Karsten Dahlmanns: HALTEN SIE DEN BÄREN DRAUSSEN, ABER ÄRGERN SIE IHN NICHT! EINIGE BEMERKUNGEN AUS OSTMITTELEUROPÄISCHER PERSPEKTIVE
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USA, NATO, EU, Rußland, China. Wer wie Beate Broßmann mit Siebenmeilenstiefeln durch Zeitgeschichte und Geopolitik stapft, dabei in geheime Hinterzimmer blickt und genau zu erkennen den Anspruch hat, was gespielt werde, muß notwendig atemlos wirken. Schrittmaß und Tempo lassen übersehen, was nicht übersehen werden sollte. Verliebt in den großen Wurf und in gewollter, ja verkrampfter Abgrenzung von den „ungebildeten und verantwortungslosen bis korrupten Politikern“ entsteht ein quasi-imperialer Blick; er fegt in ebenjener Manier über Ostmitteleuropa hinweg, welche der Historiker Prof. Andrzej Nowak kürzlich in Berlin beklagte[1] – nämlich so, als sei Rußland ein (unmittelbarer) Nachbar Deutschlands und als gebe es in Ostmitteleuropa keine legitimen Interessen, die sich von jenen des „Westens“ oder der Russischen Föderation unterscheiden. Entsprechend wird auch der Blick auf den Ukraine-Krieg zu dem eines Fernsichtigen, welchem entscheidende Details entgehen.

Ob „Mainstream-Medien […] Geheimdienstpropaganda verbreiten“, um Kriegsbereitschaft zu schüren, oder aber dasjenige, was Illuminati, Freimaurer oder Glasbläser unters Volk gebracht sehen wollen, entzieht sich meiner Kenntnis. Das kann ja auch gar nicht anders sein, wenn jene Dunkelmänner ihr Handwerk verstehen. Gewiß hingegen scheint mir, daß es Gegenden gibt, in denen „eingeimpfte Russophobie“ überflüssig ist. Die Polen etwa bedürfen keiner derartigen Impfkampagne, weil sie zur Genüge eigene Erfahrungen mit den Russen bzw. Sowjets gemacht haben. Als Beispiele für diese Erfahrungen aus erster – und nicht selten blutiger – Hand lassen sich anführen: das von General Suvorov gebilligte Massaker in den östlich der Weichsel gelegenen Teilen Warschaus 1794 (Rzeź Pragi, zwischen 13.000 und 20.000 getötete Männer, Frauen und Kinder)[2] während des Kościuszko-Aufstandes; die Russifizierungsversuche in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; die Deportation ethnischer Polen nach Sibirien und Kasachstan im Anschluß an den Ribbentrop-Molotov-Pakt, der von deutschen Fortschrittlern und Rußland-Freunden gern ‚vergessen‘ wird; die Ermordung tausender polnischer Offiziere Polens bei Katyń und weiteren Ortschaften; die Einsetzung kommunistischer Satrapen in Polen nach 1945, einschließlich der Repressalien gegen Kämpfer der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa), den Klerus und sonstige Eliten, soweit sie die Vernichtungspolitik der deutschen Nationalsozialisten und der Bolschewisten bis Kriegsende überstanden hatten. Der Justizmord an Witold Pilecki bildet nur ein Beispiel für diese Greuel.[3]
Langer Rede kurzer Sinn: das Aufblühen Ostmitteleuropas hängt natürlich damit zusammen, daß die Russen bzw. Sowjets dort nichts mehr zu sagen haben. Der Aufstieg Polens fügt sich in diese Erfolgsstory ein. Deutsche führen sie gern auf EU-Subventionen zurück, verkennen aber die Tüchtigkeit der Menschen dort. In jedem Falle sollten die ostmitteleuropäischen Staaten, sollte Europa alles Notwendige dafür tun, den russischen Bären dort zu halten, wo er jetzt ist. Glaubhafte Abschreckung wäre eine vernünftige Maxime und Realpolitik im besten Sinne. Jedes Mehr wäre unklug. Es führt zu nichts Gutem, den Russen mit der Zerschlagung ihres Landes zu drohen oder von Regime Change zu schwätzen. Don’t poke the bear!
Bezüglich des Ukraine-Kriegs sei hier lediglich vermerkt, daß der Betrachter Bescheidenheit an den Tag legen sollte. Es amüsiert, wenn kaum einer der Schreibtisch-Generäle und Weltendeuter westlich von Oder und Neiße die Namen der Ort- und Landschaften aussprechen kann, um die gekämpft wird. Doch stellt sich Bestürzung ein, sobald deutlich wird, daß kaum einer derjenigen, die da jetzt den Clausewitz oder Spengler spielen, einen Schimmer von slawischen Realien und slawischer Stärke hat. Schließlich darf es als aussichtslos gelten, ein Volk wie die Russen durch Sanktionen in die Knie zwingen zu wollen. Daß sich die Polen weder durch Krieg, Teilung noch eine genozidale Besatzungspolitik seitens der Deutschen 1939-45, einschließlich der systematischen Ausmordung polnischer Eliten (Professoren, Lehrer etc.) – auch darauf hat Andrzej Nowak in Berlin hingewiesen – unterkriegen lassen, haben sie in ihrer Geschichte heldenhaft bewiesen.
Zu den erwähnten Realien gehören innerslawische Feindseligkeiten. Sie belasten unter anderem das Verhältnis von Polen und Ukrainern. 1943-1945 verübten ukrainische Nationalisten Massenmord an den polnischen Einwohnern Wolhyniens und Ostgaliziens (Zbrodnia wołyńska, Rzeź wołyńska, rund 100.000 Tote).[4] Die Würdigung dieses Völkermords bleibt bis heute ein Streitpunkt zwischen der Republik Polen und der ukrainischen Führung.[5] 2024 wurde in Südostpolen ein Denkmal für die polnischen Opfer enthüllt. Es zeigt unter anderem ein auf einen Dreizack gespießtes Kind, wobei der Dreizack auf das Wappen der Ukraine anspielt. Im August 2025 wurde der Sockel des Denkmals mit der Losung „Slava UPA“ (Ruhm der Ukrainischen Aufstandsarmee) und der rot-schwarzen Flagge der Bandera-Bewegung besprüht.[6] An alledem läßt sich erahnen, daß ganz unabhängig von der Frage, was recht eigentlich im Ukraine-Krieg verteidigt werde, mit dem Ende der Feindseligkeiten in der Ostukraine kein ewiger Friede anbrechen dürfte. Der konservative – und ‚kontroverse‘ – polnische Politiker und Publizist Janusz Korwin-Mikke hält in einem Tweet vom 2. Oktober 2025 einen polnisch-ukrainischen Konflikt in zehn bis fünfzehn Jahren für mehr als wahrscheinlich.
Der Verfasser der vorliegenden Zeilen maßt sich nicht an, Genese und Wesen des Ukraine-Kriegs zu verstehen. Doch scheint ihm empfehlenswert, die ‚großen‘ Deutungen durch ‚lokale‘ Analysen zu ergänzen, zumal erstere stets nur die üblichen Verdächtigen mit ihren Akronymen oder die Standard-Schurken aus Übersee ans Licht fördern. Das ist langweilig. Kluge Betrachter sollten ihre Siebenmeilenstiefel ausziehen. Wer die Dinge allzusehr durchschaut, verliert sie aus den Augen.
Verweise:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=aqYyG4zthT0 (1.11.2025).
[2] Angabe nach https://muzhp.pl/kalendarium/rzez-pragi (1.11.2025). Zu berücksichtigen wäre dabei die Anzahl der damaligen Einwohner Warschaus, rund 100.000 Seelen.
[3] https://biogramy.ipn.gov.pl/bio/wszystkie-biogramy/rotmistrz-witold-pileck/english-version/112337,Captain-Witold-Pilecki.html (1.11.2025).
[4] Angaben nach https://muzhp.pl/wiedza-on-line/kalendarium-zbrodni-wolynskiej-1943-1945 (1.11.2025).
[5] Vgl. Grzegorz Motyka, Wołyń ’43, Kraków: Wydawnictwo Literackie 2016, S. 238-247.
[6] https://rzeszow.tvp.pl/88223630/zniszczony-pomnik-rzez-wolynska-w-domostawie-sprawcow-szuka-policja (1.11.2025).
Über den Autor: Karsten Dahlmanns, promovierter Philosoph und habilitierter Literaturwissenschaftler, Professor einer Universität im Süden Polens, wo er seit 2004 lebt. Jüngste Buchveröffentlichungen: Karsten Dahlmanns, Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten. Eine Reaktualisierung des Werks von Helmut Schoeck, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2023, 222 Seiten; Stefan George, Gwiazda przymierza (Der Stern des Bundes), Übertragung: Wojciech Kunicki, Einführung und Kommentar: Karsten Dahlmanns, Warschau: Fundacja Evivva L’arte 2024, 256 Seiten.
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