Till Kinzel: EIN UNGERADES JUBILÄUM. ZUM 126. GEBURTSTAG VON LEO STRAUSS
- 24. Sept.
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Okt.
Der Münchner Philosoph Heinrich Meier legt mit seinem Buch Leo Strauss. Zur Sache der Politischen Philosophie eine Art Summe seines Nachdenkens über Leo Strauss (1899-1973) und die in ihm in besonders eindringlicher Weise verkörperte Sache der Politischen Philosophie vor. Wie ein Philosoph sich in der Auseinandersetzung mit den zentralen Herausforderungen der Kunst des Schreibens bedient, die auf der Seite seiner Leser eine entsprechende Kunst des Lesens erfordert – das ist ein Thema des Buches. Denn mit dieser doppelten Kunst steht zugleich in Rede, warum und wozu man sich ihr überhaupt bedienen kann, soll oder muß.

Da Strauss eine seiner expliziten Erörterungen dieser Kunst in einem Essay mit dem Titel Persecution and the art of writing zur Diskussion stellte und darin behauptete, es ginge ihm um eine Soziologie der Philosophie, wurde sein hermeneutischer Ansatz oft genug nur in bezug auf das Problem einer Verfolgung des freien Denkens in illiberalen Gesellschaften bezogen, obwohl für Strauss die philosophische Verwendung eines Schreibens „zwischen den Zeilen“ aus erzieherischen Gründen viel wichtiger war. So wird man denn auch das vorliegende Buch Meiers als Angebot zur philosophischen Selbsterziehung im Medium scheinbar philosophiegeschichtlicher Auslegungen zu verstehen haben.
Was verstand Strauss unter Politischer Philosophie?
Diese Auslegungen zielen im präzisen Sinne darauf, mittels einer Kunst des Lesens den Autor Leo Strauss so zu verstehen, wie dieser sich selbst im Hinblick auf die Sache der Politischen Philosophie verstanden hat. Das weckt manche Erwartungen, von denen indes einige von Meier nicht erfüllt werden. Denn weder läßt er sich darauf ein, die Philosophie von Leo Strauss als eine jüdische zu lesen, noch stellt er den Streit zwischen den Alten und Modernen in den Vordergrund, der noch zu Lebzeiten von Strauss von seinen Schülern in den Vordergrund gestellt worden war. Die Erweckung eines Vorurteils für die Alten in der Politischen Philosophie bedeutet indes nicht deren Inthronisation als Autorität oder Gegenautorität, sondern zuallererst die Herbeiführung eines Zustandes, indem überhaupt eine vollumfängliche Prüfung der jeweiligen Positionen möglich wird.
Meier bietet hier indes keine gerundete Gesamtdarstellung von Strauss, die auf alle Werke eingeht und dem Leser somit nichts Eigenes mehr zu tun ließe, sondern eine Deutung mit sechs Schwerpunkten, wobei der siebte, der in der Mitte des hier vorliegenden Buches hätte stehen müssen, sich bereits in dem Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion betitelten Werk befindet und insofern auch ins Zentrum von Strauss' Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreligion im Modus einer Machiavelli-Auslegung führt.
Insofern ist das vorliegende Buch unvollständig und schickt seine sorgfältigen Leser auf den Weg zwischen weitere Buchdeckel: Man kann nicht bei der Lektüre dieses einen Buches stehenbleiben, so wie man ohnehin jeweils die den Deutungen zugrundeliegenden Texte von Strauss in Reichweite haben sollte, um Meiers Buch voll auskosten zu können.
Heidegger zwischen den Zeilen
Wer einen Einstieg in das sehr komplexe Thema, das hier Politische Philosophie in einer näher zu bestimmenden Weise heißt, sucht, kann zuerst das zweite Kapitel lesen. Denn dort nimmt er eine philosophische Kontextualisierung vor, die bei Strauss' Buch deshalb nötig ist, weil es sich hier seiner Auffassung nach um dasjenige aus seinem Œuvre handelt, das sich am meisten der historischen Situation eingeschrieben hat, aus der heraus es entstand und in der es Stellung bezog. Beginnend mit der These, es handele sich bei dem Buch um eine durchgehende Auseinandersetzung mit Heidegger, der indes von Strauss mit keiner Silbe erwähnt wird, erläutert Meier unter Rückgriff auf frühere Beschäftigungen mit der Denkbewegung und Intention von Strauss, was es damit auf sich hat.
Naturrecht und Geschichte kann als Versuch verstanden werden, die politisch-philosophische Herausforderung anzunehmen, die im antiplatonischen Denken Nietzsches und Heideggers liegt, von dem Strauss in seiner Frühzeit stark geprägt wurde; Teile des Buches schrieb er zudem in der Zeit, nachdem er Heideggers Holzwege zur Kenntnis genommen hatte. Wie auch immer man sich zu Heidegger stellen mag – durch das Studium der klassischen Philosophie sowie der elementarsten Prämissen der Bibel könne man die „natürliche Welt“ rekonstruieren, die nicht das Produkt unserer theoretischen Ambitionen ist. Damit werden aber auch ursprüngliche Werturteile wieder zugänglich, die notwendigerweise mit unserer politischen Sprache und Praxis verbunden sind, denn was, so fragt Strauss, würde aus der Politikwissenschaft werden, wenn sie nicht von Dingen sprechen könnte, die durch Werturteile konstituiert sind, wie z.B. enger Parteigeist, Funktionärsherrschaft Lobbyismus, Staatskunst, Korruption oder gar sittlicher Verderbtheit.
Hinzuweisen ist auf einen wichtigen Grund für Meiers eigenes Supplement zu Strauss' wohl bekanntestem Buch. Dieses hatte nämlich den Effekt, daß es gerade wegen seiner großen Popularität „den Zugang zu seinem Denken erschwerte“, was noch dadurch verstärkt wurde, daß es „das Buch der Schule geworden und geblieben ist, als das es konzipiert wurde“. Strauss hat demnach also mit dem Buch sehr direkt die Intention verbunden, eine Art Handbuch für die noch zu schaffende Schule zu schreiben. Die Bildung einer Schule hat aber immer einen Preis, wie auch die „Lehr- und Lernbarkeit des historischen Narrativs“ in Naturrecht und Geschichte „einen hohen Preis“ hat. In diesem Zusammenhang ist auch, was die zentrale Fragestellung und Antwort von Leo Strauss hinsichtlich des Verhältnisses von Philosophie und Offenbarung angeht, auf das „Wunder der Schule“ zu verweisen – ein Wunder, das sich der wunderlichen These verdankt, Strauss habe ernsthaft gedacht, es gebe ein „Patt“ zwischen Philosophie und Theologie und die Philosophie sei daher durch die Offenbarung endgültig widerlegt.
Grenzen der philosophischen Vernunft
Dies ist ein Punkt, der hervorgehoben zu werden verdient, denn es ist eine auch unter den Strauss-Schülern selbst verbreitete Auffassung, Strauss zufolge sei die philosophische Vernunft unfähig, die (Möglichkeit der) Offenbarung zu widerlegen. Somit korrigiert Meier mit seinem Essay die Wirkung des Strauss-Buches, indem die kritische Reflexion auf das Problem der Schule in den Vordergrund gerückt wird, die übrigens in anderer Form auch schon Nathan Tarcov anhand einer bestimmten Kritik des Straussianismus avant la lettre vorgeführt hatte. Im Hinterkopf zu behalten ist bei diesem Thema auch die von Strauss vorgenommene Unterscheidung zwischen natural law und natural right, deren Nichtbeachtung zu mancherlei Mißverständnissen geführt hat, worauf indes hier nicht weiter eingegangen werden muß.
Neben Naturrecht und Geschichte, das demnach in gewisser Weise einen Sonderfall unter den Texten von Strauss darstellt, weil er in spezifischer Form auch einen sehr direkten „populären“ Bezug herstellt, wählt Meier als erstes einen der befremdlicheren und auch sperrigeren Texte, nämlich den Essay über das Gesetz der Vernunft im Kuzari, jenem mittelalterlichen Text des Jehuda Halevi, der keine Abhandlung, sondern ein Gespräch darstellt, in dem sich Vertreter der drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam sowie ein Philosoph über das alles entscheidende Thema unterhalten.
Aber warum sollte man sich mit einem solchen Text heute noch befassen, der so sehr aus einer historischen Situation heraus geschrieben ist, die nicht mehr die unsere ist? Es ist jedenfalls auffällig, daß Meier für sein Buch als Rahmung die Analyse von Strauss-Texten wählte, die sich mit Dichtern befassen, nämlich neben dem Kuzari andererseits Lukrez, dessen De rerum natura in der Regel als dichterische Präsentation einer epikureischen Philosophie interpretiert wird. Eine Deutung freilich, von der sich Strauss distanziert, indem er deutlich macht, wie sehr Lukrez einen eigenen Weg einschlägt. Wäre Lukrez lediglich ein Epikureer gewesen, müßte gelten, daß er „mithin kein Philosoph“ war, weil er dann nur ein Anhänger gewesen wäre. Insofern mußte es Strauss besonders reizen, am Beispiel des Lukrez zu erörtern, wie es um den „Spielraum der philosophischen Lehre“ gegenüber dem zugrundeliegenden philosophischen Leben bestellt war.
Konfrontation mit dem Offenbarungsglauben
Weiterhin geht Meier auf den Vortrag Jerusalem and Athens ein, der schon rhetorisch signifikant die z. B. bei Tertullian ebenso wie bei Leo Schestow ebenfalls auftauchenden und gegeneinander gestellten Städtenamen vertauscht und damit signalisiert, daß er sich nicht gegen Athen, sondern gegen die mit dem Namen Jerusalem verbundene Option des Offenbarungsglaubens wendet. Anhand der überlieferten Dokumente zu mehreren Vorträgen, die Strauss seit den 1940er Jahren zum Thema vor verschiedenen Zuhörerschaften (was wichtig ist, denn es macht einen Unterschied, ob die Adressaten Theologen, Gelehrte oder wie auch immer näher zu bestimmende Nichtphilosophen sind) gehalten hat, erläutert Meier die grundlegenden polemischen Konstellationen, indem er z. B. an die Stellungnahmen von politischen Theologen à la Tertullianus und Carl Schmitt erinnert. Denn schon der Kirchenvater hatte en pleine connaissance de cause in den Philosophen die „Patriarchen der Häretiker“ und im Gefolge des Apostels Paulus „in der Philosophie eine Chikane gegen die Wahrheit erblickt.“
Meier unterstreicht die Differenz auch dadurch, daß er Schestow, der im übrigen auch nicht zufällig über Kierkegaard schrieb, als religiösen Schriftsteller und nicht als Philosophen kennzeichnet. Besondere Beachtung verdient zudem, daß Meier sich in bezug auf den Streit der Offenbarung mit der Philosophie jeweils auf einen protestantischen (Emil Brunner) und einen katholischen (Josef Ratzinger) Theologen bezieht, während beispielsweise Jürgen Habermas mit seinen Erörterungen zur okzidentalen Konstellation von Glauben und Wissen außen vor bleibt. Die Frage nach dem Zufall, das sei hier beiläufig erwähnt, durchzieht Meiers Buch im Blick auf die Frage, welchen Stellenwert von Seiten der Offenbarung wie der Philosophie dem Zufall und der Notwendigkeit zugemessen wird. Denn nur wenn es Dinge gibt, die mit Notwendigkeit so sind, wie sie sind, kann es von ihnen ein genuines Wissen geben; und es ist von entscheidender Bedeutung, daß die Philosophie in ihrer Konfrontation mit dem Offenbarungsglauben sich das Urteil darüber vorbehält, was als möglich und was als notwendig gelten könne. Wenn also aus dem biblischen Text selbst nicht zwingend die Vorstellung einer creatio ex nihilo hervorgehen sollte, weil sie dort nicht auf den Begriff gebracht wird, so bliebe es doch die Aufgabe der Philosophie sie als notwendige Voraussetzung der Annahme oder Behauptung der Allmacht Gottes zu erweisen. „Im Zentrum des Streites steht die Omnipotenz. Die Opposition von Allmacht und Notwendigkeit markiert die Scheidelinie“.
Lehrmeister Thukydides
Wenn demnach der Offenbarungsglaube Rechenschaft von sich ablegen will, bedarf er der Philosophie. Wenn er indes, was sich gleichfalls als problematisch erweist, der Überprüfung unzugänglich bleiben wollte, müßte er sich auf ein „radikales Nichtwissen“ zurückziehen, das dann zwar eine uneinnehmbare Festung darstellte, die aber nicht verlassen werden könnte und außerdem reichlich Raum für Selbsttäuschungen und Leichtfertigkeit böte.
Es folgt ein Kapitel über The city and man, ein Buch, das bisher ebensowenig in deutscher Übersetzung vorliegt wie der Text über den Kuzari oder den spannungsvollen Gegensatz von Jerusalem und Athen.
Hier nun geht es im engeren Sinne um die klassische antike Philosophie bzw. das politische Denken, denn Strauss interpretiert hier nicht nur Platon und Aristoteles, sondern auch Thukydides, der in seiner Konzentration auf die politischen Geschehnisse nicht nur des von ihm geschilderten Krieges offenbar geeignet scheint, gewisse Mängel der Klassischen Politischen Philosophie sichtbar zu machen. Thukydides beziehe sich bei dem, was sein Buch Der Peloponnesische Krieg zu einem Besitztum für immer macht, nicht nur im engeren Sinne auf die Natur des Menschen, sondern auch auf die übergreifende Natur insgesamt mit ihrem Ineinander von Bewegung und Ruhe, das weit über die unmittelbar relevante Wirklichkeit von Krieg und Frieden hinausgeht. In diesem Rahmen kann auf diese Dinge nicht weiter eingegangen werden, so daß nur der Hinweis auf eine provokante These Meiers erlaubt sei, wonach sich aus Strauss' Aristoteles-Analyse ergibt, daß das „kontemplative Leben (…) nicht das philosophische Leben“ sei. Diese Differenz hat entscheidend mit einem Umstand zu tun, den Strauss vergleichsweise wenig diskutiert, nämlich mit der Existenz des Christentums.
Das fünfte Kapitel Philosophie und Dichtung ist einem zentralen Buch des späten Strauss (Socrates and Aristophanes) gewidmet, indem er sich erstmals ausführlich auch und gerade mit dem Problem des Sokrates befaßte, das er dann in weiteren Büchern über Xenophon weiter entwickelt. Denn das Bild des Sokrates, wie es bei dem Komödienschreiber Aristophanes erscheint, unterscheidet sich erheblich von dem, das Platon und Xenophon von ihm malen. Entscheidend ist, daß Sokrates von Aristophanes nicht als ein Beispiel für den Typus des Sophisten präsentiert wird, sondern als eben dieser konkrete Sokrates, der sui generis war.
Nähe zu Lukrez
Auch wenn die Philosophie als Lebensweise bestimmt wird, muß man doch mit Meier unterscheiden zwischen dem philosophischen Leben und der philosophischen Lehre. Hier nun wendet er sich, wie bereits erwähnt, einer im Strauss-Kanon bemerkenswert unbeachtet gebliebenen Schrift zu. Diese hat zwar durchaus den Charakter eines eigenständigen Buches, ist aber nicht so leicht als solches erkennbar, weil sie im Rahmen eines Sammelbandes mit einem eher politisch klingenden Titel, Liberalism ancient and modern, erschien: Notes on Lucretius.
„Die Nähe zu Lukrez“, so Meier, „ist Straussianern und Antistraussianern (…) zumeist verborgen geblieben“. Meier deutet an, daß sich Strauss seit langer Zeit mit Lukrez befaßt hatte, was ihn übrigens auch einmal, von Meier hier nicht erwähnt, im Briefwechsel mit Eric Voegelin bemerken ließ, er bezweifle, daß jemand wie George Santayana Lukrez angemessen verstehen könne.
Meier rückt das philosophische Leben ins Zentrum der Erörterung der Politischen Philosophie. Leo Strauss wird von ihm daraufhin intensiv befragt, wie sich die Philosophie jeweils mit den spezifischen Herausforderungen ins Benehmen setzen muß, die sich entweder in der Moderne oder überhaupt stellen. Insofern verwundert es nicht, daß nach der Exposition des philosophischen Lebens im ersten Kapitel zunächst die Geschichte in den Blick gerät, bevor dann die Offenbarung, die Politik und die Dichtung in ihrer jeweiligen Bedeutung nicht zuletzt für die Selbsterkenntnis des Philosophen greifbar gemacht werden.
Wenn das letzte Kapitel die philosophische Lehre thematisiert, schließt sich gewissermaßen der Kreis, denn mit seinem Buch lenkt Heinrich Meier „die Aufmerksamkeit auf einen Philosophen, der ihm vorausging“, wenn er ihn auch nicht in dichterischer Form präsentiert. Stellt man die Frage: „Was ist ein Gott?“, wäre mindestens zu bedenken, ob nicht das Postulat mancher Vertreter der Offenbarungsreligion von der Unergründlichkeit Gottes unausweislich kollidiert mit dem moralischen Anspruch, in Gott die Verkörperung von Tugenden wie Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe und Erbarmen zu sehen.
Heinrich Meier: Leo Strauss. Zur Sache der Politischen Philosophie. München: Beck, 2025.
Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).
Titel-/Beitragsbild im Original: Monozigote, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons
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