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Volker Wittmann: ZEITREISEN

Im Jahr 1895 erschien „Die Zeitmaschine“, ein Roman des britischen Schriftstellers H. G. Wells, ein Klassiker des Science Fiction. Darin schilderte Wells die Abenteuer eines Londoner Tüftlers, der ein Gerät gebaut hat, mit dem sich in die Zukunft reisen läßt, genauer ins Jahr 802.701 nach Christus. Dabei ging der Verfasser von der Annahme aus, die Zeit würde neben den drei räumlichen Ausdehnungs-Richtungen Höhe, Breite, Tiefe eine gleichberechtigte vierte Dimension darstellen. Darum könne man sich auch in der vierten vor und zurück bewegen wie in den drei anderen, also in Vergangenheit und Zukunft.


A rocket explorer named Wright / Once traveled much faster than light. / He sat out one day / In a relative way, / And returned on the previous night. Englische Karikatur einer Zeitreise: Das Raumschiff trägt die Nummer 1313. In der Zahlen-Mystik, der Numerologie, gilt sie als so genannte „Engels-Zahl“. Ihr mißt man dort eine magische Bedeutung bei, wonach „das Universum einen Neuanfang gewährt". Die Reime dazu besagen auf Deutsch: Ein Raketen-Forscher Namens Wright, der reiste viel schneller als Licht. Er brach eines Tages auf und kam in der Nacht zuvor zurück.


Seither gehören Zeitreisen zu den beliebten Stoffen von SF-Romanen. Allerdings sind dazu logische Bocksprünge nötig. Das zeigt das so genannte „Großvater-Paradoxon“: Dabei gelangt ein Fahrensmann in die Vergangenheit und verursacht den Tod seines Ahnen, bevor der seinen Sohn, den Vater des Reisenden zeugen konnte. Das kann nicht sein, denn damit dürfte es ihn gar nicht geben.

Schlüssige Zusammenhänge erfordern eine klare Reihenfolge. An erster Stelle steht eine Voraussetzung. Daraus ergibt sich die Folgerung. Das gilt erst recht, wenn es sich wie hier um Ursache und Wirkung handelt. Doch beim Großvater-Paradoxon besteht die Wirkung darin, die Ursache zu beseitigen. Krauser kann es kaum zugehen, dennoch werden solche Geschichten so emsig wie ernsthaft erwogen.


Liebhaber derartiger Wirrungen berufen sich auf die Lehren des Physikers Albert Einstein (1879-1955). Laut dessen allgemeiner Relativitäts-Theorie verlangsamt die Zeit unter Einwirkung vermehrter Schwerkraft angeblich ihren Gang. So treten in einschlägigen Filmen Leute auf, die in die Nähe eines Schwarzen Lochs geraten sind, eines astronomischen Gebildes von größtmöglicher Masse. Bei ihrer Rückkehr finden sie Greise vor, die sie bei ihrem Abflug noch als junge Männer erlebt haben. Sie selbst waren unterdessen nur einige Wochen gealtert.


Was ist Zeit?


Um zu klären, was an der Sache dran sein kann, sollte man sich vorab darauf verständigen, was man unter Zeit verstehen will. Dazu geht man am besten davon aus, wie sie gemessen wird. Das ist furchtbar einfach und bestens bekannt. Innerhalb eines Tages und einer Nacht umrundet der kleine Zeiger der Uhr 24 mal das Zifferblatt, so fern Besserwisser ihn nicht gerade willkürlich verstellen, wie das die EU so gern macht. Gleichzeitig dreht sich die Erde einmal um sich selbst.


Jetzt tritt der nüchterne Beobachter einen Schritt zurück und fragt danach, was hier vor sich geht. Die Antwort liegt auf der Hand: Es werden zwei Kreisläufe miteinander verglichen. Die Drehung des Zeigers, der kürzere von beiden Vorgängen mit dem längeren, der Rotation des Globus. Dabei zeigt die Uhr an, wie weit die Drehung der Erde seit Mitternacht voran geschritten ist. Die Dauer des vollendeten Teils nennt man „Zeit“.


Ebenso verhält es sich mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Im Wechsel der Jahreszeiten ist die Drehung der Erde der kürzere Kreislauf im Vergleich zu ihrer Umrundung der Sonne, dem längeren. Dazu zählt man die Abschnitte zwischen zwei Sonnenaufgängen seit dem letzten Durchgang des Planeten am Frühlingspunkt. Was die Uhr für Tageszeit ist, ist der Kalender für die Jahreszeit. Hier deutet man das Verstreichen der Tage als Zeit, die vergeht.


Eigentlich wären stets beide Kreisläufe gleichberechtigt. Sie werden einzig durch Deutung unterschieden. Der kürzere dient als Maßstab für den Wandel des längeren. Das ist alles. Folglich ist Zeit eine Sichtweise, ein Denkgesetz zur Orientierung. Es hat nichts Gegenständliches an sich, das physikalischen Einflüssen unterliegen würde. Was es tatsächlich gibt, ist Bewegung, Aufstieg, Abstieg, Wachstum und Verfall. Alles andere wird zum besseren Verständnis bei der Wahrnehmung durch die fünf Sinne erzeugt.

Bis vor kurzem hatte die Wissenschaft noch Mühe, die genaue Länge der Zeiteinheiten durch Unterteilung der natürlichen Kreisläufe zu bestimmen. Demnach maß eine Sekunde, theoretisch eine Spanne, die sich durch Zerlegung des Jahrs in 365/6 Tage zu je 24 Stunden und die wiederum jeweils sechzig Minuten und Sekunden dauerte. Doch das Verfahren stieß rasch an Grenzen.


Streitfall GPS


Die Erduhr, wie man den Kalender nennen könnte, geht nämlich nach. Wenn sie die 365-ste Umdrehung vollendet hat, braucht die Erde fast noch sechs Stunden um ihre Runde um die Sonne abzuschließen. Das macht in vier Jahren beinahe einen Tag und eine Nacht aus. Zum Ausgleich dienen die Schaltjahre.


Genauer beträgt die Dauer des Jahres 365,2420 Sonnentage. Der Überhang hinter dem Komma gleicht 5 Stunden, 48 Minuten und 29 Sekunden. Damit fehlen 11 Minuten und 31 Sekunden an einer Vierteldrehung der Erde, wie sie die Schaltjahre berücksichtigen, aber ein wenig zu viel des Guten tun. Also würde die Erduhr nach etlichen Schaltungen auf Dauer etwas vorgehen. Deshalb müßte etwa alle hundert Jahre eine Schaltung ausfallen.


Trotzdem blieb immer noch ein unausrottbarer Rest an Ungenauigkeit. Deshalb hat die Wissenschaft eine künstliche Sekunde geschaffen, die von den herkömmlichen Kreisläufen unabhängig ist. Zuletzt wurde im Jahr 2019 die Dauer einer Standard-Sekunde auf „das 9.192.631.770-fache der Periode der Strahlung festgelegt, die dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstruktur-Niveaus des Grundzustandes von Caesium­-Atomen des Nuklids 133 Cs entspricht". So heißt es amtlicherseits, was auch immer das im Einzelnen bedeuten mag.


Damit trat an die Stelle von Vergleichs-Kreisläufen aus der Astronomie ein Vorgang in der Atom-Physik. Die neue Einheit erlaubt es offenbar, die Länge eines Jahres bis auf einen winzigen Bruchteil genau anzugeben, der noch als hinnehmbar gilt. Die Notwendigkeit ergab sich unter anderem, als die USA das GPS eingerichtet haben, das „Global Positioning System“, ein weltweites Verfahren zur Ortsbestimmung.


Dazu dient ein Verbund von 24 Satelliten, die den Globus in 20200 Kilometern Höhe auf nahezu kreisförmigen Bahnen umrunden. Aber nur etwa zehn von ihnen sind von einem Bezugspunkt am Boden gleichzeitig in Sicht, weil sich die übrigen anderwärts um den Globus verteilen. Damit das Ortungs-Verfahren stets und überall funktioniert, stehen alle miteinander in Verbindung.


Elektromagnetische Signale breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Das sind rund 300.000 Kilometer in der Sekunde. Dennoch muß die Laufzeit der Funksignale berücksichtigt werden, die für den Austausch der Satelliten unter einander und mit den Stellen am Boden anfallen. Für die Abstimmung ist auch jeder Satellit mit einer Atom-Uhr ausgestattet.


Beim Vergleich der Uhren ergibt sich jedoch ein geringer, aber merklicher Unterschied zwischen der gemessenen Zeit am Boden und der, die von Bord der Satelliten übermittelt wird. Die Abweichungen liegen im Bereich von Millionsteln einer Sekunde. Das erscheint lachhaft wenig. Aber nur wenn man dieses beinahe Nichts berücksichtigt, läßt sich jeder Ort am Boden auf zehn Meter eingrenzen.


Zur Erklärung der Differenz zieht man die allgemeine Relativitäts-Theorie von Einstein heran. Danach vergeht Zeit am Boden unter Einwirkung von Schwerkraft langsamer als in großer Höhe, wo die Erdanziehung allmählich abnimmt. Die Behauptung geht nicht etwa dahin, daß der Gang der Uhren auf Grund technisch-physikalischer Einflüsse gehemmt werde, sondern daß die Zeit als solche langsamer vergeht.


Magie aus dem Mittealter


Damit wäre man wieder beim Science Fiction. Eine Sichtweise menschlicher Wahrnehmung wird als schicksalhafte Macht gedeutet, die unabhängig vom Betrachter waltet. Offenbar ist die neuzeitliche Physik immer noch nicht frei von mystischen Denkweisen des Mittelalters, als man magischen Kräften unwägbare Einflüsse zuschrieb.


Deshalb hielten hohe Militärs in den USA dergleichen für „Einstein-Quatsch". Sie forderten die Vorrichtung für den Ausgleich des geringen Unterschieds beim GPS abzuschalten. Ihnen stand ein Recht auf Mitsprache zu, weil das Ortungs-System ursprünglich für militärische Zwecke eingerichtet wurde. Doch die Generäle irrten. Die Ortsbestimmung funktionierte nicht mehr hinreichend genau.


Doch dazu braucht man keine Ehrfurcht gebietenden, vollwuchtige physikalische Theorien zu bemühen. Die Abweichung ließe sich auch als Hinweis auslegen, daß der überkommene Satz von der Konstanz der Licht-Geschwindigkeit überholt ist. Die genaueren Messungen mit Atomuhren offenbaren anscheinend, daß die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen geringen Schwankungen unterliegt, die man wegen unzureichender Mittel bisher nicht entdeckt hatte.


Innerhalb der Physik gilt es allerdings als unverzeihlicher Sündenfall, an der Relativitäts-Theorie zu rütteln. Das können sich allenfalls Träger des Nobelpreises erlauben. Am CERN, dem großen Teilchenbeschleuniger in Genf, hatten vor einiger Zeit zwei verdiente Forscher Zweifel daran geäußert, daß die Lichtgeschwindigkeit eine unüberwindliche Schranke darstellen würde, wie es auch zu Einsteins Lehren gehört. Beide mußten gehen.


Unter diesen Umständen bleibt fraglich, ob die Tonangeber der Fachwelt in absehbarer Zeit zu einer schlichteren Aussage finden werden. Ein Umdenken würde auch Ockhams Rasiermesser nahe legen. Hinter der schneidigen Bezeichnung steckt der arglose Grundsatz: Von mehreren möglichen Deutungen für ein und denselben Sachverhalt ist der einfachste von allen vorzuziehen.



*


Über den Autor: Volker Wittman, geboren in Bochum, Diplom-Mathematiker und Magister der politischen Wissenschaft. Nach Besuch der Deutschen Journalistenschule in München Reporter und Redakteur beim Bayerischen Rundfunk, der Münchner Abendzeitung und Bild. Aufbau der eigenen Agentur pbm (presse-büro-münchen). Freier Korrespondent in Paris, freier Mitarbeiter bei der Preußischen Allgemeinen Zeitung. Wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität der Bundeswehr Neubiberg, am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Buchveröffentlichungen über Astrobiologie „Planet der Hausaffen“ und über die Asylkrise „Sturmflut der Völker“, die beide 2015 im Allstern-Verlag erschienen. Darüber hinaus zahlreiche Artikel in verschiedenen Zeitschriften und Blogs.



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