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Thomas Hartung: "'IMPRÄGNIERUNG' DURCH DEN NATIONALSOZIALISMUS"

Zwar findet die Documenta 15 wie geplant kommenden Sommer statt. Doch sie ist kulturhistorisch ins Visier linker Kritik geraten: Nazi-Vorwürfe befeuern alte und neue Schuld-/Opfer-Identitäten als weiteren Auswuchs von Identitätspolitik, der die Politisierung von Kunst weiter vorantreibt.



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Die documenta 15 wird wie geplant vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 stattfinden. Das war das Ergebnis einer Sitzung des Aufsichtsrats der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, das die Mainstreammedien Anfang Juli in einer Mischung aus kunstpolitischer Erleichterung, pandemiepolitischer Verwunderung - und kulturhistorischer Beschämung verkündeten. Denn die derzeitige Musealisierung der documenta sei nicht nur ein schlechtes Zeichen, sondern gehe auch mit deren moralischer Diskreditierung einher, befand Christian Saehrendt in der NZZ: Neben dem geplanten Documenta-Forschungsinstitut hatten Tagungen und Ausstellungen die Kasseler Schau seit Juni bereits als historisches Phänomen behandelt.


Vor allem die frühe Documenta wurde in Medien und Kunstwissenschaft plötzlich als historisch belastet dargestellt; die Leitung sei durchsetzt gewesen mit ehemaligen Nazis, die Künstlerauswahl diskriminierend, das Unternehmen insgesamt ein schlimmes Instrument der Verdrängung und letztlich ein nationalistisches Prestigeprojekt. „Wer nach den Gründen dafür sucht, erkennt, dass in der Kunstwissenschaft die gleichen ideologisch aufgeladenen Machtkämpfe wie in den anderen geisteswissenschaftlichen Fächern toben“, ärgert sich Saehrendt und schreibt in Adaption der Tübinger Migrationsforscherin (!) Sandra Kostner von „identitätslinker Läuterungsagenda“, ja „Agenda-Wissenschaftlern“, die sich als politische Akteure verstünden. „Schuld ist zu einer Kategorie des politischen Denkens geworden“, befindet Maria-Sibylla Lotter in der NZZ und erkennt einen „Ton der Selbstanklage und Zerknirschung“, der sie „an den christlichen Diskurs zur Sünde“ im Sinne einer „Perversion der Seele“ erinnert.


Für Kostner hat sich eine fruchtbare Symbiose von Schuld- und Opfer-Identitäten herausgebildet, die „Schuld- und Opfer-Entrepreneure“ durch eine gemeinsame Agenda verbinde. Während sich die sogenannten Schuld-Entrepreneure für Diskriminierungen und historische Verbrechen verantwortlich erklärten und durch Läuterungs-Demonstrationen moralische Gewinne und damit einen Machtzuwachs erzielen wollten, gehe es den Agenten historisch benachteiligter Opfergruppen um Kompensationsansprüche (z. B. Quoten in Unternehmen und Institutionen, Reparationen, Restitution von Kunstwerken) und damit letztlich ebenfalls um Machtzuwachs. Auf gut Deutsch: natürlich kann auch Kunst nicht nur ideologisch, sondern auch identitätspolitisch instrumentalisiert werden.


So habe sich in den letzten Jahren ein Mechanismus eingespielt, der einem Perpetuum mobile gleicht: Solange ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Schuldeingeständnissen und Vergebung besteht, wird es für die selbsternannten Repräsentanten der „Opferseite“ lukrativ, immer neue Benachteiligungsindikatoren oder historische Altlasten zu eruieren und anzuprangern. Die so erlangten materiellen und moralischen Kompensationsleistungen stärken ihre Machtposition und treiben den Mechanismus weiter an. Die Suche nach Benachteiligungen von Minderheiten oder nicht ausreichend gesühntem historischem Unrecht wird selbst in einer gleichberechtigten und sensiblen Gesellschaft niemals enden, da das immer feinere Bewusstsein dafür immer feinere Nuancen von Diskriminierung und historischem Unrecht aufspürt.



„Bekenntnis zur Moderne bloß inszeniert“


Nun also sucht diese „Verfeinerung“ die Documenta zu dekonstruieren. Die Schau habe eine „Imprägnierung“ durch den Nationalsozialismus erfahren, fährt Ingo Arend in der Süddeutschen Zeitung SüZ schweres Geschütz auf. Die Kunstwelt stünde seit den Enthüllungen zu den NS-Verstrickungen einiger Gründerväter der 1955 vom in Kassel lehrenden Malereiprofessor Arnold Bode gegründeten Weltkunstschau vor den Trümmern eines Mythos, ja versuchten sich „die Documenta-Macher damit von ihrer eigenen Schuld reinzuwaschen“, weshalb „das viel gerühmte Bekenntnis zur Moderne bloß inszeniert“ gewesen sei.


Worum geht es eigentlich? Bode als Erfinder und Leiter der Documenta war zwar vorzeigbar und unbelastet: Immerhin hatte der Sozialdemokrat unter den Nazis seinen Posten als stellvertretender Direktor des Städtischen Werklehrer-Seminars in Berlin verloren. Doch er versammelte in Kassel – wissentlich oder nicht – etliche Ex-Nazis um sich. Zu den Mitgliedern des Trägervereins und damit zu den Mitgründern der Documenta zählte zum Beispiel der FDP-Politiker und Rechtsanwalt August-Martin Euler, der einst der Waffen-SS angehört hatte. Die Kulturwissenschaftlerin Mirl Redmann hat zumindest 10 von 21 dieser Herren einschlägige Mitgliedschaften in NSDAP, SA oder SS nachgewiesen.


„Die Geschichte der documenta muss neu geschrieben werden“, dekretiert prompt die Kunsthistorikerin Julia Voss auf DW. Also erforscht seit Anfang 2021 eine Arbeitsgruppe an der Kunsthochschule Kassel „das unheimliche Fortwirken von völkischen, antisemitischen, rassistischen und patriarchalen Mustern in Kunst und Kultur, Ausstellungs- und Bildungsinstitutionen bis heute“ (sic!), die dazu passende akademische Prosa raunt von „braunen Schatten“ und erschaudert vor dem „Flüstern der Fußnoten“. Das ist kein Witz. Wie also kann „Deutschlands größte Kunstschau, von Altnazis geprägt“, wie Ulrike Knöfel im Spiegel schlagzeilte, überhaupt noch eine Existenzberechtigung haben, so die erwünschte Interpretation. „Der gedankliche Schritt von der Akzeptanz kollektiver Schuld im Sinne der Verpflichtung zur Wiedergutmachung zu Schuld im Sinne einer aus eigener Kraft gar nicht reparablen inneren Beschädigung ist für uns offenbar nicht weit“, staunt Lotter.


Als Hauptschuldigen macht Arend den Documenta-Initiator Werner Haftmann (1912-1999) aus, dessen NSDAP- und SA-Mitgliedschaft Oxforder Historiker und Berliner Soziologen seit 2019 herausfanden. Haftmann, Dozent an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, 1954 Autor eines Standardwerks zur Malerei im 20. Jahrhundert und 1967 erster Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin, steht heute vor allem deswegen im Focus, weil der Historiker Carlo Gentile in diesem Jahr zusätzlich nachwies, dass der Inkriminierte in Italien Partisanen jagte und an Folterungen beteiligt war. Zwar beleuchtete Thomas Gruber in der SüZ akribisch die Komplexität von Haftmans Charakter, seine Freundschaft zur kommenden literarischen Elite Italiens und seine Liebe zu einer jüdischen Partisanin – umsonst.


Das Deutsche Historische Museum DHM Berlin sucht vom Juni diesen bis zum Januar nächsten Jahres mit einer Ausstellung und einem Begleitbuch prompt zu belegen, dass die Anfänge der Weltkunstschau so schuldig waren, für wie sie heute gehalten werden. Denn laut DHM-Direktor Raphael Gross ließe sich anhand der Documenta „eine ästhetisch-politische Geschichte der Bundesrepublik erzählen“: Sowohl der deutschen Nachkriegsgesellschaft als auch den Machern der Documenta fehle es an Unrechtsbewusstsein für das Vergangene; eine echte Stunde null habe es nie gegeben. Über „öffentliche Beschämung“, ja „Formen geschichtsvergessener Autoaggression“ wundert sich Lotter.


Haftmann sei Teil einer „militanten Moderne“ gewesen, erklärt der Berliner Soziologe Heinz Bude im DLF. Hinter diesem Begriff stecke die Auffassung, „dass man Geschichte macht, indem man aufräumt, indem man versucht, eine neue Jetztzeit zu begründen, Bücherverbrennungen vollzieht und mit Gewalt Feinde aus dem Weg räumt.“ Angeschlossen habe man damit an die Ästhetik der 1930er Jahre. Diese „Monumentalitäts-Ästhetik“ habe es nicht nur im deutschen Nationalsozialismus, sondern auch im Stalinismus und im italienischen Faschismus gegeben sowie im New Deal der USA. Haftmanns Idee sei gewesen, dass die Abstraktion die Weltsprache der Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts sei - ein Versuch, eine Position jenseits der Geschichte einzunehmen.



„Kunst ist das Allerwichtigste!“


Dazu passe, dass er neben der Organisation zweier weiterer Documenta-Schauen dafür sorgte, dass der 1956 verstorbene Emil Nolde zum Helden der Nation und in der Folge zum Lieblingskünstler von Helmut Schmidt und Angela Merkel wurde. Die damit protegierte Bildlichkeit, der auch Alfred Bauer, der langjährige Leiter der Berlinale, sowie Stern-Gründer Henri Nannen folgten, wäre prägend für unsere eigene Wirklichkeits-Auffassung gewesen. „Denn letztlich sagen diese Leute: ‚Kunst ist das Allerwichtigste! Weil man von dort aus eine Perspektive auf die verblendete Gesellschaft und die verdorbene Politik werfen kann‘.“ Hinzu kam, dass außer Marc Chagall kein weiterer jüdischer Künstler zur ersten Documenta zugelassen war - Haftmann behauptete in seinen Schriften, dass unter den deutschen modernen Malern des 20. Jahrhunderts kein einziger Jude gewesen sei.


Das stimme nicht, und das habe er auch gewusst, sagt Voss. Den Matisse-Schüler Rudolf Levy müsse er aus seiner Zeit in Florenz persönlich gekannt haben. Levy tauchte zwar auf einer Vorschlagsliste für die documenta 1955 auf, wurde dann aber gestrichen. Jüdische Künstlerinnen und Künstler, die im Holocaust ermordet wurden, kamen in den Schauen 1 bis 3, die Werner Haftmann von 1955 bis 1964 gemeinsam mit Arnold Bode verantwortete, nicht vor. Prompt stellt das DHM nun die Werke von Levy aus: Sie wirkten wie ein Mahnmal „für das Verdrängen, Verschweigen und Vertuschen der Täter“, pathetisiert Julia Hitz auf DW. „Damit lag die Documenta genau auf der Linie der damaligen Diskussion, beziehungsweise Nicht-Diskussion“, sagt sie und bilanziert „Kontinuität statt scharfer Abgrenzung“.


Dazu passten auch die Bilder an rohen Wänden oder an Leichtbauplatten aus gepresster Holzwolle, so Knöfel. „Die Wirkung war betont improvisiert, unmuseal, als wollte er Hemmschwellen fürs Publikum abbauen. Knüpfte er damit auch an die ‚Fabrikausstellungen‘ der Nazis an? Die waren mithilfe der Organisation ‚Kraft durch Freude‘ in hoher Zahl und mithilfe von Stellwänden umgesetzt worden.“ Und dazu passe auch die Sprache Haftmanns, der Begriffe wie „Heimatboden“, „nordisches Schicksal“ und „dunkle Erinnerungen des Blutes“ benutzte, befand Nanne Buurman von der Kasseler Kunsthochschule im Spiegel und wunderte sich zugleich, manche Kollegen im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb würden sich sorgen, „den Zug der Documenta-Aufarbeitung zu verpassen“. Aha.


Außer Frage steht, dass das Debüt ein Ereignis war; eines, mit dem niemand gerechnet hatte. Kassel war 1955 noch voller Ruinen, die Kunstausstellung im Museum Fridericianum bloß eine Begleitveranstaltung zur Bundesgartenschau. Präsentiert wurden Gemälde und Skulpturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht weniges stammte aus den Zwanzigerjahren. Überhaupt sind viele Werke jener Moderne zuzuschreiben, die die Nazis in den Dreißigerjahren als „entartet“ diskreditiert und verbannt hatten. Nun konnte sich jeder die Werke von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Karl Schmidt-Rottluff, Paul Klee, Max Beckmann und vielen weiteren wieder ansehen. Pablo Picasso war mit seinem Gemälde „Mädchen vor einem Spiegel“ vertreten. 135.000 Besucher kamen zum „Wunder von Kassel“, das seit der zweiten Ausgabe 1959 „Glanz auf das Bild und Selbstbild der neuen, vermeintlich geläuterten Deutschen warf“, wie Knöfel befand.


Schizophrenerweise war aber auch DDR-Kunst am Anfang, 1955 komplett unerwünscht. Die Documenta sollte für viele Jahre ein kulturelles Schaufenster des Westens sein, darunter verstand man Abstraktion und Freiheit gegen sozialistischen Realismus und Gängelung. Damit „hatten die Ausstellungsmacher eine dezidierte Grenzmarkierung gen Osten gezogen“, sagt DHM-Präsident Groß, „und sie hatten ein Aushängeschild gleich: die außenpolitische Leitlinie der BRD, die Westintegration ideologisch unterstrichen.“ Erst 1977 waren dann auch DDR-Künstler eingeladen - und manche Documenta-Macher der ersten Stunde waren darüber entsetzt. Bundespräsident Theodor Heuss, ein Freund der Documenta, sagte einst: „Mit der Politik lässt sich keine Kultur machen, vielleicht aber kann man mit der Kultur Politik machen.“ Das bewahrheitet sich heute auf erschreckende Weise.



„seltsam zurückhaltend“


Denn – Stichwort „Zug der Documenta-Aufarbeitung verpassen“ – beschäftigte sich Mitte Juni auch die Hybrid-Tagung „Opfer oder Täter? Thesen zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Kuratoren der ersten Documenta“ der Kasseler Kunsthochschule und des Documenta-Archivs. Christian Fuhrmeister vom Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte konstatierte den „Einbruch der Zeitgeschichte in das Refugium der Ästhetik“. Mit dem Kunsthistoriker Eckhart Gillen stritt er sich darüber, ob Haftmanns Idee einer gemäßigten Moderne aus den Dreißigerjahren, die er dann für die Documenta 1 neu auflegte, nicht doch völkische Untertöne beherbergte. Der Kasseler Kunstprofessor Alexis Joachimides hätte ratlos vor der Diskrepanz zwischen der Freiheitsrhetorik des Kunstpublizisten Werner Haftmann und seiner Rolle im NS-System gestanden.


Doch dabei handelt es sich aber eher „um Marginalien und semantische Haarspaltereien. Zudem sind die wesentlichen Fakten seit Jahrzehnten bekannt. Verändert hat sich allein die Empfindlichkeit, mit der darauf reagiert wird. So wirkt die plötzliche Entdeckung der braunen Documenta ein wenig forciert und lächerlich“, ärgert sich Saehrendt. Die Mahnung des Berliner Antisemitismusforschers Wolfgang Benz oder von Thomas Rudert von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die Rolle einzelner Protagonisten der Documenta nicht allein an ihrer Mitgliedschaft in NS-Organisationen festzumachen, mute „seltsam zurückhaltend an“, befindet Arend.


Joseph Beuys, der Documenta-Künstler schlechthin, richtete 1972 als Beitrag ein „Büro“ ein, in dem er seinen Sekretär positionierte – der ein ehemaliger SS-Mann war. Dagegen gab es selbst „rechten“ Protest. 1972 kippte der Landwirt und Auschwitzleugner Thies Christophersen zur Documenta 5 zwei Fuhren Mist vor das Fridericianum. Dazu reimte er: „Wie man die edle Kunst verhöhnt/ indem die Schönheit man verpönt./Den Ekel selbst zur Kunst erklärt,/die Documenta hats gelehrt/ Den, der darum sich empört,/daß hier Mist nicht hergehört/ sagen wir, daß noch mehr Mist/ in der Documenta ist. - Die Bauernschaft“.


Auf der nachfolgenden Documenta ließ Beuys Werner Georg Haverbeck eine Rede halten. Der war bereits in den Zwanzigerjahren bekennender Nazi gewesen und trat nun als Lebensschützer auf. Die Chefkuratorin Carolyn Christov-Bakargiev wollte, sicher auch eingedenk dessen, den „Nationalsozialismus“ ursprünglich zum zentralen Element der 13. Documenta werden lassen. Sie verpflichtete alle Documenta-Künstler vorab, die Gedenkstätte des ehemaligen Benediktinerklostern Breitenau im Umland von Kassel, das als Gefängnis genutzt wurde und in dem 1933/34 einige hundert politische Häftlinge einsaßen, für „grundlegende Recherchen“ zu besichtigen.


Der Ort sei ein Geisterraum, der für die gesamte Erzählung und den Denkprozess der Ausstellung von Anfang an entscheidend war. „Breitenau“, fabulierte sie, sei „das andere Kassel, das Unbewusste der Documenta 13, die grauenhafte Schattenseite der Gesellschaft“. Trotzdem wurde das Thema der historischen Schuld bei der 13. Documenta nicht dominant, was daran lag, dass sich relativ wenige Künstler darauf einließen. Dafür wurde die nächste Documenta zum beispielhaften Bildprogramm, appellierte an Schuldgefühle der Betrachter, ja evozierte sie erst, und brachte Persönlichkeiten und Institutionen in historisch belastete Zusammenhänge. Ein eigenhändiges Aquarell Arnold Bodes mit dem Titel „Verdun“ aus dem Jahr 1940 rückte den Documenta-Gründer in den Kontext des Eroberungskrieges gegen Frankreich, während Piotr Uklanski ein Soldatenfoto von Joseph Beuys in seine Galerie von „Real Nazis“ einordnete und den Düsseldorfer Künstler auf diese Weise mit Himmler und Hitler gleichstellte.



„Weckruf des Gewissens“


Die letzte, 2017 sowohl in Athen wie in Kassel ausgerichtete Documenta stand dann ganz im Zeichen der Anklage europäischer Migrationsabwehr. „Der Künstler hat die Freiheit, einen drastischen Vergleich zu wählen. Wenn eine Gesellschaft ihn nicht erträgt, kann das der Kunst egal sein“, textete - ebenso jenseits aller Geschichte wie Haftmann - der Kopf des Zentrums für Politische Schönheit ZPS, der Ex-Dresdner Philipp Ruch, im Zusammenhang mit der umstrittensten Aktion der Kasseler Ausstellungsmacher, der „Auschwitz on the Beach“-Performance des italienischen „Philosophen“ Franco Bifo Berardi. In der Ankündigung war der Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer mit dem Völkermord an den Juden während des Zweiten Weltkrieges verglichen worden, was heftige Proteste ausgelöst hatte seitens des hessischen Wissenschafts- und Kunstministers Boris Rhein (CDU), des Kasseler Oberbürgermeisters Christian Geselle (SPD) und Charlotte Knobloch, der ehemaligen Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland.


Rhein empfahl einen Abbruch der geplanten Performance. „Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut. Allerdings verbietet sich jeder Vergleich mit dem Holocaust, denn die Verbrechen der Nazis sind singulär“, erklärte Rhein. Geselle bezeichnete die Aktion als „ungeheuerliche Provokation“, Knobloch sprach von einer „verantwortungslosen Relativierung des Holocaust“. Für den damaligen Documenta-Chef Adam Szymczyk macht der Vergleich des Elends der Flüchtlinge heute mit dem Holocaust insofern Sinn, als ein „ultimativer Grenz- und Referenzbegriff für das extreme, gewaltsame und systemische Unrecht“ bereitgestellt werde, das „von nationalen und transnationalen Körperschaften in Europa an den realen Körpern von Geflüchteten verübt wird, die auf der Flucht nach Europa zu Wasser und zu Land sterben“. Die etablierte Politik verdränge das Thema und schaffe damit jene „selbstauferlegte Blindheit“, die vor Jahrzehnten auch den Völkermord an den Juden ermöglicht hätte.

Es geht um „eine Warnung vor historischer Amnesie“ und einen „Weckruf des Gewissens“, rechtfertigt Szymczyk dann seine Entscheidung, das Kunstevent variiert dennoch aufzuführen. Ruch beklagte prompt einen „Debattenfundamentalismus“ und widersprach: „Auch die Documenta hat nur einen einzigen Auftrag: Heimat, Zufluchtsstätte und Schutzraum der Künste zu sein. Wenn sie aus falsch verstandener politischer Korrektheit ein Werk verhindert, bricht sie mit der Freiheit der Kunst. Politische Kunst ist nicht politisch korrekt. Sie ist ein sokratisches Projekt. Sie will die Gesellschaft durch Stechen aufwecken.“ Wohlbemerkt: Das ZPS erregte unter anderem Aufsehen durch den Diebstahl von Mauerkreuzen in Berlin, um sie als Mahnmale für die Opfer der Asylpolitik an Europas Grenzen neu aufzustellen, oder die Exhumierung und Überführung im Mittelmeer ertrunkener Flüchtlinge nach Berlin, um sie pompös zu beerdigen - für manchen eine Geste „politischer Pornografie“.


Zuletzt machte Ruch, gegen den die Staatsanwaltschaft Gera 16 Monate wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) ermittelt hatte, in Berlin mit einer Stele mit der Asche von Holocaustopfern Furore: Eine „skandalöse Störung der Totenruhe“ erkannte die Jüdische Allgemeine. Im Spiegel hatte der „Aktionskünstler“ dekretiert: „Kunst muss wehtun, reizen, Widerstand leisten. Wir sind keine Wohlfühlzone. Wenn die Leute nur klatschen, ist das für uns ein Albtraum.“ Dieses Documenta-Verständnis wiederum rief wenigstens noch ein paar Kunstkritiker auf den Plan. „Politisch und einseitig“, erklärt Stefan Lüddemann in der Osnabrücker Zeitung, „Überheblichkeit, politische Lehrmeisterei, Freudlosigkeit“, erkennt Nicola Kuhn im Tagesspiegel, von „gezielter Einseitigkeit in der Präsentation“ zum Zweck von „Parteinahme“ schreibt Kia Vahlland in der SüZ und identifiziert gar einen „politischen Anklagemodus, der vereinfacht statt aufzuklären.“


„symbolisches Kapital anhäufen“


Aber genau diese Einseitigkeit eignet nun seit Wochen dem Diskurs um die Documenta-Historie selbst. „Es muss nicht unbedingt so sein, dass jemand kein überzeugter Nationalsozialist war oder das System nicht aktiv gestützt hat, wenn er nicht in der Partei war“, redet Redmann etwa einem Schuldtotalitarismus das Wort: Das „Sample“ ihrer Dissertation umfasst 87 Personen. Bei solchen Kulturwissenschaftlern wundert nicht mehr, dass selbsternannte „Künstler“ wie Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah im März vorschlagen konnten, die schon länger hier Lebenden „Deutsche mit Nazihintergrund“ zu nennen. So werde „Beschämung als eine Art moralische Nebelkerze eingesetzt, um über die Sonderbeanspruchung eines generellen Opferstatus Vorrechte im Konflikt mit anderen Interessengruppen zu erlangen“, ärgert sich Lotter.


Frei nach Friedrich Nietzsche kann ein Zuviel an Geschichte das Leben ganz abwürgen. Die Documenta sicher nicht: „Den Kirchen mögen die Anhänger davonlaufen, in der Documenta ist Kunstgenuss und Ausstellungsbesuch zu einem erfolgreichen neuen massentauglichen Gottesdienst geworden. Man geht hinaus, fühlt sich erbaut und ist bereit für die Anpassung an die Realität“, befand Gerhard Hanloser im ND. Doch „ohne Zweifel wird die ‚identitätslinke Läuterungsagenda‘ auch in der Aufarbeitung der Documenta-Geschichte reichlich Nahrung finden, ohne Zweifel werden die Beteiligten dabei reichlich symbolisches Kapital anhäufen und akademische Karrieren darauf aufbauen können“, bilanziert Saehrendt.


Kunstverdikt statt Kunstgenuss – wer diese Diskussion hierzulande 1990 beendet wähnte, wird inzwischen seit Jahren mit dem Gegenteil konfrontiert. Die Documenta ist nur das jüngste Konfrontationsobjekt, aber nicht das letzte – ob sicher nicht, ist offen. Hanno Rautenberg hatte in der Zusammenschau von DDR- und BRD-Kunst vor elf Jahren in der Zeit erklärt, „dass politische Unfreiheit der Kunst nicht unbedingt schaden muss und umgekehrt politische Freiheit fast schon bedrohlich sein kann.“ Wie prophetisch.




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Über den Autor:


Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.

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