Ralf Rosmiarek: UNSERE DEMOKRATIE
- 8. Juli
- 11 Min. Lesezeit
Sturzbäche von Tränen ergossen sich, denn die Lachsalven hatten es in sich. Eine Nation reinigte sich, wurde durch den Künstler und Sprachvirtuosen Loriot gleichsam der heilsamen Kur unterzogen, sich selbst zu erkennen. Loriot beschenkte sein Publikum und dankbar wurde die Einsicht aufgenommen: Der Mensch kommt nicht raus aus seiner Haut. Da kann er machen was er will, die Biologie schlägt unweigerlich zurück, der kulturelle Lacküberzug ist nur von minderer und schlichter Qualität, das Haltbarkeitsdatum ein recht kurzes. Wer sich dies vor Augen führen läßt, erkennt dann sogleich, Gefühle lassen sich schlecht domestizieren. Für Loriot war dieses Wissen selbstverständlich. Mit ihm war die Tradition, die, seit tausenden von Jahren schon, wußte um die menschliche Natur. Seit Jahrtausenden wußte der Mensch um seine Geschlechtlichkeit, wußte um seine Sterblichkeit, wußte um seine Gefühle, mochten sie aufwallend und ungezügelt sein, wußte somit auch um Liebe und Haß.

Ein Satz, der dieser Tage beinahe unablässig erschallt, wie: „Haß ist keine Meinung“, hätte bestenfalls ein Kopfschütteln generiert oder wäre überhaupt nicht verstanden worden. Selbstverständlich war den Alten, daß Haß keine Meinung, sondern eben Gefühl ist. Gefühle gehören zum Menschen, abstellbar oder zu kanalisieren sind sie nie, bestenfalls zu unterdrücken – durch Drogen oder Gewalt etwa. Die Unterschwelligkeit – der „Gefühlsstau“ – aber verbleibt, die Folgen führen dann nicht in jedem Falle zu Freudentränen. Im Buch des Prediger Salomo (3,8) heißt es deshalb auch keinesfalls grundlos: „Alles hat seine Zeit: Lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit“. Ein antagonistisches Paar, beides dem Menschen zugehörig. Auch wird der Psalmist fragen: „Sollte ich nicht hassen, Herr, die dich hassen“? und bekräftigen: „Ich hasse sie mit ganzem Ernst“.
Wo Liebe ist, da ist eben oft auch der Haß. Ein situationsbedingtes Hineinsteigern ist immer möglich. Zeigte sich nicht – laut Überlieferung und überraschend genug?! – selbst der allmächtige Gott, Jahwe, voller Haß? „Ich, Jahwe, hasse die Habgier“ (Jes. 61,8), wird er bekennen. Ausgelassenheit und Feste waren ihm gänzlich verpönt: „Ich hasse eure Feste“, wird er seinem Volk durch den Propheten Amos (5,21) ausrichten lassen. Überhaupt: „Der Herr haßt alles, was ein Greuel ist“ (Sir. 15,13). Zimperlich war der Gott des Alten Testaments, in dem mancher den Gott der Liebe wähnte, ohnehin nie. Seinem Zorn und seinen rauschartigen Rachegelüsten ließ er freien Lauf, Köpfe rollten und Körper wurden zerschlitzt und zerschunden, Frauen, Männer, Kinder geschlachtet, das Blut floß in Strömen. Ein „Greuel“ kann ihm dies freilich nicht gewesen sein, denn die „haßt“ er schließlich. Ein jeder lese einfach nach.
Kulturelle Eigenheiten
Blutströme und zerstückelte Leichen verstören offenbar viel weniger als etwa das Schlecken von Eis in der deutschen Öffentlichkeit. Diese öffentliche Schleckerei ist unzumutbar, befand unlängst ein muslimischer Gastautor in einer süddeutschen Zeitung, zu sehr stellt sich sensiblen Einwanderern die Vorstellung der Fellatio ein. „Unkeusches Verhalten“ ist den Kultursensiblen ohnehin todeswürdig. Es sei an die 16jährige Schülerin Atefah Sahaaleh erinnert, die 2004 an einem Kran erhängt wurde. Ein Kran deshalb, damit sich der Sterbeprozeß um ein Vielfaches verlängert. Nach der Scharia wird Sex außerhalb der Ehe mit dem Tode bestraft. Überhaupt erfreuen sich strafbewährte Methoden der Antike und des Mittelalters im Namen der Scharia großer Beliebtheit: Es wird geköpft, gesteinigt, Hände und Beine werden abgeschlagen und durchaus auch die Augen ausgestochen. Kulturelle Eigenheiten unserer neuen kultursensiblen „Mitbürger“ werden sicht- und erlebbar. Grüne erleben in ihnen eine Bereicherung. Der Triebstau ist allerdings eine heikle Angelegenheit; somit ist er besser auszubreiten, der Mantel des Schweigens. Alles hat eben seine Zeit und manch überwunden Geglaubtes kehrt zurück. So bleibt mitunter auch der Haß als pulsierendes Gefühl. Fordert denn nicht selbst der Menschen- und Gottessohn Jesus um des Himmelreiches willen gar „Vater und Mutter zu hassen“ (Lk. 14,26)? Geradezu eine Voraussetzung zum ewigen Leben findet seine Grundlage im Haß: „und wer sein Leben auf dieser Welt haßt, der wird’s erhalten zum ewigen Leben“ (Joh. 12,23).
Wirrungen
Doch um das Himmelreich ist’s längst schlecht bestellt, auch die Kirchen wollen von diesem noch kaum etwas wissen. Sie werden beharrlich von der neuen Zeit durchpustet, der Heilige Geist, wohl doch nur ein Gespenst, hat sich offensichtlich verflüchtigt. Gott selbst ringt mit seinem eigenen Geschlecht, hat irgendwie vergessen, wer er ist, Allwissenheit hin oder her. (Demenz als Alterserscheinung?) Ein evangelischer Kirchentagsprediger weiß im Jahre 2023 indes zuverlässig (oder ging es nur mit dem Spiritus daneben?): „Gott ist queer“.
Unablässig wird dem Menschen von Kirchen-, Medien-, Polit-, Universitätskanzeln der Fortschrittsgedanke, der sich alsbald auch als Fortschrittsglaube entpuppt, ins Hirn geblasen. Auch die Evolution sei immer Fortschritt heißt es bald, hingegen betonen wieder andere, die Evolution kenne gar keine Zielgerichtetheit. Doch der Fortschrittsgedanke scheint dem Menschen ein Faszinosum, nur der Fortschritt motiviert zu Handlungsimpulsen, so will es mit Blick auf die Menschheitsgeschichte scheinen. Der Mensch möchte weder hören, noch sich bewußt machen, daß er nur zum Tode hin lebt. Utopien beflügeln. Der Kommunismus sei das Endziel des Menschen, seine Erlösung somit. Die „wissenschaftliche Weltanschauung“ des Marxismus lehrt, besser, predigt es. Bis es soweit ist, bedarf es einer Zwischenlösung. Für Zwischenlösungen konnten sich Politik wie Kirche schon immer erwärmen, es lebt sich zu gut von ihnen. Das Himmelreich möge darum bleiben, wo es ist und der Kommunismus ebenso. Das „irdische Jammertal“ und die Zwischenlösung der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ genügten einstweilen. Letztere führte sich zwar selbst ad absurdum, das hindert jedoch die rot-grün-woken Ideologen des Fortschritts nicht, den derweil neuerlichen Anlauf zum Endziel hin zu unternehmen. Verluste sind wie immer bei hehren Zielen eingepreist. Gulags, Mauertote, verschiedene Dienste der Staatssicherheit, Folter, Denunziantentum liefern dafür benötigtes Anschauungsmaterial.
Ein Protagonist im Roman Das Narrenschiff des Autors Christoph Hein wird nicht zu Unrecht herausstellen: „Das Vergessen ist eine wunderbare und auch wundersame Einrichtung der Natur für uns Menschen. Mit allen Erinnerungen zu leben, das wäre eine Aufgabe für einen Prometheus, für einen Helden der Antike, für die Götter, aber nicht für uns, nicht für die Sterblichen.“ So wird zwar manche Gedenkstätte noch staatlicherseits finanziert, doch das ist äußere Geste, Inhalte interessieren schon lange nicht mehr. Linke Verheerungen, linke Opfer erscheinen bestenfalls als Marginalie. Eine Sahra Wagenknecht konnte noch 1992 in den „Weißenseer Blättern“ (Heft 4 ) – von brandenburgischen Pfarrern wurde das Blatt auch als „rote Scheiße“ tituliert –, der Zeitschrift des Weißenseer Arbeitskreises der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg unter dem Titel „Marxismus und Opportunismus – Kämpfe in der Sozialistischen Bewegung gestern und heute“ mit Blick auf die Oktoberrevolution in Russland ungeniert schreiben: „Die Geschehnisse jenes Zeitabschnitts gaben Lenin und den Bolschewiki das unzweifelhafte historische Recht, ihr politisches Konzept als das einzig gangbare zu betrachten“. Sie fährt mit dem Lob Stalins fort: „Nicht zu leugnen ist, dass Stalins Politik – … wohl auch in ihrer Herangehensweise – als prinzipientreue Fortführung der Leninschen gelten kann“. Auch heißt es bei ihr: „Was immer man … gegen die Stalin-Zeit vorbringen mag, ihre Ergebnisse waren jedenfalls nicht Niedergang und Verwesung, sondern die Entwicklung eines über Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine moderne Gesellschaft“. Aufarbeitung? Fehlanzeige!
„Brandmauern“ bedarf es allein hin zum Konservatismus, der im neuen sprachlichen Duktus als „rechts“ ausgewiesen ist und noch der klassische Liberalismus – (Liberalismus bedeutet tatsächlich nicht die FDP) – wird verdächtigt, sich dem woken Fortschritt nicht bedingungslos zu unterwerfen. Nicht ganz reibungslos verläuft die Sache mit dem Scheiterhaufen, doch wenigstens ein lebenslängliches Anathema läßt sich gegen die „Abweichler“, „Frevler“, „Aussteiger“ medial hübsch aufpoliert schleudern. Das ZDF hält dafür einen Jan Böhmermann vor. Die Fortschrittskräfte bedürfen der Bündelung, der schöne Gedanke der Einheitsfront, der Einheitspartei kehrt zurück, der Gleichheitsaspekt findet somit gleichermaßen seine Berücksichtigung. „Mit uns zieht die neue Zeit“ schmetterten dereinst die Chöre, „mit uns zieht die alte Zeit“, schiene treffender – doch gesungen wird eh kaum noch in jenen Kreisen.
Ein Ruf als Dauerton
Um dieses Fortschritts willen: Ein Ruf erschallt als Dauerton: Demokratie! Kein Entrinnen. Nirgends. Kein Platz eben für Haß und Hetze! Drei Wahlen in den noch immer so genannten „neuen Bundesländern“ standen kürzlich an und der Ton der Beschallung wurde bis zum Anschlag – an leistungskräftigeren Systemen wird auf Hochtouren gearbeitet – aufgedreht. Die Wahlen verstör(t)en jedenfalls. Dabei war die Melodie Demokratie doch so eingängig, ein Ohrwurm geradezu. Was konnte da so schiefgehen? Auch war da noch der Traum, „unser Traum“ gar „von einer menschlichen, einer gerechteren Zukunft“ (Christoph Hein).
Die Regler und Regulierenden wissen deshalb auch: Das Lied der Demokratie, „unserer Demokratie“ muß bleiben, nur muß es noch lauter erschallen. Einmal mehr aber ist der Feind, der Unmusikalische ausgemacht, es ist die AfD, die schließlich Parlamente und Demokratie verachtet. Ein Haßobjekt wird geradezu heraufbeschworen. Dieser Haß jedoch ist positiv besetzt, erforderliches Gefühl im unentwegten „Kampf gegen Rechts“. „Es ist so richtig rührend“, schreibt daher treffend die Autorin Cora Stephan, „wenn Politiker der Altparteien von ‚unserer Demokratie‘ sprechen, die es zu schützen gelte. Die Frage ist allerdings, ob ausgerechnet sie dazu berufen sind und ob sie damit womöglich einen Besitzanspruch anmelden. Offenbar ja. Denn wenn ihnen die Demokratie gehört, leuchtet es irgendwie ein, dass sie meinen, politische Konkurrenz ausschalten zu dürfen – mit dem Argument, die sei ja nicht ‚demokratisch‘“.
Und sie fährt luzide fort: „Doch natürlich gehört ihnen die Demokratie nicht, und nichts könnte undemokratischer sein, als politische Konkurrenz einfach zu verbieten, wenn man ihr anders nichts entgegenzusetzen hat. Diese Freunde der Demokratie setzen sich selbst mit der Demokratie gleich, nein: Sie verwechseln sich damit. Unter der Parole ‚Demokratie retten’ wird zur Wahl einer neuen Einheitsfront aufgerufen, und jeder wird als Undemokrat ausgesondert, der sich dem widersetzt.“ Da ist eben viel Haß, der freilich hat seine Zeit … Aber der eigene, der gute zählt naturgemäß nicht: „Haß ist keine Meinung“ – in der Tat, noch immer nicht! Aber vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder auf Argument und Debatte zu besinnen, statt sich der Moralisierung und Gefühligkeit, der Diskreditierung, der Denunzierung und der Klüngelei in den Hinterzimmern hinzugeben. Oder sind wir tatsächlich gar fertig mit der Demokratie? Woher stammt unser plötzliches Versagen, Fakten und Fiktion nicht mehr trennen zu können? Benötigt die Erkenntnis der Wahrheit stets einer ideologischen Legitimierung? Ist die Vermeidung streitbarer Debattenkultur Ausdruck purer Lustlosigkeit? Sind wir einfach nur müde und kennen kein Antriebsmittel mehr gegen die Lethargie? „Ich begreife nicht, wie es in dieser Welt gleichgültige Menschen, nicht zergrämte Seelen, nicht brennende Herzen, nicht schwingende Empfindungen, nicht weinende Tränen geben kann“ (Emil M. Cioran).
Unsere Demokratie lebt!
Mit Georg Büchners Worten aus Dantons Tod möchte mancher dazwischenrufen: „Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkte, wo sie verkörpert werden“. Ein kleiner Blick zurück könnte hilfreich sein, um die Inhaltsleere, die Phrasenhaftigkeit des Demokratiebegriffs zu erkennen. Gab nicht sogar Friedrich Schlegel schon zu bedenken, „… nachdem das rechte Wort, für die große Majorität und allgemeine Masse wenigstens, in Verlust gerathen, so sollen nun Phrasen und leere Formeln die Stelle vertreten; da aber diese, wie meistens alle Surrogate, kein Genüge leisten, so müssen sie immer wieder durch neue ersetzt werden, und unaufhaltsam ergießt sich die Fluth der hohlen Worte im politischen wie im intellectuellen Gewirre der Partheyen“. Sehr modern mutet er an, dieser Schlegel, beinahe gegenwartstauglich. Doch freilich, dieser Schlegel sollte besser Schlingel heißen, ist er doch konservativ, dazu obendrein katholisch geprägt.
Ginge es somit tatsächlich an, sich aufweisen zu lassen, daß Konservatismus „nicht unbedingt die Sinne trübt“ und „[k]ritische Köpfe […] keineswegs einzig im revolutionären ‚Volkshaus’ vorhanden“ (Günter Kunert) sich tummeln? Denn was bedeutete die Installierung eines Pandemiebekämpfungssystems, das schon seinerzeit sich weit entfernt von evidenzbasierter Wissenschaftlichkeit zeigte, anderes als politische Willkür? War die Raute einer Angela Merkel und deren Folgen: 3G, 2G, Lockdowns, Maskenpflicht, Isolation von Alten, Kranken und Sterbenden, einrichtungsbezogene Impfpflicht, die Forcierung der allgemeinen Impfpflicht, demokratisch? Waren es nicht vielmehr sinnbefreite Maßnahmen wider besseren Wissens? Untermalt von hemmungsloser Phraseologie? Wer hier lediglich politischen Dilettantismus unterstellt, der verharmlost bereits.
Man werfe nur einen Blick auf die Dokumente des – durch Politiker unentwegt genannten – Robert-Koch-Instituts. Sichtbar wird in ihnen politische Willkür und enthemmter Machthunger. Gab es nicht zudem einen weiteren Geniestreich demokratischer Staatskunst zu bewundern, als die Bundeskanzlerin Angela Merkel aus Südafrika öffentlich dekretierte, daß da eine Wahl „rückgängig gemacht“ werden müsse, weil sie ein „unverzeihlicher Fehler“ sei? Thomas Kemmerich (FDP) war rechtmäßig mit den Stimmen der AfD, CDU und FDP zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt worden. Kemmerich trat zurück, der abgewählte Bodo Ramelow wurde wiederum Ministerpräsident. Demokratie, Demokratie jauchzte und jubilierte es sogleich im Einheitschor.
Die Fluth der hohlen Worte
Dem Wahlvolk wurden solche Maßnahmen mit willfähriger medialer Unterstützung als „alternativlos“ verkauft, das Grundgesetz dabei mit Füßen getreten, der Freiraum der Unangepaßten aufs Äußerste verengt. Häresie, die gar auf das Argument rekrutiert, wird zum unvorstellbaren Geisteszustand. Das Grundgesetz in Händen, konnte den demokratischen Gummiknüppel auf dem Schädel nach sich ziehen, „da muss man […] sozusagen schrittweise hocheskalieren“, „grundrechtsschonend“, so seinerzeit die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Alena Buyx.
Apropos Grundgesetz. Eine Überarbeitung scheint dringend geboten, darüber dann auch eine Volksabstimmung. Gleich in der Präambel die notwendige Verankerung: „Nicht der Mensch ist um des Staates willen da, sondern der Staat um des Menschen willen.“ Vielleicht hätte eine solche Klarstellung die Exzesse der vergangenen Jahre verunmöglicht. Zu reformieren ist jedenfalls auch die Verantwortlichkeit der Abgeordneten, sie müssen zwingend für ihr Handeln juristischer Verantwortung unterliegen. Die herrschende Konsequenzlosigkeit ist ein Überbleibsel aus absolutistischen, monarchischen Zeiten – Kaiser und Könige konnten nicht irren, so wollte man es selbstherrlich wissen. Auch der Artikel 38 ist reformbedürftig: „Die Abgeordneten […] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, heißt es da. Doch die Abgeordneten müssen dem Wählerwillen verpflichtet sein. Wofür sonst sollte man sie abordnen und beauftragen? Und das Gewissen? Bekanntlich manchem ein feines Ruhekissen.
Solches Einsprechen, gleichgültig ob politisch oder medial, bleibt bislang jedoch nur Gekrächze mit dünnem Stimmchen. Die baßlastigen Lautsprecher tönen hingegen unvermindert: Demokratie! Der Inhalt muß ins Ohr und somit endlich ins Hirn. Geld wurde inzwischen immerhin genug pulverisiert und Kampagnen („die Fluth der hohlen Worte“) zur Beförderung eben der Demokratie noch und nöcher gestartet. Ganz vorn mit dabei: die CDU. Noch als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion sagte unlängst Thorsten Frei, das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ habe die CDU in einer „großen Koalition“ mitaufgelegt. Schließlich konnte Migration seit 2015 zum polarisierenden und explosiven Thema werden. Grenzöffnung einerseits und andererseits Beschwichtigung. Die CDU – Chaotisch Demente Union? Zur Kasse sodann das Volk! Großspurig werden „551 Fragen“ hinsichtlich der Finanzierung der Nichtregierungsorganisationen gestellt. Doch bevor die Ampel erlosch, schaltete sie auf Grün und so wurde im Januar kurzerhand durch Familienministerin Lisa Paus (Grüne) das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ bis zum Jahr 2032 verlängert. Bewerkstelligt wurde mit Intensität zudem die Wiedergeburt der Nationalen Front – bösartig als Parteienkartell verunglimpft – und ihr Antlitz strahlt frisch und hell, demokratisch jedenfalls. Der Dauerbrenner muß nun nur noch zünden. Auch das ist alternativlos.
Endlich vereint geschafft: Friedrich Merz wird Kanzler, freilich nur zweiter Wahl. Er verdankt es, immerhin doch wenigstens zweite Wahl zu sein, der SED, die sich seit Jahren nun die Linke nennt. Ungehört bleiben die Warnungen auch aus den eigenen Reihen: „Es gibt keinen Anlass, mit einer Partei zu verhandeln, die aus der SED hervorgegangen ist und sich bis heute nicht klar vom Unrechtsstaat der DDR distanziert hat … Das Kooperationsverbot wurde vom Bundesparteitag beschlossen und kann nur dort geändert werden. Ich warne jedoch eindringlich davor, dies mit Blick auf die Linke zu überdenken“, so der mißtönende Wittenberger Abgeordnete Sepp Müller. Doch mit den Brandmauern ist es eben so eine Sache, man mag sie sich nicht aufzwingen lassen: „Das Wort Brandmauer hat nie zu unserem Sprachgebrauch gehört. Das ist uns immer von außen aufgenötigt worden“, wird der „Unbeugsame“, Friedlich Merz, denn belehren. Vergeßlichkeit einmal mehr als hohes Gut.
Erinnerungslosigkeit ist und bleibt wohl fernerhin eines der tragenden Fundamente der Gesellschaft. Denn erstmals errichtete der Unbeugsame die „Brandmauer“ schon im Dezember 2021. Gegenüber dem vormaligen „Sturmgeschütz der Demokratie“, dem Spiegel, betonte er nach seiner Wahl zum CDU-Chef: „Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben.“ Um das Programm „Demokratie leben!“ nicht gänzlich zu konterkarieren, wird derzeit linksseitig angebändelt, da mag es Markus Söder noch so „gruseln“ und ihn schwadronieren lassen: „Es ist völlig Quatsch zu glauben, dass man jetzt plötzlich mit der Linken eine politische Zusammenarbeit pflegen kann. Ich halte nichts davon, jetzt eine Debatte zu führen, ob die Union künftig mit den Linken kann.“ Die Union jedenfalls kann! Jens Spahn zeigt sich der Linken gegenüber sogleich „dankbar“, für den gemeinsamen Antrag, darob Merz schlußendlich zum Kanzler gewählt werden konnte. Eine engere Zusammenarbeit sei dies allerdings nicht gewesen, der seit 2018 bestehende Unvereinbarkeitsbeschluß wurde nicht gebrochen. Auch zukünftig bestünde „keine Grundlage für [eine] Zusammenarbeit“, verlautbart Spahn gegenüber der BILD-Zeitung. Man nennt es Politik, demokratische sogar. Merz ist Kanzler – zweiter Wahl. Unsere Demokratie lebt! Und in manchem entwickelt sich neu so ein Gefühl …
Über den Autor: Ralf Rosmiarek, geb. 1962, Studium der Theologie, seit 1989 als Angestellter in Erfurt tätig. Mitbegründer und -organisator des Klassik-, Kunst- und Literaturfestes „Sommerklang“ (Oberbösa), Beiträge u. a. in Aufklärung & Kritik, Nietzsche-Studien, Humanistischer Pressedienst, Makroskop, TUMULT und manova News (vormals Rubikon).
Beitragsbild im Original vom Bundesarchiv, B 145 Bild-F011299-0015 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons
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