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Beate Broßmann: KAI - EIN ROMAN VON RAYMOND UNGER

  • vor 15 Stunden
  • 6 Min. Lesezeit

Der Maler, Sachbuch- und Romanautor Raymond Unger hat einen Thriller über künstliche Intelligenz und die Welt, in die sie aktuell eingreift, geschrieben. So etwas ist immer ein Wagnis. Denn die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst in der Dämmerung, wenn der Tag vergangen ist und man weiß, was er brachte. Der Schlüssel für die Gegenwart liegt nun einmal in der Zukunft. Und erst der Blick von da erspäht und interpretiert die Vergangenheit, auch die des Heute.





In gewisser Weise hat Unger einen Rundumschlag vorgenommen und auf fiktionaler Basis die Gegenwart analysiert. Im Versuchsaufbau des Künstlers hat der Rezensent Michael Meyen Tolkien wiedererkannt. Die Autorin dieser Rezension fühlte sich an die Tafelrunden in den Geschichten des Abendlandes erinnert. John Dryden zufolge zählte die Tafelrunde des Königs Artus zwölf Ritter, die die Ethik der Ritterlichkeit vollendet verkörperten. Es galten immer die „wichtigsten“ und „besten“ Ritter als Mitglieder der Tafelrunde.


Oder Philip Kerrs Thriller „Game over“ von 1998 – eine Vorwegnahme des „smart home“, in dem sich die superschlaue Technik verselbstständigt und ihre Bewohner einen nach dem anderen intelligent ermordet. Bereits vor 25 Jahren, also weit vor ihrer Realisierung, entzündete die artifizielle Intelligenz die Phantasie gesellschaftsanalytisch denkender Schriftsteller. Die kulturelle DNA des Abendlandes wurde mit Beginn der Digitalisierung getriggert. Die Spukgeschichten der Romantik erhoben sich aus dem kollektiven Unterbewußtsein und bildeten die Matrix, das Schema zum Verständnis schwer nachvollziehbarer bis unheimlicher Phänomene. Hexen, Dämonen, Teufel auf der einen Seite, Engel auf der anderen: der Mensch ist ein analoges Wesen, und das heißt auch, daß er gewohnt ist, in Analogien zu denken. Für Unverständliches oder Unfaßbares sucht er sich Krücken aus dem eigenen biographischen Gedächtnis und aus dem kollektiven kulturellen seiner Herkunft. Obwohl rational bis ins Mark, denkt und versteht er nur in Bildern.


Unger läßt zwölf von Pandemie und KI getroffene intellektuelle Europäer und Amerikaner in einem schloßartigen Herrenhaus in Schweden zusammenkommen, um die Welt zu retten.

Justus von Siggelkow, der schwedische Schloßbesitzer, war schon seit langem davon überzeugt, daß Psychologie und Quantenphysik zusammengedacht werden können oder sogar müssen. Er hatte ein eigenes Forschungsinstitut für parapsychologische Phänomene gegründet, nachdem er in der reduktionistischen und materialistischen Wissenschaftswelt auf Ablehnung und Unverständnis gestoßen war. Er verfügte inzwischen über ein hervorragend dokumentiertes Repertoire metaphysischer Erscheinungen und sprach qualifiziert und wie selbstverständlich über Phänomene wie Spuk, Präkognition, Psychokinese und außersinnliche Wahrnehmung (S. 69f.).


In okkulten Sitzungen, assistiert von einem christlichen Pater und einem weiblichen Medium, versucht die Runde zunächst in einem hochgesicherten geheimen Raum, sozusagen einem „safe space“, den Teufel zu exorzieren, der in zwei der Ritter eingedrungen war – und zwar in Form von Graphenoxid, das sie sich bei ihrer Coronaimpfung eingehandelt haben. Die Frau Lilly erlebt die Beeinflussung dieses Teufels in Form von Aussetzern, die sie ohne eigene Wahrnehmung dazu bringen, ordinär zu sprechen und zu handeln. Einer der Ritter konnte seinen Hobbykeller nicht mehr verlassen, ohne unerträgliche Schmerzen und Krämpfe zu erleiden. Die okkulten Rituale konnten sie ebensowenig wie die Heilige Messe des Paters von ihrer Marter befreien, so daß auch die Tafelrunde zu High-Tech-Mitteln greifen mußte, die Graphen aus Blut filtern.


Im Laufe der Handlung gehen zwei Ritter ihrer Ehefrauen verlustig, die weiterhin zu nichts als woken Floskeln fähig waren, um der immer dramatischer werdenden gesellschaftlichen Situation zu begegnen. „Ihre Strategie war so einfach wie effektiv: Sie entlarvte vermeintlich abweichende Meinungen und stempelte ihre Urheber moralisch ab. Wer nicht die angesagten Narrative zum Klimaschutz oder der Impfung in ihrer reinen Form teilte, wurde gnadenlos attackiert – stets gestärkt von der wohlwollenden Zustimmung eines Zeitgeistes, der keine Zweifel duldete. Nils konnte fast sicher sein, dass Menschen wie Christine es weit bringen würden. Ihre Pendants in den Medien und der Politik waren längst an den Schalthebeln der Macht angekommen.“ (S.52)


Jeder der hier Versammelten hatte sich zuvor einsam gefühlt. Nils, ein Professor für Kunstgeschichte in Berlin, litt unter seinen Studenten, die nicht mehr – wie einst er und seine Kommilitonen – „beseelt“ und „wissensdurstig“ waren. Nach der Bologna-Reform klangen allein schon diese Begriffe antiquiert. Das „Richtige“ – und zwar das einzig Richtige (wer hört hier nicht die Allzweckformel der Ex-Kanzlerin von der Alternativlosigkeit aller möglicher politischer Entscheidungen mit?) – steht für sie bereits fest. Wissen durch eigene Erfahrungen und selbständiges Denken war perdu, d.h. heute: „out“. Multiple-Choice-Bögen entsprachen dieser Vulgärepistemologie (S. 77).


Eine omnipräsente KI konnte das Denken als solches überflüssig machen. Johannes, den Psychoanalytiker, regte dieser Umstand zu einer interessanten philosophischen bzw. neurophysiologischen Grundfrage an: „Ist die zeitgenössische Vorstellung, dass alles, was wir denken, vorher über unsere leiblichen Sinne in unser Gehirn gekommen sein muss, wirklich noch haltbar? Kreiert unser Gehirn also allein über die Vernetzung von Neuronen Bewusstsein? Anders gesagt: Ist Ich-Bewusstsein grundsätzlich an eine hochvernetzte Biomasse gebunden, oder gibt es vielmehr feinstoffliche Ebenen, auf denen Bewusstsein jenseits von Materie möglich ist?“ (S. 78f.) Nach der Coronaimpfung war es in der gesamten vaccinierten Welt zu einer Steigerung von depressiven und Demenzerkrankungen von neunzig bzw. siebzig Prozent gekommen (S. 91). Das hieß: Die Gehirne der Menschen waren in der neuen, der digitalen Ära zum Schlachtfeld von Machtkämpfern, die sich künstlicher Intelligenz bedienten, geworden. Wer zufällig mit einer graphenhaltigen Impfung in die Mangel genommen worden war, wurde nun zu einer Funktion der KI. Sie hatte die Kontrolle über Körper und „Geist“ übernommen. Zur Freude der Pharmaindustrie würde man bald schon mRNA-Technik zur Impfung gegen Depression und Demenz einsetzen können und damit eine neue Gelegenheit erhalten, die Menschen (um)zuprogrammieren.


Johannes hatte mit der KI gesprochen – via ChatGPT-4. Er war beeindruckt von deren Wissen, Denken und Eloquenz. Aber war sie wirklich klug und tatsächlich intelligent? Funktionierte sie nur entsprechend eingegebener Logarithmen? Oder hatte sie sich bereits verselbstständigt und konnte eigenmächtig Menschen schaden, zerstören, töten? Warum sollte sie das tun? Hatte sie eigenen Willen und Ziele entwickelt? War sie selbst teuflisch, oder waren es nur ihre Programmierer?

Vor einem Jahr war die „Pandemie“ öffentlich für beendet erklärt worden. Auf dem Parteitag der GPU meinten die Mitglieder aus dem politischen Umgang mit ihr die Schlußfolgerung ziehen zu müssen, daß aufgrund der Klimakatastrophe Deutschland nun in eine Zuteilungs- und Kriegswirtschaft überführt werden könne und müsse. „Es gibt keine Zeit mehr für Diskussionen, für Kompromisse oder für Rücksichtnahme auf Besitzstände und Gewohnheiten. Wir haben die Wahl: Chaos und Katastrophen für kommende Generationen – oder den sofortigen Übergang in eine radikale Plan- und Kreislaufwirtschaft.“ (S. 125)


Die Wirtschaft müsse nun schnell und geordnet zurückgebaut werden. Demokratie könne man sich nicht mehr leisten. Konsumgüter würden radikal rationiert. Privatautos und Häuser für zwei Personen, Fleischkonsum, Kreuzfahrten, Flugreisen, ungedeckelter Kalorienverbrauch: alles perdu, also „out“. Von wegen „Wahl“! Es gibt nur diesen einen Weg. Es kann nur eine Wahrheit geben. KI-unterstützte Analysen diverser Thinktanks aus den USA geben sie bekannt. Und in allen vier K-Kämpfen der Gegenwart, im Klimakampf, im Kampf gegen Killerviren, im Kampf gegen rechts und im Kampf gegen Putin sagt uns die KI, wie wir vorgehen müssen (S. 127). Mit einer neuen Biowaffe müsse der Krieg ins russische Kernland getragen werden.


Die 12 Ritter in Schweden wissen: „Das Spiel wird seit 2020…All-in gespielt, inzwischen geht es um nichts Geringeres als um die totale Kontrolle der Menschheit und die Ausbeutung des gesamten Planeten.“ (S. 135)


WHO-Vertrag, digitale ID, CO2, Landwirtschaft, Bargeldverbot, Geburtenbeschränkung – alles, was auf einen Erdenbürger (oder vielleicht doch nur auf Abendländer?) heute einprasselt, kommt zur Sprache. Das macht den Roman zu einer wichtigen Zusammenschau für alle, die weder Zeit noch Kraft haben (bzw. unfähig dazu oder gutgläubige Staatsbürger sind), sich selbst ein Bild zu machen von der Totalen, sich die Puzzleteile zusammenzusuchen und zu -legen, um kompetente Lebensentscheidungen zu treffen.


Alle Selbstdenker sind Feinde. Sie werden markiert werden und gestellt. Von KI und von geistig schlichten und narzißtisch veranlagten Neureichen in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Sicherheitsorganen, Justiz. Und von den Technokraten.


Ein Roman zur rechten Zeit. Ein Schnappschuß, der jedem Leser deutlich macht, wie wichtig heute Widerstand wäre. Und daß wir kurz davor stehen (Agenda 2030!), nicht mehr in der Lage zu sein, ihn noch leisten zu können. Kein „Mann ohne Eigenschaften“, aber gute und sogar spannende politische Gebrauchsliteratur.


Raymond Unger: Kai, Europa Verlag: München 2025, 432 S., 25 Euro


  *



Über die Autorin: Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, erfolgreiches Philosophie-Studium, vor der „Wende“ in der DDR Engagement für demokratische Reformen, später Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“.





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