Daniel Zöllner: DIE EWIGE VERSUCHUNG. THOMAS MOLNARS KRITIK DES UTOPISMUS
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Nach dem Fall der Berliner Mauer stellte der konservative Historiker Joachim Fest in dem Buch Der zerstörte Traum: Vom Ende des utopischen Zeitalters (1991) die These auf, dass das utopische Denken ein zeitlich begrenztes Phänomen sei. Es habe seit der Französischen Revolution immer neue Ausprägungen erlebt, sei aber heute einer Desillusionierung gewichen. Angesichts der Entwicklung, die seitdem eingetreten ist und die eine erneute Auferstehung utopischen Denkens zeigte, muss aber die These Fests heute in Frage gestellt werden. Ist der gegenwärtige „Wokismus“ nicht geradezu eine Extremform des Utopismus? Thomas Molnar, amerikanischer Philosoph ungarischer Herkunft, behauptete schon 1967 in seinem Buch Utopia: The Perennial Heresy, dass der Utopismus eine ständige Versuchung des menschlichen Geistes darstelle und dass ein vollständiges Ende des Utopismus ebenso utopisch sei wie die Errichtung einer perfekten Gesellschaft.

Joachim Fest unterschied in seinem erwähnten Buch frühneuzeitliche Formen des utopischen Denkens wie das Gedankenexperiment des Thomas Morus (Utopia, 1516) von späteren Ausprägungen: Morus habe vor allem die Kritik gegenwärtiger Zustände im Sinn gehabt und nicht die vollständige Verwirklichung seines utopischen Programms. Das habe sich spätestens mit der Französischen Revolution geändert. Das utopische Denken der Vorläufer und Nachzügler der Revolution ziele tatsächlich auf die Programmatik und Konstruktion einer vollkommenen Gesellschaft im Hier und Jetzt. Dabei wird stets mit großer Brutalität gegen die Gegner des vermeintlichen Fortschritts vorgegangen. Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts intensivierten derartige Anstrengungen – mit katastrophalen Folgen.
Anders als Fest betont Molnar die Kontinuität utopischen Denkens, die er von den Gnostikern aus den Jahrhunderten nach der Zeitenwende über die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts bis zum Evolutionismus eines Pierre Teilhard de Chardin und verschiedenen Ansätzen aus den 1960er Jahren verfolgt. Molnar schreibt: „The temptation to which utopians succumb is as permanent as our imperfect condition rooted in original sin. One might even say that utopianism is the original temptation. Like every temptation, utopianism must be fought, but to believe that it will be overcome forever is of the very folly of utopianism itself.“ (237) An anderer Stelle heißt es: „Recurrent though it is, expressions of utopianism have enjoyed an almost indefinite variety on the theme, although the variations follow an invariable pattern.“ (235)
Mit seiner kritischen Hervorhebung gnostischen Denkens befindet sich Molnar in Nachbarschaft zu Eric Voegelins These, der zufolge die modernen „politischen Religionen“ durch eine verhängnisvolle Wiederkehr gnostischer Denkmuster geprägt seien. Wie gesagt, finden sich nach Molnar bereits bei den Gnostikern die wichtigsten Elemente utopischen Denkens: Die materielle Schöpfung wird als durch und durch verdorben angesehen. Kirchliche oder staatliche Institutionen gelten als Hindernis, wenn man das Ziel verfolgt, dieser verdorbenen Schöpfung durch Erkenntnis zu entfliehen. Eine kleine Gruppe „Erweckter“, „Erwachter“, „Reiner“ oder „Auserwählter“ führt die Willigen zur Erkenntnis und zur Flucht aus der verdorbenen Schöpfung, hin zu einem rein geistigen und vervollkommneten Sein. Das Ziel ist die Vergöttlichung des Menschen.
Wie die Gnostiker nimmt alles utopische Denken seinen Ausgang von der Unvollkommenheit der Welt und der menschlichen Gesellschaften: „The one intolerable fact to the utopian is the scandal that evil exists in an otherwise perfect or potentially perfect world.“ (5) Alle Varianten des Utopismus legen größten Wert auf Vollkommenheit und möglichst große Reinheit (vgl. 22f.) – ähnlich wie zahlreiche häretische Bewegungen die Kirche, anders als Augustinus, nicht als corpus permixtum aus Sündern und Heiligen gelten lassen möchten, sondern eine bereinigte Kirche, eine Kirche auserwählter Heiliger, errichten und die Sünder aus ihr ausstoßen wollen. Dies ist nicht die einzige Parallele zwischen Häresie und Utopismus; Molnar stellt sogar die These auf, dass „utopia is to the political realm what heresy is to the theological.“ (4) Hierbei lassen sich im Prinzip auch keine scharfen Trennlinien zwischen religiösen und säkularen Utopien ziehen; beide weisen nach Molnar dieselben Grundmuster und Grundgedanken auf (vgl. 161f.).
Den Häresien ebenso wie den verschiedenen Formen des Utopismus ist eine Ablehnung jeglicher Institutionen eigen, ob diese nun staatlich oder kirchlich sind: „Heretical utopians reject Church institutions, then the institutionalized Church and, finally, the Church itself; utopians, in general, reject the State; both reject the need of organizing certain aspects of social existence.“ (168) Die Gesellschaft der „Erwählten“ hat, dem utopischen Denken zufolge, keinerlei institutionalisierte „Dressur“ mehr nötig, vielmehr hat sie die Gebote und den Vorrang des Gemeinwohls internalisiert.
Ähnlich wie der gnostische Häretiker auf eine Vergöttlichung des Menschen hinarbeitet, leugnet der Utopist nach Molnar den Unterschied zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf: „Since he must deny the existence of God as being radically different from the world, the utopian discovers that his only recourse is to immanentize God and conceive of Him as radically identical with this world“ (111). Immer wieder weist Molnar darauf hin, dass verschiedene Formen des Pantheismus zu den metaphysisch-theologischen Grundlagen des Utopismus gehören (vgl. v. a. das zweite Kapitel von Molnars Utopia unter dem Titel „Secularized Religion: Pantheism“). Zum wahren Gott wird der Mensch – oder vielmehr die Menschheit als Gattung – erklärt. Diese Denkmuster hatten über Ludwig Feuerbach eine große Auswirkung auf den Marxismus.
Wie Molnar zeigt, leugnet der Utopist zudem eine von Gott erschaffene und somit vorgegebene menschliche Natur, die den utopischen Manipulationen und Experimenten eine Grenze setzen würde: „The utopian does not believe in a permanent human nature; if he did, he could not hope to accomplish a complete break in the long line of generations; too, he would know that each generation might go through a similar and ever-repeating evolution from childhood with its fantasies to old age with its resignation, creating in the midstream of life something new which, nevertheless, resembles things old.“ (148)
Wie die Häresien strebt der Utopismus eine Emanzipation des Menschen aus vorgegebenen institutionellen und selbst biologischen Notwendigkeiten an. Jede Form der Heteronomie soll der Autonomie weichen, der Mensch soll sein eigener Herr, ja letztlich sogar sein eigener Schöpfer werden (vgl. 21). Es handelt sich um die Versuchung der Schlange aus dem Paradies, die Versuchung, selbst zu sein wie Gott, statt ihn als Schöpfer anzuerkennen und nach seinen Vorgaben und Geboten zu leben. Der Mensch unternimmt immer neue Versuche, zu werden wie Gott und den Turm von Babel zu errichten, und die Geschichte utopischen Denkens ist im Grunde die Geschichte dieser Versuche (vgl. 237).
Heute lassen sich besonders zwei hervorstechende Formen des Utopismus erkennen: den bereits erwähnten „Wokismus“ sowie den Transhumanismus. Wie alle Formen utopischen Denkens müssen auch diese bekämpft werden, indem man die darin enthaltenen Widersprüche und Gefahren aufdeckt und mögliche Auswege aufzeigt. Die Geschichte wird weitergehen und mit ihr der unausweichliche Kampf gegen die Versuchungen des Utopismus. Sowohl der „Wokismus“ als auch der Transhumanismus arbeiten auf eine Vergöttlichung des Menschen hin, der als sein eigener Herr und Schöpfer aus gesellschaftlichen und naturgegebenen Zwängen befreit werden soll – sei es durch gesellschaftliche oder durch technische Revolutionen. Dabei wird jede normative Begrenzung der Manipulation durch eine vorgegebene menschliche Natur abgelehnt. Was möglich ist, soll auch durchgeführt werden. Dass die Grenzen zwischen Utopie und Dystopie fließend sind, wird dabei meist nicht erkannt.
Auch wenn Molnar es nicht direkt formuliert, kann man ex negativo aus seiner Kritik utopischen Denkens ein Heilmittel erschließen. Dieses Heilmittel wäre der Abschied von der Auflehnung gegen Gott, die Rückkehr zu einem Leben nach der von Gott vorgegebenen Ordnung sowie die Unterordnung unter Gott und die von ihm geschaffenen Gesetze und Gebote.
Alle Seitenangaben beziehen sich auf: Thomas Molnar: Utopia: The Perennial Heresy. New York: Sheed and Ward 1967.
Über den Autor: Daniel Zöllner, Dr. phil., ist freier Autor und Lektor (daniel-zoellner.de). Studium der Philosophie und der Neueren deutschen Literatur in Tübingen und an der University of Essex (Colchester). 2025 Promotion in Innsbruck mit einer philosophischen Untersuchung unter dem Titel „Globalisierung und Phänomenologie der Welt. Husserl – Heidegger – Rombach“. Betreut den Logbuch-Blog des Lepanto-Verlags. Ende 2024 erschien bei Lepanto Mut zur Tugend. Essays zur Lebenskunst in der Gegenwart. Weitere Publikationen u. a. in verschiedenen Sammelbänden und in der Tagespost.
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