Thomas Hartung: DIE TYRANNEI DER REAKTION
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Annekathrin Kohouts Buch „Hyperreaktiv“ entlarvt, wie Empörungskultur und Hyperinterpretation durch Reiz-Reaktions-Reflexe Wahrheit und Freiheit verdrängen.
Die Leipziger Kulturwissenschaftlerin beleuchtet ein Phänomen, das unsere Zeit prägt: die Hyperreaktivität – ein Nebeneffekt der Reaktionskultur, die den öffentlichen Diskurs zunehmend vergiftet. Sie offenbart nicht nur den Verfall reflektierter Kommunikation, sondern auch die Bedrohung traditioneller Werte wie Wahrheit, Besonnenheit und individuelle Freiheit durch eine Kultur der impulsiven Selbstinszenierung und kollektiven Empörung.
Kohout beschreibt den „hyperreaktiven Menschen“ als eine soziale Figur, die ständig auf dem Sprung ist, zu reagieren, zu kommentieren und sich zu positionieren: „Nachrichten konsumiert er nicht mehr primär, um sich zu informieren, sondern um sie zu kommentieren“. Das entspricht auf einer anderen Ebene Andreas Reckwitz’ These vom „Kuratierten Leben“ (in: Die Gesellschaft der Singularitäten).
Dieser Mensch ist kein Hüter der Wahrheit, sondern ein Akteur in einem digitalen Schauspiel, in dem Sichtbarkeit, sprich Quantität, über Qualität triumphiert: Resonanz schlägt Substanz. Digitale Plattformen wie TikTok, Instagram oder X verstärken diese Dynamik, da ihre Algorithmen Inhalte fördern, die Emotionen entfachen – sei es Empörung, Zustimmung oder Abscheu. „Die Algorithmen begünstigen dadurch alles, was unmittelbar eingängig oder abstoßend ist“, so Kohout. Je mehr Menschen einer Deutung folgen, desto plausibler erscheint sie, eine Art sozialer Beweis.

Es kommt zum „Zerfall der gestaltenden Kraft des Abstrakten“, hat der Historiker Dan Diner schon 2020 festgestellt. Regeln, Gesetze, Vermittlungen werden nur noch als hinderlich wahrgenommen. „Das Konkrete schiebt sich gebieterisch in den Vordergrund. Das Ich erklärt sich zur Instanz, die weder hinterfragbar noch begründungspflichtig ist. Jede Wut auf Zwänge und Ungerechtigkeiten kann sich ungehindert Bahn brechen“, moniert Thomas Schmid in der Welt. Dank der kollektivierenden Anonymität der neuen Medien vermögen, argumentiert Diner, „ansonsten im Verborgenen wirkende Gefühle, Ressentiments und Hass unbehelligt an die politische Oberfläche zu gelangen, was ihnen in der analogen Welt durch die Barrieren von Tugend und Anstand verwehrt wäre“. Die Worte von Richtern, Politikern, Philosophen zählen nicht mehr.
Diese Entwicklung ist ein Angriff auf die Vernunft. Die digitale Reaktionskultur ersetzt die besonnene Auseinandersetzung mit komplexen Themen durch einen Wettbewerb der lautesten Stimmen. Traditionelle Tugenden wie Geduld, Tiefgang und das Streben nach objektiver Wahrheit werden durch die Gier nach Aufmerksamkeit und die Sucht nach sofortiger Bestätigung verdrängt. Der hyperreaktive Mensch ist kein Denker, sondern ein Getriebener – ein Sklave der Algorithmen, die ihn in einen Kreislauf aus Reiz und Reaktion zwingen.
Die Entwertung der Realität
Hyperinterpretation ist die pathologische Steigerung dieser Reaktionskultur. Sie äußert sich in der Besessenheit, jedem Detail eine tiefere Bedeutung zuzuschreiben, oft ohne Rücksicht auf Fakten oder Kontext. Kohout verweist auf Susan Sontags Essay „Against Interpretation” (1966), in dem diese die „Armeen von Interpreten“ kritisierte, die Kunstwerke mit Deutungen überfrachten. Heute, in der digitalen Ära, wird jede Nachricht, jedes Bild, jede Geste zum Objekt einer fiebrigen Suche nach verborgenen Botschaften.
Tobias Becker verweis im Spiegel auf einen AfD-Flyer, auf dem ein Schatten auf Alice Weidels Oberlippe vom CDU-Bundestagsabgeordneten Tilman Kuban und auch von etlichen Journalisten im Februar als Hitler-Bärtchen interpretiert wurde, oder die Armbewegung von Elon Musk, die umgehend als Hitler-Gruß gedeutet wurde. Solche Interpretationen sind nicht nur übertrieben, sondern gefährlich: Sie ersetzen die Realität durch eine „Schattenwelt der Bedeutungen“. Diese Hyperinterpretation ist ein Symptom des kulturellen Relativismus, der Wahrheit und Objektivität zugunsten subjektiver Narrative opfert.
Die Besessenheit, in jedem Detail eine politische Botschaft oder eine Verschwörung zu sehen, führt zu einer Kultur des Misstrauens, in der nichts mehr für sich selbst stehen darf, beklagt Kohout. Diese Entwicklung bedroht nicht nur die Fähigkeit zur rationalen Analyse, sondern auch die Grundlage einer stabilen Gesellschaft: den Glauben an eine gemeinsame Wirklichkeit. Wenn alles nur noch als Symbol oder Signal gelesen wird, verliert die Wahrheit ihre Autorität – ein Zustand, der den Boden für Ideologien und Manipulationen bereitet. Es ist, als ob es 1000 Reaktionen gäbe und hinter 1000 Reaktionen keine Realität.
Das Baby als Meme
Das jüngste Beispiel liefert die grüne Bundestagsabgeordnete Hanna Steinmüller. Sie trat ans Rednerpult mit ihrem schlafenden Kind vor der Brust – eigentlich, um über den Etat des Bauministeriums zu sprechen: Wohnungsnot, studentischer Wohnraum, Wohngemeinnützigkeit. Doch diese Inhalte verschwanden restlos hinter einem einzigen Bild. Alle Medien übernahmen es, alle Netzwerke reproduzierten es, und alle Zuschauer reagierten. Worauf? Nicht auf Argumente, nicht auf Zahlen, nicht auf Politik – sondern auf die pure Emotionalisierung der Szene: eine junge Frau mit Baby.
Was Kohout als Hyperreaktivität beschreibt, fand hier seine perfekte Verkörperung: ein Bild, das sofort zu Kommentaren, Likes, Entrüstung oder Rührung zwingt. Die Reiz-Reaktions-Maschine läuft an, noch ehe ein einziger Gedanke geformt ist. Aus der Rede wird eine Ikone, aus dem Zufall ein Symbol. Und Steinmüller selbst tat, was in dieser Logik zwingend erscheint: Sie deutete die Episode umgehend politisch um – als Fanal für Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Damit wurde das Bild endgültig zur Währung, das Kind zur rhetorischen Münze.
Doch eine Frau mit Baby am Mikrofon ist eben nur eine Frau mit Baby am Mikrofon – kein Argument für Wohnungsbau, kein Beweis für bessere Familienpolitik, kein Programm. Was bleibt, ist die Infantilisierung des Politischen: Statt Parlament als Ort des Sprechens erleben wir Parlament als Bühne der Memes: „Der politische Raum degeneriert zu einer Sphäre bildhafter Politbotschaften, die der Logik von Internet-Memes gehorcht, nicht aber der des Parlamentarismus“, moniert Alexander Grau im Cicero.
Doch solche Memes haben keinerlei diskursiven Wert – sie emotionalisieren lediglich: „Das Ergebnis sind Wut und Aggression oder Verehrung und Gefolgschaft – also genau jene Affekte, die einer funktionierenden Demokratie im Wege stehen“, meint Grau. Der Mutterschoß ersetzt das Manuskript, der Affekt das Argument. Genau diese Simulation von Politik, die Kohout als kulturelle Krankheit diagnostiziert, markiert den Punkt, an dem die Demokratie in die Pose kippt und das Politische zur Kulisse wird. „Die Revolution stillt ihre Kinder", lästerte sogar Samira El Quassil im Spiegel.
Polarisierung und Meinungspflicht
Die Reaktionskultur fördert eine Polarisierung, die Kohout treffend beschreibt: „Positionen werden nur noch selten eigenständig formuliert, sondern meist in Abgrenzung zu anderen.“ In einer Welt, in der jeder auf jeden reagiert, wird Kritik zur performativen Geste, nicht zur Suche nach Erkenntnis. Besonders alarmierend ist die Entwicklung, dass selbst Schweigen als Reaktion gewertet wird. Der Fall des Dirigenten Lahav Shani, der vom Flanders Festival Gent ausgeladen wurde, weil er sich nicht klar genug zum Gaza-Konflikt äußerte, zeigt, wie Meinungsfreiheit zunehmend durch eine Meinungspflicht ersetzt wird.
Das ist ein Angriff auf die individuelle Freiheit. Die Forderung, ständig Stellung zu beziehen, selbst zu Themen, die außerhalb des eigenen Kompetenzbereichs liegen, erstickt den Raum für unabhängiges Denken. Sie zwingt Individuen in ein Korsett vorgefertigter Narrative, in dem jede Abweichung als Verrat gilt. Diese Kultur der erzwungenen Reaktion ist daneben auch ein Angriff auf die Würde des Individuums, das seine Überzeugungen in Ruhe und ohne Druck entwickeln können sollte.
Kohout betont, dass Hyperinterpretation nicht das Verstehen fördert, sondern die Entlarvung. „Der Hyperinterpretation gehe es gar nicht mehr ums Verstehen, das letztlich eine Offenheit für den anderen voraussetzt, ein Wohlwollen auch“, erkennt Becker. Stattdessen wird jede Aussage, jede Geste auf versteckte Motive hin durchleuchtet, oft mit der Arroganz, die „wahre“ Bedeutung bereits zu kennen. Diese Haltung ist nicht nur intellektuell faul, sondern auch moralisch fragwürdig, da sie den anderen nicht als Gesprächspartner, sondern als Gegner betrachtet; Carl Schmitt lässt grüßen.
Das ist ein Ausdruck der Dekadenz moderner Diskurse. Anstatt nach Wahrheit zu streben, suchen Hyperinterpreten nach Macht – der Macht, die Narrative zu kontrollieren und andere zu diskreditieren. Diese „Deutungsmacht“ ist jedoch eine Illusion, denn sie führt nicht zu einem tieferen Verständnis, sondern zu einem endlosen Kreislauf aus Reaktionen und Gegenreaktionen. Die Folge ist eine Gesellschaft, die in Misstrauen und Zynismus versinkt, unfähig, echte Probleme zu lösen oder gemeinsame Werte zu verteidigen.
Wider die Tyrannei der Empörung
Kohout bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma: die bewusste Verweigerung der Reaktion. Sie beruft sich auf Viktor Frankls Gedanke, dass die wahre Freiheit im Raum zwischen Reiz und Reaktion liegt. „Der größtmögliche Freiheitsgewinn heute könnte darin liegen, einfach mal komplett auf eine Reaktion zu verzichten“, resümiert Tobias Becker im Spiegel. Dieser Ansatz ist nicht nur pragmatisch, sondern auch ein Akt der Verteidigung traditioneller Werte wie Besonnenheit, Selbstbeherrschung und Respekt vor der Wahrheit.
In einer Welt, die von Hyperreaktivität und Hyperinterpretation geprägt ist, wird die Fähigkeit, innezuhalten und zu reflektieren, zu einem revolutionären Akt. Es ist ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Stille, des bewussten Zuhörens und der Offenheit für den anderen – Tugenden, die in einer konservativen Weltsicht tief verwurzelt sind. Nur so kann der Diskurs aus dem Sumpf der Empörung und Polarisierung herausgeführt werden, hin zu einer Kultur, die Wahrheit und Vernunft wieder in den Mittelpunkt stellt.
Annekathrin Kohouts „Hyperreaktiv“ legt den Finger in die Wunde einer Kultur, die von Hyperreaktivität und Hyperinterpretation durchdrungen ist. Ein Alarmzeichen, wird dadurch nicht nur die Wahrheit bedroht, sondern auch die individuelle Freiheit und die Fähigkeit zur rationalen Auseinandersetzung. Die Fixierung auf performative Reaktionen und übertriebene Interpretationen zerstört den Raum für echte Reflexion und gemeinsame Werte. Der Ausweg liegt in der Rückbesinnung auf Besonnenheit, Selbstbeherrschung und die bewusste Verweigerung der Reaktion – ein konservativer Akt der Rebellion wider die Tyrannei der Empörung.
Annekathrin Kohout: Hyperreaktiv. Wie in Sozialen Medien um Deutungsmacht gekämpft wird. Verlag Klaus Wagenbach: Berlin 2025, 160 Seiten, 18 €
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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