenden Aussagen hat das rein gar nichts mehr zu tun. Es ist vielmehr ein Schrei nach Aufmerksamkeit“, schimpft Pürner. Inhaltlich sahen die Autoren das Hauptproblem in Deutschland in der viel zu hohen Zahl noch ungeimpfter Menschen und begründeten dies mit Ansteckungsraten. Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass die Impfung bei der Zulassung nicht auf die Verhinderung einer Transmission gerichtet und untersucht wurde. „Die Leopoldina trat weder für die Freiheit und Wertschätzung der Wissenschaft ein, noch hat sie sich für die Achtung der Menschenrechte eingesetzt“, bilanziert er.
Und weiter: „Anstatt unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen wichtige gesellschaftliche Themen aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten, schwamm die Leopoldina im Strom der gewünschten Ergebnisse und surfte selbstzufrieden auf der Welle der Befeuerung der Gefahrenszenarien mit.“ Jörg Friedrich ärgerte in der Welt vor allem der Satz „Der Verweis auf ‚die‘ Wissenschaft (oder den Konsens namhafter Expertinnen und Experten) zum Zweck politischer Legitimation sollte akuten Krisensituationen vorbehalten bleiben, wenn unter hohem Zeitdruck und erheblicher Ungewissheit entschieden werden muss.“ (These 2) Denn „das soll bedeuten: Wir haben alles richtiggemacht. Schließlich hatten wir ja eine akute Krisensituation, schließlich war ja der Zeitdruck hoch, und da können und sollen wir auch mal so tun, als ob ‚die Wissenschaft‘ mit einer Stimme sprechen würde und es einen Konsens gäbe, der zur politischen Legitimation von Maßnahmen genutzt werden kann.“
Ausgegrenzt und stigmatisiert
Nachdem Bernhard Müller bereits am 20. Februar im Cicero eine Bundestags-Kommission forderte, um die Corona-Versäumnisse gründlich aufzuarbeiten und verloren gegangenes Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, legte die FDP prompt am 2. März ein Positionspapier vor mit der Forderung, dafür eine Enquete-Kommission einsetzen (die es auf Landesebene, etwa in Baden-Württemberg, bereits gibt). Zugleich warf sie dem Gesundheitsministerium ein teilweise „taktisches Verhältnis zur Wahrheit“ vor. Das Bildungs-, Wirtschafts-, Demokratie- und Gesellschaftsgefüge sei „erheblich in Mitleidenschaft gezogen“ worden. Insbesondere die Grundrechtseingriffe müssten in den Blick genommen werden, etwa das einsame Sterben in Einrichtungen, die Schließung von Schulen sowie die Ausgangssperren. „Es gab zu jeder Zeit der Pandemie fundierte Stimmen, die vom Mainstream abwichen“, so Bundestagsvize Wolfgang Kubicki in der Welt. Manche davon seien „ausgegrenzt und stigmatisiert“ worden. Durch Maßnahmen wie die 2G-Zugangsbeschränkungen seien „schwere gesellschaftliche Schäden“ entstanden. Um die zu beheben, bräuchte es jene Auswertung jetzt.
Insbesondere die Entscheidungsfindung in der Pandemie stört Kubicki: „Das Parlament hat sich unter Schwarz-Rot teilweise selbst aus dem Rennen genommen“. Bei Krisen der Zukunft müsse das anders laufen. „Alle wichtigen Entscheidungen müssen im Parlament getroffen werden und nicht in Hinterzimmern wie den Ministerpräsidenten-Konferenzen.“ Doch bereits 2004 (!) erkannte der Politologe Matthias Lemke drei unterschiedliche Elemente plausibilisierend wirkender Erzählungen, die sich unabhängig vom Typus des politischen Systems über die gesamte Historie der repräsentativen Demokratie für die „Demokratie im Ausnahmezustand“ nachverfolgen ließen: Die Situation der Äußerlichkeit, eine explizite Freund-Feind-Unterscheidung und das Effizienzgebot. So stellt sich das Effizienzgebot dar als Variante von Schlussregeln, die den Normalzustand wegen seiner Einhegung durch die verfassungsmäßigen Rechtsbestimmungen als umständlich und retardierend angesichts der zu bewältigenden Krise beschrieben wird. Die Normalität der Rechtsgeltung als Kernbestand des legalen Legitimitätsglaubens wird vorgeblich zugunsten einer schnelleren, besseren Problemlösungsfähigkeit der von verfassungsrechtlichen Restriktionen weitestgehend entbundenen Exekutive aufgegeben.
Die Situation der Äußerlichkeit meint die Konstruktion und Identifikation eines für die eigene Verfassungsordnung außenstehenden (kollektiven) Akteurs, der als feindlich oder schädlich für die (politische) Existenz des eigenen Kollektivsubjekts ausgegeben wird, das damit in eine Defensivsituation gebracht wird. Um sich gegen die Handlungen dieses Akteurs zu erwehren, bedarf es einer Expansion der Exekutivkompetenzen, die als von außen erzwungen plausibilisiert und legitimiert wird. Die auf Schmitt basierende Freund-Feind-Unterscheidung verweist zusätzlich zur Nicht-Identität des Anderen auch noch auf dessen – im pejorativen Sinne – Alterität, um die Notwendigkeit von Ausnahmemaßnahmen im Sinne von Angstpolitik zu plausibilisieren. Zusammengenommen können sie als Elemente einer strategischen Erzählung zur Plausibilisierung der Suspendierung fundamentaler Grund- und Freiheitsrechte in der repräsentativen Demokratie gelesen werden.
Esfeld erkennt in der NZZ prompt eine neue Weichenstellung zwischen offener Gesellschaft und Totalitarismus: Als „Herrschaftsform, in der der Staat im Namen einer höheren Ideologie in alle sozialen Verhältnisse hineinregiert, ohne Grenzen und Schranken.“ Eine Allianz aus Experten und Politikern nehme für sich in Anspruch, das Wissen zu haben, wie man das gesellschaftliche bis hin zum familiären und individuellen Leben steuern muss, um diese Werte zu sichern. „Der Mechanismus besteht darin, aktuelle Herausforderungen zum Anlass zu nehmen, existenzielle Krisen herbeizureden … Die Angst, die man auf diese Weise schürt, ermöglicht es dann, Akzeptanz dafür zu erhalten, die Grundwerte unseres Zusammenlebens beiseite zu schaffen … Es sind ja nicht Böse, die Böses tun, sondern stets Gute – aus Überzeugung um einen bedrohten, aber existenziell wichtigen Wert –, die Dinge tun, welche letztlich verheerende Folgen haben können.“
„Wie lebenswert ist eine solche Republik für ihre Bürger, die sich aufgrund drängender Gefahr – ob tatsächlich oder eingebildet sei dahingestellt – in ein Notstandsregime flüchtet, die Sicherheit durch Unfreiheit erkauft?“ fragt Lemke. „Meine Meinung ist, dass Republiken, die in äußerster Gefahr nicht zur diktatorischen oder einer ähnlichen Gewalt Zuflucht nehmen, bei schweren Erschütterungen zugrunde gehen werden“, prophezeite bereits Machiavelli in den „Discorsi“. Der Satz „Um sicherer leben zu können, werden sie [die Bürger, T.H.] schließlich bereit sein, das Risiko einzugehen, weniger frei zu sein“, wird Alexander Hamilton zugeschrieben.
Ob mit oder ohne diese Befunde – Anfang März kam eine immer noch anhaltende Rechtfertigungsspirale in Gang, in der sich in wechselnden Medien im Abstand weniger Tage die Vorwurfs- und Gegenvorwurfsszenarien hochschaukelten: „Nun beabsichtigen die Beschuldigten, sich mit eigener Schwurbelei, Leugnung und kuriosen Fakten-Verdrehungen aus der Verantwortung zu winden und erleiden unter den Augen der Öffentlichkeit Schiffbruch“, staunt Fabian Nicolay auf achgut. „Zwischen den verschiedenen Deutungen des Geschehens liegen nach wie vor tiefe Gräben; ja, es bilden sich neue Gräben zwischen ehemaligen Verbündeten“, wundert sich Müller. Medial ragten dabei Welt und Cicero heraus, weshalb die in ihnen zitierten Stimmen auch im Zentrum dieser Betrachtung stehen sollen.
Ethikräte als moralische Prätorianergarde
„Der Wissenschaftler, gerade der intellektuelle, verstand sich eher als Kritiker der Macht und der Mächtigen, nicht als deren Helfershelfer. Die Gegenwart erlebt die Wissenschaft jedoch zunehmend geprägt von Aktivisten, die als Wissenschaftler sprechen – oder als Wissenschaftler, die von Aktivisten kaum mehr zu unterscheiden sind“, erregte sich Welt-Chef Ulf Poschardt. Dass er „intellektuelle“ Wissenschaftler von „anderen“ unterscheidet, lässt bereits tief blicken. „Die Spaltung des Landes wurde vertieft. Seelenverachtende Maßnahmen, unter denen insbesondere Kinder und Jugendliche (vornehmlich auch noch aus den sozial schwachen Milieus) litten oder bis heute leiden, wurden strikt durchgezogen“, bilanziert er und fragt, wie man ehemals kritischen Intellektuellen, „die gewissermaßen über Nacht zu devoten Regierungsberatern“ und durch die Macht korrumpiert wurden, noch Glauben schenken soll. „Die Neigung, den eigenen Erkenntnisdrang frei von politischen Überlegungen zu reflektieren, nimmt auf breiter Front ab.“
Poschardts Kollege Jakob Hayner analysierte den Vorwurf anhand der Stimmen zur Causa Kimmich – der Münchner DFB-Vorzeigekicker hatte sich ja mit der Begründung unbekannter Nebenwirkungen lange der Impfung verweigert. Lauterbach wollte in seinem Fall gar selbst zur Nadel greifen. Die Virologin Melanie Brinkmann sagte: „Ich bin auch gerne dabei, wenn er sich impfen lässt, wenn er eine Hand braucht, während er geimpft wird.“ Der Soziologe Harald Welzer behauptete, dass es „Langzeitnebenwirkungen bei der Impfung schlicht nicht gibt“ und schloss messerscharf: „Nur weil jemand einen Ball treten kann, muss sich nicht die halbe Welt um seine persönlichen Irrtümer bemühen, eine Weisung des Arbeitsgebers hätte völlig gereicht“. Alena Buyx, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, bezeichnete in einer Talkshow das Impfen als „moralische Pflicht“, gegen die „Gefahr“ der Ungeimpften müsse man Maßnahmen „schrittweise hocheskalieren“.
An Buyx und ihrem Gremium arbeitete sich wiederum vor allem der Münchner Philosoph Christoph Lütge im Cicero ab: „Ethikräte hätten auf so vieles hinweisen müssen: etwa auf die übermäßige, durch nichts zu rechtfertigende Belastung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, und auch auf völlig ignorierte Kernelemente der Demokratie wie Pluralismus und Meinungsfreiheit. Was wir stattdessen beobachten konnten, war ein Übergießen der Maßnahmen mit einer Art Moralsauce, die den Interessen der Regierenden entgegenkam, teilweise geradezu Zuarbeit darstellte – und letztlich die Moral entwertete. Hier hätte die Ethik – als Theorie der Moral – eine wichtige Aufgabe gehabt, die Niklas Luhmann 1989 prägnant so formulierte: vor der Moral zu warnen.“
„Wenn Vater Staat sich am liebsten drücken würde, beordert er Ethikräte als moralische Prätorianergarde“, zürnte auch Cicero-Chef Alexander Marguier. Insbesondere in der Krise bestehe nämlich die Gefahr, „dass außer dem Zeitdruck auch der Erwartungsdruck groß ist, politisch gewünschten Entscheidungen nicht im Wege zu stehen“. Dies gelte erst recht, wenn die Einbeziehung des Ethikrats zum „informellen, verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens“ mutiere: „Bleibt dann beim gemeinsamen Beraten und Empfehlen noch Raum, der Ur-Versuchung von Politikberatungsgremien ins Auge zu sehen, dass autonomer Rat sich politischen Wünschen zuweilen geschmeidig anzupassen versteht?“ Sein Verdacht: Ethikräte werden immer genau dann um ihre Expertise gebeten, „wenn politische Verantwortungsträger sich an ein Thema nicht herantrauen, weil aus der Bevölkerung mit heftigem Gegenwind zu rechnen ist und man sich deshalb mit einer höheren Moral glaubt imprägnieren zu müssen.“
Klappe halten, impfen lassen!
Der Leopoldina-Ökonom Armin Falk brachte den damaligen Konsens der öffentlichen Meinung auf den Punkt: „Klappe halten, impfen lassen!“ Impfgegner müssen fühlbar Nachteile haben, verlangte der Soziologe Heinz Bude, der sonst bei jeder Gelegenheit von der „neuen Solidarität“ sprach. Es hätte nicht viel gefehlt, und Kimmich wäre offiziell zur „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ wie der ungeimpfte Tennisstar Novak Djokovic in Australien erklärt worden, bilanziert Hayner. „Wir haben das Vertrauen in die Absender dieser politischen und ‚wissenschaftlichen‘ Botschaften verloren, die uns weismachen wollten, es handele sich um altruistische Ziele einer besorgten Elite, die näher an den Informationen war als wir Bürger“, erkennt dagegen Nicolay. Denn schon in einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion wurde Ende Juli 2021 deutlich, es sei „nicht möglich, die Auswirkung einer einzelnen Maßnahme“ zu bestimmen.
Also galt „die Sorge ihrer Macht, dem Zuwachs ihrer Macht und den finanziellen Erfolgen ihrer Einflüsterer und deren Unternehmen. Sie haben die Bürger instrumentalisiert, ihr Mandat missbraucht, der Demokratie – als bisher bestem Versuch einer offenen Gesellschaft – schweren Schaden zugefügt und die Gesellschaft in einen dauerhaft postdemokratischen Lockdown mit massenpsychotischen Anwandlungen geführt.“ Die Bundesrepublik sei mittlerweile ein zutiefst verunsichertes Land, das Gefahr läuft, nicht zum letzten Mal Opfer von Massenmobilisierung und ideologischer Haltungs-Hypnose zu werden.
Besonders deutlich wurde das an zwei Reizthemen. Die „Maske“ ist das eine. Es existieren keine Datensätze, die die Wirksamkeit einer Maskenpflicht auf hohem Evidenzniveau nachweisen, ergab kürzlich die Cochrane-Metastudie. Damit ist der Nachweis für die Geeignetheit dieser Maßnahme, die das Recht auf körperliche Selbstbestimmung außer Kraft setzt, nicht erbracht. Sie ist damit verfassungswidrig, resümierte Felix Perrefort auf achgut. Unbestreitbar wirksam war die in der Regel brav eingehaltene Maskerade allerdings als Herrschaftsinstrument, das bezweckte, eine sich im Alltag nirgends bemerkbar machende Pandemie „sichtbar“ zu machen, was hier und dort auch offen ausgesprochen wurde: „Pseudo-Menschenrettungs-Propaganda“ nennt das Nicolay.
„Auf der Kostenseite haben wir: Behinderung am Atmen mit möglicherweise gesundheitlichen Folgeproblemen, gerade bei den Jüngsten; Uniformierung; Spaltung der Gesellschaft durch die unvermeidlich entstehende Zwietracht; Markierung gesunder, vollkommen ungefährlicher Menschen als Virengefäße, in denen jederzeit Krankheit und Tod lauern könnte; Verhässlichung des Menschen“, so Thomas Maul. „Eine lebendige Demokratie, die sich über unverbrüchliche und unveräußerliche Grundrechte definiert, hätte vor der Einführung von Masken eine kontroverse, ergebnisoffene Debatte zugelassen, in der nicht der Nutzen, sondern die Legitimität von Maskenpflichten im Mittelpunkt gestanden hätte. Weil diese ausblieb, wurde die „unfreieste Lebensäußerung, der meist unbewusste Zwang, ein- und auszuatmen, mit Scham und Schuld beladen“.
Das zweite ist natürlich die Impfung. Claudio Casula zitierte aus den „Pfizer Documents Analysis Reports“, in deren Vorwort es heißt: „Sie werden sehen, dass die 50 Berichte ein möglicherweise massives Verbrechen gegen die Menschheit dokumentieren. Sie werden sehen, dass Pfizer, wie es scheint, wusste, dass die mRNA-Impfstoffe gar nicht funktionierten. Sie werden sehen, dass Pfizer und die FDA wussten, dass die Injektionen die Herzen von Minderjährigen schädigten, und dass sie dennoch Monate warteten, bis sie die Öffentlichkeit informieren. Sie werden neurologische Ereignisse, kardiale Ereignisse, Schlaganfälle, Hirnblutungen, sowie Blut-, Lungen- und Beingerinnsel in großem Ausmaß sehen. Am meisten beunruhigend ist der erkennbare Rundum-Angriff auf die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit: Mit Schäden bezüglich der Spermienzahl, der Hoden, der Beweglichkeit der Spermien; es gibt Schäden an Eierstöcken, bezüglich der Menstruationszyklen, der Plazenta.“
Hayner kommentiert bärbeißig: „Was ist der Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie und der Wahrheit? Ungefähr zwölf Monate“. „Verbrechen“, „unübersehbare Kollateralschäden“ und „gefährliche Experimente mit einer nicht ausreichend erforschten Technologie“ erkannte sogar BILD. Lauterbach verspricht prompt ein schnelleres Anerkennen von Impfschäden nebst Entschädigung seitens des Staates. Aber im Sommer 2021 behauptete er noch, die Corona-Impfungen seien „nebenwirkungsfrei“ – eine Übertragung aus einem „missglückten Tweet“, meint der Gesundheitsminister heute. Und Anfang Oktober 2021 dekretierte er gar im Fall Kimmich: „Späte Impfnebenwirkungen gibt es nicht“ – um jetzt ein Förderprogramm im Umfang von 100 Millionen Euro für Impfgeschädigte zu verhandeln. Damit ist er in guter Gesellschaft. Mit einer „Impfpflicht den Corona-Kreislauf durchbrechen“ wollte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) Ende Januar 2022. Impfschäden ernst zu nehmen und den Staat – weil der sehr für die Impfung geworben habe – aufzufordern, sich nicht mehr wegzuducken, verlangte er dagegen, ebenso wie Laschet, am 19. März.
Aufklärung als einseitige Anmaßung
„Wer von denen, die mitgeschrien haben, übernimmt Verantwortung? Oder wer zieht sie zur Verantwortung?“, fragt Hayner prompt. Sein Fazit ist bitter: „Menschen wurden zur Impfung oder alternativ aus dem öffentlichen Leben gedrängt, darunter Kinder und Jugendliche, wo Nutzen und Risiko der Impfung in einem völlig anderen Verhältnis zueinander stehen als bei Alten und Risikopatienten. Andere Menschen haben, weil sie die Impfung nicht wollten, ihren Beruf verloren oder konnten ihn nicht oder nur eingeschränkt ausüben. Neben körperlichen Schäden müssen auch die seelischen berücksichtigt werden, außerdem die gesellschaftlichen und politischen: die mutwillige Sabotage öffentlicher Meinungsbildung und das sträfliche Außerachtlassen von Grundsätzen der Selbstbestimmung.“ Der Einzelne, sein Körper und seine Entscheidung galten nichts. Für Wissenschaftler ist es offenbar schwer einzugestehen, kein normatives Wissen zu haben, das die Steuerung der Gesellschaft ermöglicht, meint Nikolay: „So können sie sich mit politischen Forderungen, denen durch den angeblichen Notstand keine Grenzen gesetzt sind, ins Rampenlicht stellen.“ Umgekehrt können Politiker durch wissenschaftliche Legitimation in das Leben der Menschen einzugreifen, die sie auf demokratischem, rechtsstaatlichem Wege nie erlangen könnten.
Soviel Schelte wollte Patrick Cramer, der neu gewählte Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, denn doch nicht hinnehmen und entgegnete ebenfalls in der Welt, dass es doch „die Wissenschaft“ war, „die uns den Weg aus der Pandemie wies“. Denn sie hatte „in Windeseile“ das Erbgut des Coronavirus entschlüsselt, einen PCR-Test und dann Impfstoffe entwickelt, mit denen weltweit „Millionen Menschenleben gerettet“ wurden. „Vielleicht hat die Wissenschaft nicht genug auf ihre Errungenschaften hingewiesen?“, fragt er prompt und verweist als positives Beispiel auf den YouTube-Kanal von Mai Thi Nguyen Kim: „Zunehmend wurde nicht nur Forschung präsentiert, sondern auch erklärt, wie sie funktioniert. Die Bevölkerung wurde mitgenommen im Prozess des Erkenntnisgewinns – vorbildlich!“
Das ist auch kein Witz. Dass PCR-Tests nicht nur Corona-Viren nachwiesen, ein abartiges neues Verständnis von Krank- und Gesundheit etablierten und zudem zu Verletzungen des Nasen-Rachen-Raumes führten, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Daneben verweist Gert Antes im Cicero darauf, dass es einen Pandemieplan gab, „der, 2005 beginnend, durch die Erfahrungen mit der Schweinegrippe fortgeschrieben wurde und 2016 und 2017 auf fast 300 Seiten auf beeindruckende Weise auf eine kommende Pandemie vorbereitet. Dieser Plan ist aber 2020 nie aus der Schublade geholt worden. Schlimmer, er ist nicht einmal erwähnt worden.“ Darin sieht er auch ein Versagen der meisten Medien und erkennt gar „eine Komplizenschaft zwischen Politik, Wissenschaft und Medien“. Cramer erwähnt den Plan selbstredend auch mit keiner Silbe.
Aber völlig absurd ist sein Versuch der Entkräftung des Aktivismus-Vorwurfs an der Person von Mai Thi Nguyen Kim – die Ende 2022 auf die Heidelberger „Nature Marsilius Gastprofessur für Wissenschaftskommunikation“ berufen wurde. „Aktivisten haben auf Professuren nichts verloren“, erregt sich der wissenschaftspolitische AfD-Fraktionssprecher Baden-Württembergs Dr. Rainer Balzer. Denn wer sich – wie in ihrem maiLab-Video „Corona geht gerade erst los“ vom April 2020 – anmaßte festzulegen, welche Forscher als „vernünftige Stimmen“ publizistische Reichweite verdienen und wo die Einladung unseriöser Schein-Experten den Tatbestand der „Konsensdiskriminierung“ erfüllt, „ist weder Journalistin geschweige Wissenschaftlerin, sondern Ideologin.“
Ohne die Prämissen für die eigene Konsens-Bestimmung offenzulegen, verkommt diese Art „Aufklärung“ aber zu einseitiger Anmaßung, wie sie sich auch im bestimmten Artikel „die Wissenschaft“ niederschlägt, moniert Balzer. „Man müsse ‚als Journalist sozusagen mit aufs Kampffeld‘, schrieb Nguyen-Kim bereits 2019. Doch wer ernsthaft Experten-‚Zulassungen‘ für Talkshows fordert und dabei nicht mehr trennscharf zwischen Scharlatanen und verdienten, aber eben inhaltlich dissidenten Experten unterscheidet, befördert eine von destruktiven Lagerlogiken getriebene Personalisierung des Pandemiediskurses: Sie selbst wollte außer Lockdown und Impfung nichts gelten lassen.“ Dass solche Auffassungen nun professorale Weihen erhalten, sei hochproblematisch und lasse für den Wissenschaftsstandort Baden-Württembergs das Schlimmste befürchten.
Doch Cramer setzt noch eins drauf. „Wissenschaftliche Erkenntnisse können eine Zumutung darstellen“, meint er; und unbequeme Einsichten verlangten „den Menschen Veränderungen ab, die sie oft als Belastung oder Überforderung empfinden und daher ablehnen.“ Dann würden sich manche an sogenannte „alternative Fakten“ klammern – vor allem, wenn ihnen der wissenschaftliche Konsens (!) und der daraus resultierende Änderungsdruck Sorge bereiteten. Konsens? „Meinungsfreiheit ist das Recht auf Gehör des Exzentrikers, nicht das Privileg des Mächtigen. Denn wie oft ist Konsens gleich Nonsens?“, fragt Milosz Matuschek in der NZZ. Auch Vince Ebert kritisierte im Cicero: „Politische Forderungen werden nicht automatisch zu wissenschaftlichen Fakten, nur weil sie von Wissenschaftlern ausgesprochen werden. Sie müssen genauso diskutiert, abgewogen und hinterfragt werden wie jede andere politische Forderung auch.“ Denn in der Wissenschaft irre man sich sozusagen Schritt für Schritt nach oben.
Doch man weiß nie, ob man am Ende der Fahnenstange angelangt ist, so Ebert. „Daher liefert uns die Wissenschaft auch keine Patentrezepte, geschweige denn Lösungen, wie wir unsere Zukunft gestalten sollen. Sie bietet uns lediglich Methoden an, um immer bessere Erkenntnisse zu gewinnen, auf deren Basis wir neue Wege für die Zukunft definieren können.“ „Wer als einfacher Bundestagsabgeordneter für eine aus fachlicher Sicht absehbar sinnlose allgemeine Impfpflicht gestimmt hat, dem mag man dies angesichts des Drucks der öffentlichen Meinung und wenig geglückter Beratung durch prominente wissenschaftliche Institutionen nachsehen; wer als hochrangiger Wissenschaftler die entsprechenden Lehrbücher und Fachartikel ignoriert hat, muss sich dafür mehr Vorwürfe gefallen lassen“, so Müller. Das kann man nun auch als strukturelle Kritik an den Selektionsmechanismen sowohl des politischen als auch des akademischen Personals lesen.
Doch Zukunft ist und bleibt offen, weil die gefundenen Erkenntnisse und Fakten immer nur vorläufig sind, verweist Ebert mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte. Galileo weigerte sich standhaft, Keplers nachgewiesene Hypothese anzuerkennen, dass der Mond die Gezeiten verursacht. Leibnitz lehnte strikt das Newtonsche Gravitationsgesetz ab. Newton wiederum glaubte fest daran, dass die Erde 6000 Jahre alt ist. Die willkürliche Behauptung der Kirche überzeugte den tiefgläubigen Newton in diesem Fall mehr als die rationalen Beweise seiner Wissenschaftskollegen: „Und manchmal hält sogar die Mehrheit der Forscher an einem Irrtum fest und weigert sich beharrlich, neue Erkenntnisse anzuerkennen: Ignaz Semmelweis, der herausfand, dass das Kindbettfieber von Ärzten ausgelöst wurde, die sich nicht die Hände gewaschen hatten, hat man in Expertenkreisen für verrückt erklärt.“
Nicht nur informieren, sondern missionieren
„Ich halte die zunehmende Politisierung von Wissenschaft für eine ungute Entwicklung. Kaum eine Wissenschaftssendung im deutschen Fernsehen kommt inzwischen ohne mahnende Worte und Appelle aus, dass wir über unsere Verhältnisse leben, den Planeten ruinieren und dringend umsteuern müssen. Die Grauzone zwischen objektiver Wissensvermittlung und subjektiver Bewertung verschwimmt immer mehr. Man möchte nicht nur informieren, man möchte missionieren“, versucht Ebert eine über Corona hinausweisende Erklärung. Doch genau diese Verquickung von Fakten und Meinungen provoziere bei vielen Widerstand. Für die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft sei das fatal: „Denn wer sich ständig von oben herab belehrt fühlt, ist immer weniger bereit, den echten Fakten Aufmerksamkeit zu schenken. Viele stört es einfach, dass massive politische Forderungen und moralische Zurechtweisungen als zwingende Folge objektiver Wissenschaft dargestellt werden.“ Daher sind Cramers Vokabeln Belastung, Überforderung und Sorge eine Realitätsumkehrung.
Denn wenn sich Menschen, die wissenschaftlich arbeiten, dazu hergeben, dem Zeitgeist und dem politischen Mainstream hinterher zu hecheln, dann müssen sie sich nicht wundern, wenn sie nicht mehr ernstgenommen werden. Trotzdem wurden und werden von „Betroffenheitswissenschaftlern“ Wahrheiten verkündet, weil es ihnen zunehmend an professioneller Distanz zum Untersuchungsobjekt fehlt. Dazu passt die bemühte Unterstützung durch Meinungsforschung. Cramer zitiert etwa das „Wissenschaftsbarometer“, das im letzten Jahr immerhin Fördermittel des Bundesforschungsministerium in Höhe von 1,8 Millionen sowie 2,3 Millionen als weitere Fördermittel aus Stiftungen und anderen öffentlichen Geldgebern kassierte – und dafür den Befund lieferte, dass 62 Prozent der Deutschen „der Wissenschaft“ trauten.
Und er zitiert das eher nur Insidern bekannte Meinungsforschungsinstitut dynata, laut dem „die große Mehrheit der Befragten einen ganzheitlichen und differenzierten Journalismus, der erklärt und Hintergründe darstellt“, wünscht. Leider vergaß Cramer zu erwähnen, dass diese Studie zur Nachrichtenmüdigkeit und überdies nur unter Online-Nutzern erhoben wurde, von denen knapp zwei Drittel mindestens zeitweise Nachrichten meiden; etwa wegen einseitiger Berichterstattung (36 %), Unglaubwürdigkeit der Berichterstattung (28 %) oder schwer nachvollziehbaren Informationen (24 %).
Wenn mit dieser Instrumentalisierung auch noch normative Handlungsanweisungen verbunden sind, wird die ursprüngliche Idee einer Befreiung des Menschen aus seiner selbstgeschaffenen Unmündigkeit ins Gegenteil verkehrt. Damit kreiert Wissenschaft einen neuen Dogmatismus, eine Art Ersatzreligion – und richtet in fundamentalistischer Verirrung über Andersdenkende. So kommt Cramer zu dem erwartbaren Schluss „Mit Vereinfachungen, Meinungsmache und konfrontativen Aussagen jedenfalls kommen wir nicht weiter.“ Wie sonst aber entfaltet sich wissenschaftlicher Meinungsstreit wenn nicht in der Konfrontation unterschiedlicher Thesen? „Wer die Konfrontation von Ideen verhindert, tut dies aus Angst vor der Schwäche des eigenen Standpunkts“, weiß Matuschek.
Hinzu kommt, dass „Wissenschaftler“ bzw. „Experte“ längst eine Chiffre geworden ist für politisch genehme Akademiker mit Professorentitel: „Alle namhaften Experten unterstützen die Regierungspolitik, weil man nur zum namhaften Experten wird, wenn man die Regierungspolitik unterstützt“, twitterte Norbert Bolz. Wer genau hat in der Bund-Länder-Runde am 2. Dezember 2021 eigentlich die Gründung des Expertenrats vorgeschlagen, fragt Benjamin Stibi in der Welt. „Nach welchen Kriterien wurden die einzelnen Mitglieder ausgewählt? Welches Mitglied hat als einziges der 8. Stellungnahme nicht zugestimmt, mit der Empfehlung, Ad-hoc-Pandemiemaßnahmen gesetzlich zu verstetigen? Wer sind die Externen, die an zwei Sitzungen teilgenommen haben?“
Alles Fragen, die das Kanzleramt gegenüber der Welt lieber unbeantwortet lässt. Für Stibi entsteht der Eindruck, die Regierung habe sich hier einen „Geheimrat“ geschaffen, der Stellungnahmen wie bestellt liefert, um die Politik zu stützen. Zum 4. April wurde das Gremium zum Glück aufgelöst. Wirklich kritische Stimmen wurden aber schon davor ausgeblendet, der Diskurs auf die immer gleichen Argumente beschränkt. Die dadurch entstehenden politischen Handlungsimpulse entfalten aber häufig eine Wucht, die von der eigentlichen Faktenlage gar nicht getragen wird. Rauscht man dann über den Abgrund hinaus, ist das Erstaunen groß.
Überirdisch-metaphysische Dimension des Seins
Und diesen Abgrund nun machte der emeritierte jüdische Historiker Michael Wolffsohn, wiederum in der Welt, zum Mittelpunkt eines Essays, die sich mit dem, so seine These, Abhandenkommen einer uralten Dimension des Menschseins befasst: der Dankbarkeit. Wörtlich: „Bei Corona war die globale Verunsicherung vergleichbar mit der Angst früherer Epochen vor der Pest. Doch anders als damals kennen wir nun, nach überstandener Not, keine Gefühle der Dankbarkeit oder Ehrfurcht mehr.“ Das ist ebenfalls kein Witz. Den Verweis auf die Oberammergauer Passionsspiele verknüpft Wolffsohn mit dem Vorwurf, dass „bislang weder in Deutschland noch in der Uno jemand auf die Idee“ kam, des Pandemie-Endes zu gedenken. Denn: Damals dankte der Mensch „Gott, dem großen Unbekannten, der, so die damals dominant religionsbezogene Weltsicht, den Massentod brachte und eben abzog.“ Diese Naivität „dokumentiere die irdisch-seelische ebenso wie die irgendwie geglaubte, bestrittene oder vielleicht doch vorhandene überirdisch-metaphysische Dimension des Seins.“
Im „seelenlosen Heute“ dagegen wurde das Pandemie-Ende nicht nur „behördlich proklamiert“, sondern auch „durch herausragende Forschung in Theorie und Praxis ermöglicht“. Deswegen müsste „den Bezwingern der Pandemie national und global würdig“ gedankt werden, „würdig nicht nur im funktionalen Sinne erfolgreicher Forschung, sondern auch im seelischen Sinn.“ Diese Dankbarkeit sollte nicht nur gegenüber Forschern ausgedrückt werden wie den Impfstoffentwicklern Özlem Türeci und Uğur Şahin, „die Millionen Menschen das Leben gerettet haben, sondern auch der Bürgermehrheit, die sich, zumindest zeitweilig, als Schicksalsgemeinschaft [sic!] fühlte und entsprechend handelte.“ Schicksalsgemeinschaft? Mehr Pathos war nie. Und apropos seelisch: Die jüngste DAK-Studie verzeichnete einen enormen Anstieg von Erschöpfungs- und vor allem Entlastungsdepressionen. Die gehen aber nicht auf Corona zurück, wie behauptet, sondern auf die unsäglichen Freiheitseinschränkungen, mit denen die Krankheit vorgeblich bekämpft werden sollte, widersprach der gesundheitspolitische Sprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg Bernhard Eisenhut MdL.
Gekrönt wird Wolffsohns These vom Verweis darauf, dass für den Ausbruch der Pest, der „Strafe Gottes“, einst meist die Juden verantwortlich gemacht wurden. Denn Juden waren von der Pest seltener betroffen, denn sie achteten aufgrund ihrer religiösen Vorschriften „mehr als ihre christlichen Nichtbrüder und Nichtschwestern mit Sorgfalt auf Reinlichkeit. Diese ist bekanntlich medizinisch sinnvoll wie eh und je; siehe auch Corona 2020 bis 2022.“ Gehören Wunder, Wirklichkeit und Menschlichkeit vielleicht doch irgendwie zusammen, fragt Wolffsohn abschließend und impliziert damit nicht nur eine metaphysische Nähe von Wunder mit Wissenschaft, gar mit Behördenhandeln, sondern auch mit menschlicher Allmacht.
Die schiefe Gedankenführung dieser Farce entpuppt sich als intellektuelle Zumutung, weil sie die Realität nicht nur einfach umkehrt – viele fürchteten sich mehr vor der Regierung als vor der Krankheit –, sondern eine eigene herbeibehauptet: Wäre Corona eine Katastrophe dieser Art gewesen, würden wir selbstverständlich dankbar sein und das Überleben feiern. Aber eine in China ausgebrochene Krankheit, die hierzulande weder Übersterblichkeit noch Überlastung, dafür aber Freiheitsbeschränkungen nach sich zog, und eine Impfung, deren bleibende Schäden erst jetzt zutage treten, mit einem jüdisch begründeten Pest-Ausbruch zu vergleichen, den Wissenschaft und Solidarität in die Schranken wiesen – darauf muss man erstmal kommen. Und: Wer Zwang als Solidarität verkaufen will – was hat der vor?
Regenschauer mit der Sintflut vergleichen
Entsprechend verheerend fielen hunderte Kommentare zu diesem Text aus, die hier nur konspektiv referiert werden sollen. „Der Artikel klingt wie Hohn und lässt mich fassungslos zurück. Soll ich für die Panikmache, Gängelung und Verbreitung pseudowissenschaftlicher Fakten nun dankbar sein?“ schreibt einer, ein anderer „Die Pest war eine Geißel der Menschheit. Das trifft aber auf Corona überhaupt nicht zu. Corona war eine Geißel der Politik.“ Ein dritter unterstreicht, dass die „Forscher“ nicht nur Millionen von Menschen das Leben gerettet haben, sondern es ihnen möglicherweise auch zerstörten. Ein vierter verweist nicht nur darauf, dass es „keine Bezwinger der Pandemie“, die komme und gehe, gibt, sondern auch auf den absurden Vergleich einer Seuche, die Infektionssterblichkeitsraten von mehr als 60 % aufwies und ganze Landstriche entvölkerte, mit einem Virus, das eine Infektionssterblichkeitsrate von schon zu Anfang höchstens 0,23 % aufwies: „Da kann man auch einen Regenschauer mit der Sintflut vergleichen.“
Dass die Pest ungleich tödlicher war, betont auch ein fünfter und erklärt, dass das Leid vor allem durch die Krankheit selbst entstanden war, mit der damals auch nicht so gute Geschäfte gemacht werden konnten wie heute. Bei Corona dagegen als politisch und medial künstlich aufgebauschtes Problem waren es vor allem die Maßnahmen, unter denen die Bevölkerung zu leiden hatte: „Eine solche Katastrophe wie die Pest hätte uns geeint und nicht entzweit.“ Ein sechster empört sich über die Zumutung, dankbar dafür zu sein, „dass ich zwei Jahre lang diskriminiert, verleumdet, beschimpft und ausgeschlossen wurde? Ich hatte nur eine Not, nämlich die Sorge, dass wir in eine faschistische Dystopie abrutschen und ich habe seit dem Angst vor unserer manipulierbaren Gesellschaft. Also, wem soll ich dankbar sein?“ Ein siebter erinnert an das Strategiepapier des Bundesinnenministeriums 2020, nach dem trotz „unerheblich klingender Fallsterblichkeitsraten“ für jeden Menschen „eine Urangst erzeugt“, ja Kindern Angst gemacht werden sollte, dass sie Schuld seien, wenn ihre Eltern und Großeltern dann qualvoll zu Hause ersticken.
Ein achter spricht den Autor persönlich an: „Ich sag Ihnen, Herr Wolffsohn, wann ich mich bedanken werde: wenn alles das, was einen nicht geringen Teil der Gesellschaft aufs Übelste diskreditiert, ausgegrenzt und den Glauben an über viele Jahrzehnte aufgebaute Werte in Deutschland hat verlieren lassen, wenn alles das aufgearbeitet wird und Konsequenzen daraus gezogen werden, dann werde ich dankbar sein. Ich befürchte allerdings, dass ich dann nicht mehr viele Adressaten für meinen Dank haben werde.“ Ein neunter empfindet den Text „als jemand, der ich ‚nur‘ die Diskriminierung eines Großteils meiner Mitbürger in den letzten Jahren abbekommen habe, weil ich mir erlaubte, über meinen Körper selbst zu bestimmen, als kräftigen Schlag in mein Gesicht“ und mutmaßt, dass in manchen Familien nicht nur tiefe Risse bestünden, sondern dass man diese Familien als traumatisiert bezeichnen müsse.
Und ein zehnter fasst die Absurditäten des Danken-Sollens nochmal zusammen: für die Einschränkung der Grundrechte, für die Spaltung der Gesellschaft, für die Diskriminierung von Menschen, für die den Kindern und Jugendlichen gestohlenen Entwicklungschancen, für das einsame Sterben von Menschen, für die Verbreitung von Panik, für bewusste Falschinformation, um Menschen zu manipulieren, für die Impfung und deren Nebenwirkungen, um den Job zu behalten, für das Verscheuchen alter Frauen von Parkbänken und Kindern vom Rodelhang, für die Diskreditierung jeder abweichenden Meinung – auch wenn sie sich im Nachhinein als richtig herausgestellt hatte, und nicht zuletzt für die Bereicherung führender Politiker an Masken- und Medikamentendeals. „Eine unvoreingenommene Aufklärung ist nicht gewollt, weil dann die Art und Weise und der Umfang der Vorteilserlangung durch Profiteure bekannt würde“, betont Manfred Kölsch vom „Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte“ gerade diese Nuance. Voraussetzungen zu schaffen, um eventuelle Rückzahlungsansprüche begründen zu können, soll vermieden; die vom politischen Personal dazu zumindest aus Unachtsamkeit und Inkompetenz geleistete „Hilfestellung“ soll nicht aktenkundig werden, um befürchtete Ansehensverluste zu verhindern.
Literaturnobelpreisträger Czesław Milosz hat den Prozess des „Verführten Denkens“, sprich der Anpassung von Intellektuellen an ein herrschendes Dogma – in seinem Fall des Kommunismus – eindrücklich beschrieben. Die „Furcht vor der Freiheit“ hat eine Flucht ins Autoritäre oder Konformistische zur Folge, wusste auch Erich Fromm. „Gibt es einen globalen Konformitätszwang?“, fragte gar Jochen Mitschka. Entscheidungen fallen nicht mehr auf der Ebene demokratischer Auseinandersetzung im Wahlvolk, „sondern im Metaraum einer haltungsmoralischen, pseudo-ethischen, quasireligiösen Daseinserklärung, die immer die ultimativen Fragen nach dem Überleben der Menschheit und der Zukunft des Planeten stellt“, bilanziert Fabian Nicolay auf achgut und erkennt nicht zuletzt angesichts der Klima-Narrative eine „kollektive Neo-Ethik der Menschheit und des Planeten, für die das kleine Individuum kaum etwas gilt“. Zu diesen quasireligiösen Gefälligkeitspredigern muss man Wolffsohn zählen.
Mündige Bürger komplett entmachtet
Abschließend lohnt ein Blick auf den aktuellen Aufarbeitungsstand der juristischen Perspektiven auf den Corona-Umgang. „Menschen wurden als Vernunftwesen nicht mehr ernst genommen. Die Eigenverantwortung und der mündige Bürger wurden komplett entmachtet, vergessen, erledigt“, empört sich Lütge, beklagt das Wechselspiel von Erziehungs-, Bevormundungs- und Panikmodus und erinnert an den Essay „Mehr Diktatur wagen“ (!) von Thomas Brussig, der sich genau da mit Cramer traf. Merkel habe die liberale Seite der Bundesrepublik kaum oder nur in Ansätzen verstanden, behauptet Ebert. Letztlich konnte erst dies dazu führen, dass Deutschland in der Corona-Krise besonders stark in den Autoritarismus abgeglitten ist – und zumindest Teile der Politik daran Gefallen fanden und ihn gar schamlos ausnutzten: „Es waren nur noch Maßnahmen um der Maßnahmen willen. Wenn aber Maßnahmen ohne Begründung willkürlich beschlossen werden, dann kann das jederzeit wieder passieren. Und ich möchte nicht in einem demokratischen Land leben, in dem einem in Bezug auf fundamentale Grundrechtsfragen gesagt wird, das sei jetzt ‚eben so‘, wie Karl Lauterbach am 24. August 2022 tönte. Das würde bedeuten: Die Regierenden machen es, weil sie es können.“
Thorsten Hinz schrieb in der Jungen Freiheit völlig zu Recht vom Versuch, „eine virtuelle Wirklichkeit mittels administrativer Macht in gelebte Realität zu verwandeln und sich das Leben zu unterwerfen“, ja von einem geschlossenen virtuellen „System aus Propaganda und administrativem Zwang“, das sich über die Realität lege. Die resultierende „Duldungsstarre“ mache die Bürger zu leicht kontrollier- und lenkbaren Objekten: „Wer mit der Auswahl der vorschriftsmäßigen Covid-Maske ausgelastet ist, hat weder Zeit noch Energie, sich mit der EZB-Politik, der Zuwanderung aus Afghanistan, der Aufhebung der nationalen Selbstverwaltung, der Aussicht auf die Bargeld-Abschaffung und die Einführung eines Sozialpunkte-Systems nach chinesischem Vorbild zu beschäftigen.“ Sein Fazit ist bitter: „Wir sehen, dass es möglich ist, eine virtuelle in eine faktische Realität zu übersetzen und die Menschen zu Komparsen in einem falschen Film zu machen.“ Aber weil eine Regierung eine Pandemie erst, da ist der Terminus wieder, herbeibehauptet und dann herbeibeschließt, existiert sie noch lange nicht – wohl aber die Anmaßung, aus dieser virtuellen Realität heraus zu behaupten, jene, die noch in ihrer freien Realität leben und sich daraus nicht vertreiben lassen wollen, könne man „nicht mehr erreichen“.
Die zuständigen Gerichte hätten (fast) immer für den Staat entschieden, nie für die Freiheit: „Das ist ein trauriger und erschreckender Befund“, bilanziert der Oldenburger Medienrechtler Volker Boehme-Neßler im Cicero. „Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts waren nicht etwa fachlich zwingend. Aus juristisch-handwerklicher Sicht sind sie wenig überzeugend. Abgesehen von Fehlern im Detail leiden sie an einem grundsätzlichen Mangel. Die Abwägung zwischen der Freiheit, die das Grundgesetz garantiert, und möglichen Einschränkungen dieser Freiheit, die zur Krisenbewältigung nötig sind, ist oft fehlerhaft. Im Zweifel hat das Gericht für den übergriffigen Staat entschieden – und gegen die Freiheit. Die Verfassung sieht das genau umgekehrt. Im Zweifel entscheidet sie für die Freiheit.“
Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Recht auf körperliche Unversehrtheit: Diese und andere Grundrechte wurden von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes im Jahr 1949 als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden, beginnt Rene Schlott im Cicero seine Abrechnung. Wer sie auch in Pandemiezeiten hochhielt, galt bereits als Querdenker – obwohl das Wort „Gesundheit“ in der Verfassung nicht vorkommt. „Menschen allein sterben zu lassen, Besuchsverbote in Krankenhäusern und die Isolation von Menschen in Altenheimen… sind keinesfalls mit der Intention von Artikel 1 vereinbar – auch nicht zum Zweck des Lebensschutzes.“ Selbst Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte früh auf die Tatsache verweisen, dass der Lebensschutz keinen absoluten Verfassungsrang genießt, auch nicht in einer Pandemie, sondern alles der ganz am Beginn der Verfassung postulierten unantastbaren Würde des Menschen, die vom Staat stets zu achten und zu schützen ist, unterzuordnen sei.
Auch hier ist aus dem Abwehrrecht des Bürgers, der eigentlich sowohl Zeitpunkt, Ort, Art und Inhalt seines Protestes selbstbestimmt festlegen kann, ein vom Staat und seinen Exekutivorganen gewährtes oder wegen Formalitäten verweigertes Recht geworden, beweist Schlott. Dabei sieht das Grundgesetz ausdrücklich keine Anmelde- und Erlaubnispflichten des Bürgers vor, diese gehen auf das der Verfassung nachgeordnete Versammlungsgesetz zurück und dürfen allein dazu dienen (sonst wären sie nach allgemeiner Auffassung von Grundgesetzkommentaren nämlich verfassungswidrig), die zuständigen Behörden in die Lage zu versetzen, die Demonstration zu schützen und alle notwendigen Vorkehrungen zur ungestörten und sicheren Grundrechtsausübung der Bürger zu treffen: „Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit kennt also keinen Erlaubnisvorbehalt und auch keine Gewissensprüfung.“
Ich spüre schon eine Verbitterung, sagt Jens Spahn
Ironischerweise zeigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in einem DW-Interview im Dezember Sympathien für die Corona-Protestwelle in China und appellierte an die Regierung in Peking, die Demonstrationen zuzulassen. Er habe „Verständnis dafür, dass die Menschen ihre Ungeduld und ihre Klage auf den Straßen zeigen“. Und das vom selben Mann, der vor nicht allzu langer Zeit den Deutschen erklärte, dass Spaziergänge ihre Unschuld verloren hätten: „Plötzlich ist sie also doch irgendwie sehr wichtig, diese (Demonstrations-)Freiheit“, ergötzt sich Anna Schneider in der Welt. „Hat Saskia Esken schon ‚Covidioten‘ Richtung Reich der Mitte gerufen? Oder hat Nancy Faeser schon ausrichten lassen, dass man seine Meinung auch kundtun könne, ‚ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln‘?“
Wir werden einander viel verzeihen müssen, befand Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) – offenbar im vollen Bewusstsein darüber, dass man diesen Satz auch als Blankoscheck für Fehler lesen kann. „Ich spüre schon eine Verbitterung, eine Unerbittlichkeit. Ich kann es auch irgendwie verstehen. Auf der anderen Seite funktioniert aber so menschliches Zusammenleben nicht gut. Menschen machen Fehler – jeder. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Mit einer Unerbittlichkeit funktioniert Familie nicht, so funktioniert Gemeinschaft nicht und so funktioniert Gesellschaft nicht“, sagt er dem Kirchenmagazin Pro – und merkt immer noch nicht, oder will es nicht bemerken, dass es sich um vermeidbare und daher umso schwerer verzeihliche Fehler gehandelt hat. Hayner bringt die Vorwürfe gegen die Politik auf den Punkt: „Man habe es nicht besser wissen können, heißt es dann oft. Richtig ist: Man hat es nicht besser wissen wollen. Deswegen wurden andere Einschätzungen niedergebrüllt und ausgegrenzt.“
Sichtbar wurde eine virologische Facette von Identitätspolitik: Entscheidend war nicht, was gesagt wurde, sondern von wem – einerlei, wie fundiert, logisch oder rational beweisbar es war. Auf „Querdenker“, „Corona-Schwurbler“ oder „Pandemie-Gegner“ hören, die gar noch der AfD nahe stehen, ja deren Mitglied sind? Unmöglich! „Die Fallhöhe, nun doch zugeben zu müssen, sich geirrt zu haben, ist enorm hoch“, muss die Psychologin Lea Frühwirth vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie Ende März im dpa-Gespräch zugeben. Auch habe die Gesellschaft diese Menschen als „Covidioten“ verlacht, was ein Umkehren zusätzlich erschwere. Wie solle man da gesichtswahrend herauskommen? „Also halten sie an ihrem Bild fest und schreiben notfalls alles um, damit sie am Ende doch irgendwie Recht hatten.“ Als Beispiel mag Sascha Lobo gelten, der sich im Spiegel nicht dieser Sätze entblödete: „Die Querdenker werden nach der voraussichtlichen Aufhebung der Coronamaßnahmen im Sommer annehmen, einen Sieg errungen zu haben. Es wird die Neudefinition des Pyrrhussiegs. Viele werden ihn nicht erleben“.
Das hindert Frühwirth allerdings nicht daran, die jahrelange Diffamierungspraxis selbst fortzusetzen: Wenn nun zufällig ein Ergebnis herauskommt, von dem die Kritiker zwei Jahre zuvor ausgegangen sind, „dann ist das der Fall eines blinden Huhns, das auch mal ein Korn findet“. Das ist leider auch kein Witz. Lütge, der im Februar 2021 aus dem Bayerischen Ethikrat geflogen war, fordert eine Neu-Justierung der demokratischen Institutionen, die sich gegenseitig kontrollieren sollten, da die Gewaltenteilung in Deutschland fundamental versagte. Das gelte insbesondere für die dritte Gewalt, das Rechtssystem: Es hat in keiner Weise seine Unabhängigkeit von der Exekutive gezeigt.
Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, der Theologe Peter Dabrock, bringt im BR eine Aufarbeitungs- oder Versöhnungskommission ins Spiel. Während der Pandemie habe es Entscheidungen gegeben, die nach dem damaligen Standard geradezu „widersinnig“ gewesen wären – etwa als darum ging, dass Bundesligaspieler wieder spielen durften, bevor alle Kinder zurück in der Schule gewesen seien. Versöhnen? Möglich ist viel, aber dazu braucht es Eingeständnisse und Entschuldigungen, Rehabilitationen und Respekt. Ob, wer gerade den vermisst, künftig fündig wird, darf angesichts der aktuellen Ampel und ihrer zutiefst staatsvolksfeindlichen Klima-, Energie-, Migrations- und Ukrainepolitik bezweifelt werden.
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in
Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg. Hier können Sie TUMULT abonnieren. Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.
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