Die Wölfe sind wieder da! Aus dem Dickicht zwei nachtschwarze Augen schauend, das wäre ein feiner Grusel, den der Urbane nur noch aus Alpträumen kennt. Berichten sei auch ein Dichten. Verdichtet sich nicht auch der Topos der in die Wälder, die letzten Räume scheinbarer Wildheit, einfallenden Urhunde zur gleichen Zeit, wie wir Horden Unsriger nicht aufhalten können oder auch nur wollen, nicht wirklich berühren wollen und doch mehr als uns selbst bejahen, ohne zu wissen, wen oder was wir da bejahen? Brauchen wir ihn nicht auch, den Wolf, um uns zeigen zu lassen, dass wir nicht alles im Griff haben oder, dass wir manches lieber wieder selbst und in Eigenverantwortung in Angriff nehmen sollten? Bedroht von dem Untier, das wir nur noch aus falsch verstandenen, verhöhnten, aber doch so alt-klugen Märchen kennen, sehen wir vielleicht, dass wir gar nicht mehr sehen, vor allem nicht, was wirklich das Böse ist, das uns bedroht. Hinter den schlafenden Lidern ein Flattern und Rascheln von Papierfliegern, alte Ahnungen, auf die kein Zugriff mehr besteht. Tief schliefen die Bestien selbst nicht, während ihre Jäger das Jagen verlernten.
Das Eingelulltsein in Sorglosigkeit und Sicherheit verhindert alle Erhebung. Da kann uns das zottige, zähnebleckende Geschöpf wachrütteln, genau wie der Einmarsch fremder Völker und Religionen. Wenn nicht einmal mehr der Mensch des Menschen Wolf zu sein scheint, wird der Einzelne sich selbst zum Wolf und frisst zuerst seine Eingeweide. Noxas omnes nostras pelle. Ein Gebet aus einem frommen und nicht erfüllbaren Wunsch heraus kann uns die Kraft geben, uns noch einmal aufzubäumen, ohne jedoch ein irdisches Ziel zu wissen oder Erfolg auch nur zu vermuten. Es gibt die zynischen Stimmen, die schon viele Gefallene bezirzten und hauchten: Flieg weg, denn die Brunnen haben kein Seil mehr und ihr Wasser ist rot! Aber wenn ich nur einen Brunnen kenne und dummselig vertraue, dass das Rot nur Wein verheißt und meine kurzfingrigen Hände zum Schöpfen ausreichen, weil mein Wille und meine Vorstellung es mir eingeben oder war es nicht vielmehr SEINE majestätische Subjektivität, die sie Objektivität nennen? Weinen kann unsere Seele keltern, doch ihre Sinne sind aus Hartholz, das nicht erst über Jahrmillionen versteinert wurde. Wusstest Du, dass das nur Wochen dauern kann, denn alles ist doch letztlich Steinstaub? Was über Jahrhunderte aufgebaut wurde, kann in einem Wimpernschlag in Flammen aufgehen oder zu Bröseln detonieren. Schreckt Dich etwa diese Asche? Du bist sie selbst. Form Dich doch wieder aus ihren mit Augenflüssigkeit angereicherten Klumpen! Ach, Du vermagst es nicht? Wusstest Du, dass niemand jemals selbst zeugt, weil das, was sie die Wissen-von-der-Natur-Schaffende nennen – und wer hätte je Wissen GESCHAFFEN, das nicht schon ist? – es nicht für möglich erklären kann wie aus dem Eirund und dem beschwänzten Mitochondrien-Köpfchen ein beseeltes Leben wird? Denn ER, ER allein schafft Seelen, ER ist der Eckstein und Grundpfeiler, der Mörtel der Zwischenräume und das fließende Element; ER ist es und Du wirst IHN nie erkennen. Sehend liebt der Bräutigam die blinde Braut. Du darfst tasten und erschauernd befühlen, aber niemals wirst Du ergreifen.
Noch umweht die Wachenden der Nacht der Schatten eines großen Geists. Es gibt eine Verantwortung der Wenigen, der bewusst Unwissenden, Fühlenden, Fragenden, die sich nur im Anhauch unterscheiden von ihren Brüdern und Schwestern dem Fleische nach. Aber man muss wissen, wann die Zeit reif ist, um gehört zu werden. Die Geistigen sind feinsinnige, zarte Flammen, deren Docht nur so leicht gekrümmt und deren Wachs nur mit einem Daumen zerdrückt werden braucht. Wie oft wurde die Kunst niederargumentiert, politisiert, psychologisiert. Es braucht jemanden, der ihr Licht sieht und wünscht und glimmen lässt. Und der Ruf schallt sich schon von Gipfel zu Gipfel entgegen. Das Leuchtfeuer von Amon Dîn ist entzündet; die Wächter sind erwacht. Doch noch ruft Brangäne „Habt Acht!”. Denn einfach nur zuhören oder hinsehen, wer tut das noch, dem das Urteilen und Schubladisieren von der Wiege an eingepfropft ward? Divide et impera! – dabei ist Herrschaft doch offiziell in Verruf geraten. Bloß wer herrscht dann? Es herrscht das, was wir lieben. Was wir anziehen, findet uns, denn es folgt nicht den Worten, es ist schon in uns selbst. Und auch warnt sie vor dem übereifrigen und nur Selbst-Genuss, denn wir sind ja auch für die Anderen, weil sie ein Teil von uns sind. Aber schau wie ihr Rufen des Lebens Fülle uns verheißt und die Stürme von den Stufen einst uns entgegen reißt.
Und ich weiß, es kann eine von außen würgende, stimmumschließende Faust sein, die einem die Kehle zuschnürt und selbst noch den unwillkürlichen Angstschrei erstickt. Ich fühlte es. Es kann auch der Gehirnnebel der Selbstvergessenheit durch inwendige Überladung mit Organfremdem sein, durch betäubende Gase der Vergiftung, die uns sedieren. Und auch daraus und daraus können wir Befreiungskünstler sein. Wer aber im Pathos des Pathologischen gefangen ist, kann die Finger nicht bewegen, die es braucht für das Kritzeln der Atemzüge. Odem aus dem Fleisch der Letzten rinnt bis zum Versiegen. Lefzen geifern schon und die Geier ziehen ihre Kreise. Als Haus erstanden aus Geträum, brach herein und gab sich Raum das Schöne, rein und plötzlich. Das Leben muss zuerst in Ordnung kommen und sein Ordnungsprinzip ist die Schönheit, auch die schmutzige und getretene, aber vor allem die aus Erde geschaffene, aus Reinheit und Passion. Nicht puristisch, nicht entgleist, in ewiger Mitte geradlinig mäandernd wandelnd.
Wozu ermuntert die Aussicht, von Blinden gelesen zu werden? Die Sprache zu lesen, haben sie verlernt, alle, die nicht den Analphabetismus als Ausrede haben. Wozu lernt man lesen, wenn es nicht gilt, Latein zu lesen, um zu verstehen und dann wieder zu vergessen? Das Unbewusste muss durch das Bewusste hindurchtauchen; die Unschuld, muss sich in der Schuld finden. Ich will kein säkularisiertes Europa, es steht ihm einfach nicht, es war nie seine Identität. Europa raubt sich nun selbst und nicht einmal den Stier hätte sie besteigen müssen, die zutrauliche Bezwingerin. Sie weiß nicht einmal mehr, dass sie eines Königs und zwar des Königs der Könige – rex aeterne! – Tochter ist. „Convertere ad dominum deum tuum!”, lamentiert Jeremias. Wenn doch Imperative etwas nützten. Aber wissen sie noch, wo Jerusalem liegt, wenn ich es ihnen verrate? Schluss mit dem vorsichtigen und zaghaften, Sich-nicht-aufdrängen-Wollen des Glaubens. Wer zaudert und zögert, verbirgt, beschönigt, umschreibt, scheint sich selbst nicht zu glauben und warum sollte das glaubwürdig für andere sein, was er – womöglich selbst nicht richtig – glaubt? Ich bete für Deine Tugend in der Zeit des Wartens, das kein passives Warten ist, denn tief schlafen sie noch. Stumm und laut häufen sich die faulen Früchte derer, die die Aussaat und die Ernte nicht mehr nötig zu haben meinen. Was findet Ihr denn so reizend und anziehend an der Hässlichkeit, in deren bequemen Nagelbett Ihr Euch zerfetzen lasst, alles um Euch herum künstlich, doch die Kunst bleibt aus? Welchen Wert haben all die Dinge, die Ihr hinter euch herzieht, wohin auch immer ihr geht, wenn ihr überhaupt noch geht und nicht nur rollt, rollt und rollt, zumeist in rauchenden Blechkästen, deren plastikbunter Gestank Euch den Atem ersetzt? Seid Ihr denn behütet in eurem quietschenden Fahrwasser, die Last der Laster auf euch lastend? Niemand mehr kommt an euch ran, gelähmt, zu Boden gedrückt, aber sicher umschlossen, denn flöget ihr fort, ihr könntet ja Federn lassen. Die Seinen aber wallen in Gewändern der Unangreifbarkeit. Ihr Angriff ist die andere Wange.
Herzverloren in Seelenzergliederung, die den Geist nur beschäftigt, dösen die Kinder der bürokratischen Bluthunde unter dem Tuch der versicherten immer-begrenzten Lebenszeit. Resurrexit in rex! Holen wir den Lupus zurück unter die Lupen und ehren ihn als Lackmustest! Oh schöne Grausamkeit und schönes Elend, wie seid ihr schöner als die bravste und gerechteste Abwesenheit von Schönheit! Darf es noch ein Recht auf Armut geben? Die größte Verarmung, die es jemals gegeben hat, schafft Geschwür von unheilbarem Ausmaß und alles, damit bloß niemand mehr bedroht und gefressen wird. Wie mühsam war ihr Leben, aber auch mühselig und ist deines nicht mühsam und doch so unmühselig? Ich übe mich in „arte laesos daemonis intuere” und bat doch nie um noch mehr Lektionen.
Es braucht einen Schutz, gewiss diese kindliche Sehnsucht blinzelt aus uns, aber den einer heimatlichen Burg, einer Liebe, nicht den ohne Abwesenheit von Gefahren, von Bedrohungen des Lebens und der Existenz. Habt ihr denn vergessen, dass ihr ohnehin ewig seid? Ihr braucht euch nicht erst unsterblich zu imaginieren. Wieviel schlimmer ist das, was wir gegenseitig unseren Nächsten und Engsten antun, als dass uns ein wildes Tier oder ein Virus bedrohen! Braucht es erst wieder eine Bête du Gévaudan, um sich lebendig zu fühlen? Aber ach, auch dann würde sich irgendeine Institution darum kümmern und man könnte sich erneut nicht auf den Nächsten verlassen. Die Wölfe sind wieder überall, fragt man die Jäger und Bauern und sie wissen sich zu helfen, die Menschen und die Wölfe. Brauchen wir sie nicht, um uns selbst zu erkennen?
Das Bewusstsein muss sich vornehmen, entgegen des Unbewussten zu handeln, das ihm ständig hineinreden will. Erzverloren im Hängen an Manifesten, die andere geschrieben haben, frisst und kopuliert das höchste Geschöpf so vor sich hin. Acedia ist ihr Wappentier von weichem Fell, ohne Krallen und unnötig zu jagen. Eingemollt in Dur. Übererhaben sich fühlend über das als „mittlere“ Zeitalter abgetane Reich des Goldes, in welchem sich doch die Unterworfenen immer ihrer Schicksalsgebundenheit bewusst waren. Das bis in jeden Gegenstand verzierte Jammertal aber darf kein Vorbild mehr sein. Die Denkmäler jener Bauern und Zünfte sind edleres Gut, als der heimliche hohe Stand der Heutigen sich selbst bauen mag. Niemand möchte sich selbst noch Denkmäler bauen, denn man lebt ja nur einmal. Es ist uns abhandengekommen, in Jahrtausenden zu denken, aber das Warten auf Godot muss ja dennoch ausgefüllt werden. Einst werden sie getaucht in stummweiches Formalin, in der Form gleich ihrer versunkenen Stadt, in der kein Leben mehr wohnt. Muss es erst Winter werden im Land der niedergehenden Sonne, in welchem dann nur noch das Heulen einsamer Wölfe zu hören ist? Verhungernde Kreaturen durchstreifen dann Ruinen im Schnee, kein Blut mehr wäscht dann weißer als Schnee. Keiner singt mehr: Lavabis me, et super nivem dealbabor!
Über die Autorin: Hendrikje Margareta Machate, geb. 1991 in Erfurt, von vertriebenen Sudetendeutschen abstammend. Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Bamberg und Fribourg (CH) sowie Austrain Economics am ehemaligen Scholarium in Wien. Derzeit lebt sie als Mutter, Hausfrau und freie Autorin in Wien.
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