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Josef Kraus: MICHAEL ESDERS' ›SPRACHREGIME‹ – ein gleichermaßen erhellender und grimmiger Lesegenuss

Die real praktizierte, öffentliche Sprache in diesem unserem Lande ist zu einem Gängelband des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens geworden. Das ist eine der Kernaussagen eines höchst lesenswerten, zugleich sehr anspruchsvollen und intellektuell herausfordernden Bandes, den Michael Esders veröffentlicht hat. Der Titel des Bandes lautet: „Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme“. Erschienen ist der Band als Nummer 10 in der von Frank Böckelmann herausgegebenen „Werkreihe TUMULT“. Esders (* 1971) ist als Autor und Fachmann für Marketing tätig, er hat Germanistik, Philosophie und Soziologie studiert.

Allein der Titel des 147 Seiten starken Buches ist markante Aussage genug. „Sprachregime“ kann im Singular oder auch im Plural gemeint sein. Nach der Lektüre weniger Seiten wird man merken: Es ist der Plural gemeint, und es geht nicht nur um Sprachregime, sondern um Deutungs- und soziale Sanktionsregime. China mit seinem Sozialkredit-System lässt grüßen. Es hat sich auch nicht nur ein einziges Gängelsystem etabliert, sondern es sind mehrere, denen sich nur Bestinformierte und mutig-kritische Geister zu entziehen vermögen.

Auch der Begriff „Wahrheitssysteme“ im Untertitel hat es in sich. Denn es geht um oktroyierte „Wahrheiten“ (eigentlich „Falsch“-heiten), an die der brave Bürger, der typisch deutsche Untertan glauben soll. Sloterdijk verwendet hierfür und vor allem mit Blick auf die deutsche Migrationspolitik den Begriff „Lügenäther“. Überhaupt scheinen „Wahrheiten“ ganz im Sinne des Konstruktivismus zum Konstrukt geworden, das jederzeit und je nach politischer bzw. medialer Laune dekonstruiert werden kann. Etwa wie folgt: „Die Objekte der politischen Dekonstruktion – Familie, Volk, Nation, Kultur und Geschlechtsidentität - erscheinen als willkürliche, exklusive und zudem gefährliche Konstrukte, die es mit emanzipatorischem Ziel aufzulösen, letztlich zu beseitigen gilt.“ Und längst geht es nicht mehr um die Kategorien richtig/falsch, sondern um gut/böse. „Chemnitz 2018“ steht als Beispiel dafür; es war ja auch der Anlass für den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU), von „politischen Wahrheitssystemen“ zu sprechen.

Der Autor Esders hat damit eine höchst zeitgemäße Analyse zu Orwells „1984“ bzw. dessen Big Brother und dessen „Ministerium für Wahrheit“ (MiniWahr) geschrieben. Die Methoden des Big Brothers des Jahres 1948, als Orwell „1984“ schrieb, sind heute aufgrund der medialen Möglichkeiten sogar noch perfektioniert. Und längst sind bestimmte Dinge in diesem Lande nicht mehr verbalisierbar, also bald auch nicht mehr denkbar. Menschen werden damit manipuliert, gegen ihre Lebensinteressen zu leben. Zum Beispiel durch bestimmte Narrative, die schier zur Staatsraison erhoben wurden: „Willkommenskultur“, „Gender“, „Klimawandel“, „Islam als Teil Deutschlands“ usw. Durch politische Vorgaben und eilfertige mediale Verbreitung, so Esders, entstehe ein verzerrtes, ideologisiertes Abbild der Realität. Framing-Manuale der Öffentlich-Rechtlichen und „Spiegel“-Relotiusse lassen grüßen. Dass solche Abbilder wirken, hat laut Esders mit der Macht der Medien, aber auch mit dem sinkenden Bildungsniveau zu tun. Denn, das fügt der Rezensent an: „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ (Marie von Ebner-Eschenbach). Moderne Bildungspolitik befördert gerade das, indem sie gegen kanonisches Vorratswissen poltert, vermeintliches Wissen unter aller Kanone fördert und unter dem Diktum einer vagen Kompetenzenpädagogik aus Lehrplänen Leerpläne macht.

Michael Esders ist ein Autor, dessen sprachliche Kreativität nicht nur begeistert, sondern dessen Formulierungsgabe die Kritik erfreulich schmerzhaft auf den Punkt bringt. So etwa, wenn Esders dem „monolithisch auftretenden politisch-medialen Komplex“ „bunttümelnde Eintönigkeit“ attestiert. Oder wenn er die ohnehin schon verengten Meinungskorridore vor allem durch NS-Vergleiche als „schärfste Waffe“ und als „Goldstandard“ weiter verengt sieht. Habermas kommt zu Recht nicht gut weg – ein Habermas, der sein Leben lang vom „herrschaftsfreien Diskurs“ schwadronierte, aber als Mittel gegen „Rechte“ deren „Dethematisierung“ fordert.

Greifen wir weitere Thesen bzw. Diagnosen des Autors Michael Esders auf: Talkshows und der ganze „Belehrungsjournalismus“ produzieren aus seiner Sicht „hochartifizielle Realitätssimulationen“ (also Wahrheitskonstruktionen im Sinne einer „Hyperfaktizität“). Hypermoral ist für Esders ein Dekadenzphänomen, mit dem Gesinnung Empirie schlägt. Die „grünen Mythen“ würden, so der Autor, ein „narratives Kindchenschema und eine verbreitete Regressionssehnsucht“ bedienen, wobei etwa die aus dieser Ecke schier tränenreich erzählten Schicksale etwa „Schutzsuchender“ einen „Anspruch auf Totalität“ erheben sollen. Überhaupt seien die neuen Erzählungen und Mythen säkularisierte Bußrituale bzw. zivilreligiöse Varianten des Ablasshandels. Oder individualpsychologisch formuliert: „Identitätssurrogate, die auf ein Sinnvakuum in den diversifizierten Lebenswelten reagieren und dies zum Schein und mit den Mitteln des ästhetischen Scheins ausfüllen.“

Esders setzt dagegen: Die meisten Verirrungen der Jetztzeit haben mit Sprachregimen zu tun. Deshalb gilt für ihn: „Die Verteidigung des Eigenen müsste beim Eigensinn der Sprache ansetzen und als Widerstand gegen die Enteignung des Ausdrucksvermögens angelegt sein.“ Wer sich gegen solche Sprachregime immunisieren möchte, für den ist Esders‘ Buch Pflichtlektüre.

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TUMULT-Werkreihe #10, 147 Seiten, Lüdinghausen/Berlin 2020


 

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