Carsten Germis: SCHAUMKRONEN. DAS FEUILLETON UND DIE BÜCHERMESSE IN HALLE
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Widerspruch, heißt es, ist eigentlich die edelste Form des Denkens. Nur Reibung erzeugt Bewegung. Seit Hegel galt er als die Triebkraft jeder Entwicklung: Ohne Dialektik kein Fortschritt, ohne Konflikt keine Vernunft. Dass sich Widerspruch auch ganz anders zeigen kann, dass sich vor allem in der Bundesrepublik mittlerweile gar eine Ökonomisierung des Widerspruchs entwickelt hat, zeigt die Nachlese der Buchmesse »Seitenwechsel« in Halle am vergangenen Wochenende.
Gemeint ist eine Verhärtung der moralisch-rentenorientierten Nutzung des Dissenses: Wer im Deutschland unserer Zeit an der Seite der herrschenden Milieus moralische Erregung auslöst oder bündelt, schöpft daraus symbolisches und ökonomisches Kapital. Widerspruch verliert seinen Erkenntniswert und wird zur Ressource, mit der sich Deutungshoheit, Publikum und Fördergelder sichern lassen – eine moralische Spielart des Rent-Seeking. Nichts zeigt dies deutlicher als die Berichterstattung des deutschen »Qualitätsjournalismus« über die Hallenser Buchmesse. Es ging um alles, nur nicht um Bücher.
Beginnen wir mit der Süddeutschen Zeitung, deren Berichterstatter über die Messe sich auf seiner eigenen Homepage mit folgenden Worten vorstellt: »Bernhard Heckler ist Feuilleton-Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, also der führenden Tageszeitung Europas, wenn nicht der Welt. Und das alles dank der Deutschen Journalistenschule, die er besuchen durfte.« Man ahnt Schlimmstes und hofft dann doch ein bisschen. Vergebens, denn weltbeste Journalisten haben es wohl nicht so mit der Recherche, gar mit der Neugierde auf anderes Denken als das Erlernte. Man erfährt zum Bespiel, das Compact-Magazin habe den pompösesten Stand auf der Messe gehabt. Das Pompöse jedoch erscheint hier wohl eher im Auge des Betrachters. Es gab Pompöseres, auch größere Stände (nehmen wir nur den Stand der Jungen Freiheit), aber die Feindbilder müssen stimmen. Viel Nachwuchs sah der Qualitätsjournalist aus München auf der Messe nicht (mir fielen dagegen gerade am Sonntag die vielen Familien mit Kindern auf. Die Hamburger Zeit wiederum stellte abweichend fest, »das Publikum geht durch alle Altersklassen hindurch«, der MDR registrierte gar irritiert, »auffällig viele Frauen« seien zu sehen gewesen, »mehr als bei herkömmlichen Szenetreffs oder Demonstrationen«.
Der öffentlich-rechtliche Sender kommt damit – sich dessen wohl kaum bewusst – näher an den Kern, warum diese Messe so etwas wie einen Gezeitenwechsel ankündigen könnte. Ob SZ, FAZ, Zeit oder Welt – sie berichteten, jede auf ihre Weise empört, jede mit eigenem Farbton des Entsetzens. In der FAZ diagnostizierte Julia Enke gar einen „organisierten Angriff auf den Rechtsstaat unter dem Vorwand der Kultur“, der ZEIT-Reporter begann seine Schilderung damit, wie er darüber nachdenkt, in welcher Tarnkleidung er auf feindliches Gebiet vorrückte, der Tagesspiegel malte Nietzsche, Nius und Neonazis in greller Alliteration. Die Welt, deren Reporter zu ahnen scheint, dass in Halle seismographische Verschiebungen spürbar waren, suchte das Gespräch – ohne es wirklich zu führen. Am Ende blieb es auch da bei der Schlagzeile im gedruckten Blatt: »Gauland, der Überraschungsgast«. Viermal dieselbe Szene, viermal derselbe Reflex.
Die Sprache dieser Berichte verrät mehr über die Sprecher als über den Gegenstand, über den zu berichten sie doch eigentlich angereist waren. Sie moralisiert in Grammatik und Adjektivwahl, formt Empörung zu Stil. Das Feuilleton schreibt nicht mehr über, sondern aus seiner eigenen Diskursblase heraus – jeder Satz zugleich Beschreibung und Abwehr. So verschiebt sich die Funktion des Journalismus: vom Beobachten zum Signalisieren. Sie alle schauen gebannt auf den Schaum auf den Wellen, ekeln sich, wenn Absterbendes sie grünlich oder bräunlich färbt – doch niemand achtet auf die Tiefenströmungen des Meeres, die diese Wellen tragen. Keiner fragt nach der Gravitation. Sie schreiben seit Jahren gegen die Flut an und ahnen, nichts ändern zu können. Sie blicken mit Ekel auf die Schaumkronen, holen die immerselben angegriffenen Versatzstücke über den Antaios-Verlag von Götz Kubitschek hervor – bisweilen liest sich das wie ein Copy and Paste aus Papieren des Inlandsgeheimdienstes. Für Julia Enke in der FAZ war Antaios beim Messebesuch »der erste Stand auf der rechten Seite« dieses eben »vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Verlags“. Nun ja, ein paar Meter mussten andere schon laufen, um zu diesem ersten Stand zu kommen. Gegenüber »drängen sich streng gescheitelte junge Männer mit frischen Undercut-Frisuren am Jungeuropa-Stand«. Das hat immerhin nicht den Eifer ihres Münchner Kollegen, der gnadenlos akkurate »Seitenscheitel in bester Hitlerjugend-Tradition« ausmachte. Wer schreibt da? Erleben wir im Feuilleton Romanautoren, die die Wirklichkeit nur noch als Vorlage für moralische Erzählung verwenden?
Wer liest, was dieses selbsternannte Hochfeuilleton über Halle geschrieben hat, lernt eines sehr deutlich: Solcher Journalismus funktioniert inzwischen wie ein Markt für moralische Renten. Empörung ist sein Rohstoff, Zustimmung seine Rendite. Wer am schnellsten moralisiert, sichert sich die höchsten Aufmerksamkeitsdividenden. Die Mechanik gleicht dem, was Ökonomen Rent-Seeking nennen: Wertschöpfung wird durch Wertabschöpfung ersetzt. Man produziert kein Denken mehr, sondern Deutungserträge. Moral wird zur Währung, sobald sie Aufmerksamkeit erzeugt; sie ist kein Kompass mehr, sondern Kurswert. Ökonomen meinen mit Rent-Seeking das Abschöpfen von Erträgen aus institutionellen Privilegien, nicht aus Arbeit. Überträgt man das auf die Sphäre des Moralischen, zeigt sich ein ähnliches Prinzip: Wer moralische Deutungshoheit besitzt, kassiert symbolische Rendite, ohne intellektuelles Risiko. Die öffentliche Empörung wird zur Lizenzgebühr für moralische Zugehörigkeit – ein Markt der Tugend, auf dem Distanz als Kapital zirkuliert.
Ein Satz aus der FAZ‑Berichterstattung über den Auftritt von Gloria von Thurn und Taxis bringt diese Haltung auf den Punkt: „Sie schrie in gedehnten Sätzen.“
Was auf den ersten Blick wie Beobachtung wirkt, ist in Wahrheit ein rhetorisches Siegel der Verachtung. „Schreien“ markiert das Irrationale, „gedehnt“ das Lächerliche – zusammen ergibt es eine kleine literarische Ohrfeige. Die Autorin hört nicht zu, sie kommentiert; sie ästhetisiert, was sie abweist. Das ist kein Berichten, sondern eine Form von moralischer Distinktionsarbeit: Man schreibt sich an die Seite der Vernunft, indem man den anderen in die Zone des Lärms verweist. So wird selbst die Syntax zum Marktinstrument: Sie verkauft Überlegenheit in Halbsätzen. In diesem Ökonomismus des Diskurses ist selbst der Tonfall Kapital.
Immerhin war das noch intelligent. In der Süddeutschen geht es dem nach eigenen Worten feuilletonistischen »Highperformer« vor allem um Klopapier. Wie einst in den Supermarktregalen bei Corona, vermisste der Berichterstatter der »bedeutendsten Zeitung der Welt« es nun auch auf den Messetoiletten. Das Ich des Autors wird zur eigentlichen Nachricht. Ein weiteres Beispiel dafür und für die Lernerfolge der Journalistenschule beim Recherchieren: Wer wie dieser Berichterstatter nur »einen einzigen Essens- und Getränkestand« entdeckt, ist offensichtlich vor Ekel vor dem Publikum zum zweiten nicht mehr vorgedrungen: Wir müssen ungefähr zur selben Zeit (in unterschiedlichen Schlangen) gewartet haben, denn auch ich hörte auf der Bühne die Fürstin Gloria – ich würde sagen, sprechen; der Qualitätsjournalist lässt sie »plärren«. Die Passage über die Warteschlange, die »sichtlichen« Schwierigkeiten von Rechten beim Schlangestehen (sichtbar waren solche Schwierigkeiten in meiner Schlange nicht, im Gegenteil, es gab lebhafte Gespräche mit bis dato unbekannten Mitwartenden) ist so lang, dass wir mehr über den Autor als über das Ereignis erfahren. Und warum hat er die Menschen hinter den Tresen nicht gefragt, warum die Ernährungs-Infrastruktur auf der Messe so schlecht war? Eine Frage (Basis journalistischer Recherche: fragen), eine Antwort – und er hätte statt über »logistisches Durcheinander“ bei den Rechten sogar eine antifaschistische Heldengeschichte schreiben können. »Personalmangel« (ist zugegebenermaßen in der Serviceindustrie ein grundlegendes Problem), entstand hier wohl, weil manche Mitarbeiter (in diesem Fall auch gegendert irgendwie korrekt, denn da sie nicht erschienen sind, waren diese Mitarbeiter keine Mitarbeitenden mehr) auf dieser »rechten« Messe nicht bedienen wollten. Was wäre das für eine Schlagzeile gewesen: Kein Bier und keine Bockwurst für Rechte (Klischee 1: rechts = Bier und Bockwurst) wegen des »Widerstands« aufrecht antifaschistischer Würstchenverkäufer (Klischee 2: »Wir« sind mehr)?
Es lohnt nicht, hier alle Fehler und Falschmeldungen aufzulisten. Jeder, der die Berichterstattung der letzten Jahre verfolgt, kann sich der Schlusspassage des Berichts anschließen: Da »ist echt noch Luft nach oben«. Das eigentliche Problem liegt aber nicht im mangelhaften journalistischen Handwerk, sondern in der moralischen Ökonomie, die es belohnt. Diese Journalisten sehen die Messe und wollen sie einordnen – in Kategorien wie „Rechtsstaat“, „Meinungsfreiheit“, „Gefahr“. Aber keiner von ihnen erkennt, dass dieses Ereignis selbst eine Reaktion auf den Stillstand des öffentlichen Gesprächs ist. Halle war nicht die Ursache, sondern das Symptom einer Gesellschaft, die keine Konflikte mehr austrägt, sondern sie wegmoderiert. Sie beschwören die Meinungsfreiheit, aber dulden nur Gleichgesinnte und verwechseln Kommunikation mit Gesinnung. Das ist durchaus kein Privileg der Großstadt-Feuilletonisten, auch mancher, der sich in Halle feierte und feiern ließ, spiegelt dieses Denken.
Wer sich umsah, wer zuhörte, wer seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die bekannten vom Verfassungsschutz Markierten beschränkte und die Sprachregelungen der Obrigkeit über sie unkritisch übernahm, erlebte eine andere Messe. Es war eine Besuchermesse, die Stimmung (auch in den Schlangen vor den Essständen) war an beiden Tagen entspannt, herzlich. Vor allem aber wurde viel und auch strittig diskutiert. Bei uns, bei TUMULT zum Beispiel, bei den Gesprächen am Stand. Vielfalt wurde in Halle praktiziert in einem Maß, das es auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig mit ihrem Bekenntniszwang schon lange nicht mehr gibt. Wenn Michael Meyen und Frank Böckelmann darüber sprachen, inwieweit gedruckte Magazine bei Internet, YouTube, TikTok oder Podcasts noch eine Zukunft haben, wenn Meyen den Trend zum Podcast betonte, der sich verstärke, und junge Zuhörer über ihre eigenen Erfahrungen berichten, dann zeigte sich hier, dass Öffentlichkeit immer dort entsteht, wo Menschen ohne Angst vor Zuschreibung sprechen. Die erste Messe in Halle mag manchen an die Anfänge in Leipzig nach der Wende erinnert haben.
Es gab Fragen: Wie weit kann eine alternde Gesellschaft bildungsferne Menschen in ihren Sozialstaat aufnehmen? Wie können sich die europäischen Völker im Konflikt mit Russland auf gemeinsame Stärken besinnen (im Gegensatz zur Berichterstattung mit dem Klischee, in Halle versammelten sich die Putin-Freunde, war das ein großes Thema). Als einziger der bekannten Journalisten der großen Medien hat Marc Reichwein in der Welt das erkannt: »Man merkt den Menschen an, dass sie mündig Missstände benennen wollen und es leid sind, darin gemaßregelt oder postwendend als rassistisch oder rechtsextrem gebrandmarkt zu werden.« Es hat einen Grund, warum in keinem der Berichte einer der bewegendsten Momente der Messe (ich glaube, es war während des Auftritts des Kabarettisten Uwe Steimle) mit keinem Wort erwähnt wurde: als hunderte Messebesucher das Lied »Die Gedanken sind frei« anstimmten. Die eingefahrenen Reaktionsmuster der kulturell herrschenden Milieus zeigen, dass der Widerspruch zwischen öffentlicher Moral und privater Realität – zwischen Wohlstandsrhetorik und sozialer Erosion, zwischen Klimapolitik und Deindustrialisierung, zwischen Bildungspathos und funktionalem Analphabetismus – nicht begriffen, sondern verdrängt wird. Diese diskursive Leerstelle gefüllt zu haben, die die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig geschaffen haben, erklärt den Erfolg dieser ersten Buchmesse in Halle. Wer sehen wollte, konnte sehen, dass es auf der Rechten mehr Vielfalt gibt, mehr Fragen als gestanzte Antworten als bei denen, die diese Leerstelle in ihren ach so lauten Bekenntnissen zu Vielfalt nicht einmal erkennen.
Vielleicht ist das das eigentliche Drama: dass ein Land, das seine politische Kultur einst aus Dialektik, Streit und Diskurs gebaut hat, heute den Widerspruch wie eine Infektion behandelt. Das deutsche Feuilleton, einst ein Ort des argumentativen Spiels, ist zu einer moralischen Reinigungsanstalt geworden. Man berichtet nicht mehr, um zu verstehen, sondern um zu entlasten. Unterdessen verschieben sich die Gravitationskräfte: die Entkopplung zwischen Diskurs und Lebenswelt, die wachsende soziale Kluft, der Verlust des Bildungsniveaus, die politische Entleerung. Die Flut kommt, sie umspült bereits die Brandmauern um die Sandburgen der herrschenden Milieus – und doch klebt deren Blick voller Angst vor Bedeutungsverlust nur an der Oberfläche der Schaumkronen. Der Schaum, sagen die Meereskundigen, entsteht und färbt sich, wenn das Meer die Reste des Lebens aufwühlt. Was an der Oberfläche tanzt, ist das Erbrochene der Tiefe. Auch ihr Diskurs bewegt sich aus Zersetztem. Sie sprechen von sich als Kämpfer der Aufklärung, aber handeln wie Broker. Solange Empörung höhere Renditen bringt als Einsicht, bleibt das Vorrücken des Meeres unbemerkt – und der Schaum glänzt. Solange Empörung besser verzinst wird als Verstehen, bleibt der Markt stabil. Das Feuilleton, einst Börse des Geistes, handelt heute mit Derivaten der Empörung – hochliquide, aber geistig leer.
Über den Autor: Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung.
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