Rudolf Brandner: DAS ELSER-PARADOX. GEDANKEN ZUM ATTENTAT
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Die Zeit der deutschen NS Diktatur (1933-1945) gliedert sich bekanntlich in zwei entgegengesetzte, nahezu gleichlange Phasen: den Aufstieg und Erfolg der NS-Politik durch die weitgehende Revision des Versailler Vertrages, der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und der Wiedergewinnung staatlicher Einheit und Souveränität (1933-39), dann die Wende zum Weltkrieg, die Vernichtungslager mit der weitgehenden Ermordung der europäischen Juden und den Untergang (1939-45). Mitten in diese Zäsur fiel der Attentatsversuch von Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1939: Die im Pfeiler über dem Rednerpult platzierte Bombe explodierte planmäßig um 21 Uhr 20. Hitler aber hatte – wider alles Erwarten – den Saal schon vorzeitig um 21 Uhr 07 verlassen. Das Attentat scheiterte und Elser wurde bei seinem Versuch, sich in die Schweiz abzusetzen, verhaftet, nach langwierigen Verhören interniert und am 9. April 1945 in Dachau auf persönlichen Befehl Hitlers erschossen[1].
Schutzengel des Führers
13 Minuten fehlten – und die Weltgeschichte hätte einen ganz anderen Verlauf genommen, nicht zuletzt auch das geschichtliche Selbstverständnis der Deutschen. Das Gedankenexperiment hat schon Joachim Fest in seiner herausragenden Studie zu Hitler zu folgendem Schluß geführt: »Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen« (Hitler. Eine Biographie, 1973, S. 25). Was sicher auch noch für den Zeitpunkt von Elsers Attentat 1939 gilt. Hitler selbst hatte in seiner Rede vom 28. April 1939 ganz zu Recht geltend gemacht, daß man nun selbst von Seiten aller seiner Gegner nichts mehr gegen ihn vorzubringen wisse. In diesem Sinne hat auch Sebastian Haffner in seinen viel beachteten Anmerkungen zu Hitler (1978) noch einmal auf die großen Leistungen Hitlers verwiesen (S. 28 ff.), obgleich er seine Erfolge dann wieder durch die Schwächen seiner Gegner zu relativieren sucht (ebd. 49 ff.). Im Grunde stimmt er Fest zu (43 ff.), wenn auch mit der berechtigten Einschränkung, daß Hitler überhaupt kein Staatsmann, sondern ein an seine persönliche Biographie gefesselter Abenteurer gewesen sei, der die schon im Endstadium der Weimarer Republik begonnene Staatszerstörung vollendete. Aber ein solches mehr intellektuelles Urteil wäre sicher kein Hindernis für seine geschichtliche Verklärung gewesen. Letztlich zählt nur das Resultat; und von wie vielen «Schutzengeln» Hitler bis zuletzt geschützt wurde, kann man bei Gerd Ueberschär (Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat 1933 – 1945. Frankfurt a. M. 2006) nachlesen und der philosophischen Meditation über Geschichte überlassen.

Angesichts der exklusiven Bedeutung, die Hitlers Persönlichkeit für die zu Recht als »Hitlerismus« bezeichnete nationalsozialistische Politik hatte und von ihm selbst als seine »Unersetzlichkeit« beansprucht wurde, liegt es auf der Hand, daß sein Tod eine solche Lücke in die Führungselite der Nationalsozialisten gerissen hätte, daß sie durch keinen Nachfolger auch nur entfernt hätte ausgeglichen werden können. Dies auch ganz unabhängig von der Frage, wie viele der in der ersten Reihe versammelten NS-Größen (außer Göring) den Tod mit Hitler gefunden hätten. Dieses Ende des «Hitlerismus» hätte eine blendende Erfolgsgeschichte besiegelt, ohne sich in die fatale Untergangsbewegung des Weltkriegsgeschehens und seiner Vernichtungspolitik umzukehren. Wie es weitergegangen wäre, steht in den Sternen, aber eines dürfte sicher sein: Es hätte trotz dem gemeinsam mit der Sowjetunion schon abgeschlossenen Polenfeldzug weder Weltkrieg noch Judenvernichtung noch überhaupt etwas von dem gegeben, was die Schande und Verwerflichkeit des Nationalsozialismus und die Katastrophe Deutschlands ausmacht.
Scheitern als Beweis
Elser hatte nach dem Münchner Abkommen 1938 seine Vorbereitungen für das Attentat begonnen, nicht aus faktischer Evidenz, sondern aus der unbeirrbaren intuitiven Gewißheit, daß Hitler den Krieg und damit die Selbstzerstörung Deutschlands ins Werk setzen werde. Allein das Scheitern des Attentats bewies, daß er Recht hatte, mehr noch: die Rechtmäßigkeit (Legitimität) seines Handelns. Denn erst dies ermöglichte Hitler den Gang in den »totalen Krieg« und seine Entgrenzung; wäre das Attentat gelungen, hätte all dies nicht stattgefunden. Es fehlten 13 Minuten und Hitler würde im Rückblick auf seine politischen Leistungen zwischen 1933 und 1939 als eine der größten Führungspersönlichkeiten deutscher Politik gelten. Elser aber wäre als einer der übelsten Staatsverbrecher nach dem Sarajewo-Attentäter Gavrilo Princip in die Geschichte eingegangen; nicht Hitler, sondern Elser gälte als »Unmensch«, und nur sein Scheitern bewahrheitete seine innerlich vorweggenommene Ahndung, die erst retrospektiv zur Legitimationsbasis seines Handelns wurde und seinen Ruhm als Widerstandskämpfer begründete. Denn diese Legitimation seines Handelns hätte es nicht gegeben, wäre sein Anschlag geglückt.
Das Elser-Paradox liegt nicht darin, daß das Scheitern – anstelle des Erfolgs – zum Ruhm führt, sondern daß es die Legitimität seines Handelns, die durch die Faktenlage gerade nicht abgedeckt war, erst in der Rückschau bewahrheitete, und zwar in einem Ausmaß, das ihm selbst im Traum kaum vorgeschwebt haben mochte. Dem Moralisten bleibt dies ein unüberwindbares Ärgernis, daß ein politisches Attentat – ein per se verbrecherisches Handeln – nur durch sein Scheitern seine Legitimität erhält, weil erst der Fehlschlag die Bahn für die Geschehnisse freigibt, die offenlegen, daß der Tötungsversuch im Recht war. Der moralische Standpunkt erweist sich als unvermögend, als Maßstab geschichtlichen Handelns und seiner Beurteilung zu fungieren. Geschichtliches Handeln muß sich aus ethischen Überzeugungen ins Spiel der Zufälle und Unwägbarkeiten werfen, die es unabsehbar ins Geschick geschichtlichen Daseins verwandeln, ohne daran auch seine Legitimität bewahrheiten zu können.
Akribie und Fahrlässigkeit
Das Elser-Paradox mag nur ein Beispiel unter vielen anderen analogen Fällen sein, wie sich die Ethik geschichtlichen Handelns allen Moralmaßstäben entzieht und auf Gunst und Ungunst der Umstände angewiesen ein Wagnis der Freiheit bleibt, das sich auch gegen seinen Urheber kehren kann. Wäre es etwa Oskar Schindler nicht gelungen, zahlreiche Juden durch einen vorgetäuschten Antisemitismus vor den Vernichtungslagern zu retten, stünde er wohl als einer der verwerflichsten Kriegsprofiteure und SS Komplizen in den Geschichtsbüchern. Durchaus sind es ganz in der ethisch-geistigen Persönlichkeit gegründete Eigenheiten, die im Wagnis geschichtlichen Handelns zum Tragen kommen. So bleibt es auch ein ganz persönliches Paradox, daß Elser das Attentat mit einem Höchstmaß an akribisch umsichtiger Planung ins Werk setzen konnte, zugleich aber völlig fahrlässig und gedankenlos agierte, wo es um seine eigene Absicherung durch Flucht ging. Bei seinem Versuch, in die Schweiz zu entwischen, konnte er wie ein stümperhafter Kleinkrimineller festgenommen und überführt werden. Der Mensch Elser war eben auch dieses Paradox: trotz aller durchkalkulierten Intelligenz an dummen Zufällen zu scheitern – eine Tragik, die auch die unsere ist.
[1]Über Georg Elser (1903-45) informiert der entsprechende wikipedia-Artikel; Motiv, Planung und Tathergang wurden hervrorragend rekonstruiert in dem dokumentarischen Film von Hans Gottschalk und Rainer Erler (1969), den auf YouTube sich anzusehen unbedingt empfohlen sei.
Über den Autor: RUDOLF BRANDNER, geb. 1955, Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris (Sorbonne) und Heidelberg, 1988 Promotion über Aristoteles, 1993 Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit. 1985-1999 neben Lehr- und Vortragstätigkeit im deutschsprachigen Raum zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien. 2000-2005 Rückzug in die philosophische Grundlagenforschung. Brandner lebt als freier Philosoph in Freiburg i. Br. und Berlin. Letzte Buchveröffentlichung: Muslimische Immigration und das Versagen der politischen Vernunft Europas. Werkreihe TUMULT 2024. Hier geht es zur Internetseite von Rudolf Brandner.
Beitragsbild von Christian Vollmer, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons
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