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Thomas Hartung: "BUNT, SCHRILL UND SYMPATHISCH"

Ein unbedarfter „Musicalist“ darf Deutschland vor einem Millionenpublikum blamieren, während gestandene Sänger wie Heino als Hetzer und Genies wie Beethoven als Rassisten beschimpft werden dürfen. Das linke Ideologem „Gesinnung schlägt Ästhetik“ droht die Musik irreparabel zu schädigen.



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Der gravierendste Angriff kam tatsächlich aus England: „Hitler ist jetzt die zweitschlechteste Sache, die aus Deutschland kommt“, twitterte der berühmte britische Comedian und „The Office“-Erfinder Ricky Gervais. Mit der schlechtesten gemeint war der Song „I Don‘t Feel Hate“ des 26jährigen Musical-Darstellers Jendrik Sigwart, der für Deutschland ins Rennen um den European Song Contest ESC 2021 in der Ahoy Arena Rotterdam ging. Der laut ESC-Kommentator-Legende Peter Urban „Wirbelwind gegen Hassbotschaften im Netz“ war mit Startnummer 15 eingestiegen und beendete den Wettbewerb auf dem vorletzten Platz 25.


Die nationalen Jurys gaben Sigwart gerade drei magere Punkte - zwei aus Österreich und ein Zähler aus Rumänien. Die Publikumsjurys dagegen verteilten gar keinen Punkt. Nun könnte man einwenden, dass das Schlechteste aus Deutschland immer noch besser als der britische ESC-Beitrag ist: James Newman bekam noch weniger Punkte, nämlich null. Allerdings schien der Tenor der deutschen Mainstreampresse – mit wenigen Ausnahmen wie etwa der BZ – eher an eine Sprachregelung zu gemahnen, die aus DDR-Zeiten noch sattsam bekannt ist und so lauten könnte: Bei starker internationaler Konkurrenz errang er eine hervorragende Platzierung zwischen Spanien und Großbritannien.


Der Vorgang passt einerseits in die deutsche ESC-Historie: Bei den letzten sechs Song Contests war Deutschland zweimal Letzter und dreimal Vorletzter (und einmal Vierter: 2018 mit Michael Schulte) – obwohl wir allein 2019 dafür 405.100 Euro leisteten und darum auch vom Vorausscheid befreit sind; mit dem wäre es wohl noch blamabler geworden. Finalsieger Italien erreichte hingegen in den letzten zehn Jahren sieben Top 10 Plätze. In den vergangenen 25 Jahren schaffte es Deutschland fast immer nur dann in die Top 10, wenn Stefan Raab als Produzent, Komponist, Castingshowmacher oder gar Interpret („Wadde hadde dudde da“) beteiligt war: Man denke an Guildo Horn 1998, Max Mutzke 2004 oder Roman Lob 2012. Der größte Triumph ereignete sich 2010, als Raab als Initiator, Produzent und Jurypräsident der ARD-Castingshow Unser Star für Oslo die junge Lena entdeckte, die mit ihrem „Satellite“ den zweiten Sieg für Deutschland überhaupt holte - nach Nicoles „Ein bisschen Frieden“.


Der Vorgang verweist andererseits auf den Trend der zunehmenden, teilweise infantilen Ideologisierung und Funktionalisierung selbst der Musik: Während nur Tage vorher Heino die Bewerbung eines Konzerts als „Deutscher Liederabend“ verweigert werden sollte, die Rostocker Bürgerschaft ein Konzert von Xavier Naidoo verbat und die Musik von Bach und Beethoven im angloamerikanischen Raum immer öfter zum Stellvertreter von Rassismus erklärt und zugleich „klassische“ Musik Nichtweißer eingefordert wird, darf ein völlig unbekannter „Künstler“ mit überschaubarem Talent, einem Textgewitter in Moraldenglisch und einer Kindergeburtstags-Kirmes-Musik Deutschland vor einem europäischen Millionenpublikum der Lächerlichkeit preisgeben.



schlüssige Inszenierung mit einer wichtigen Botschaft“


Denn das in jeder Hinsicht überfröhliche Lied erwies sich „als ultraoptimistisches Bekenntnis gegen ‚Hater‘ und die Feinde einer multidiversen Gesellschaft“ als überfrachtet, musste selbst Jan Feddersen in der taz zugeben. Man kann auch den diplomatischen Duktus verlassen: Ungeachtet seiner Platzierung hat der Song den aktuellen Zustand des Landes, das er vertrat, perfekt dargestellt - naiv, peinlich, überheblich und voller Dekadenz, aber Hauptsache gut gelaunt und hundertprozentig politisch korrekt. „Dass man Hass nicht mit Hass bekämpfen soll“, beschrieb Sigwart seine Intention. „Wenn jemand scheiße zu dir ist, sei nicht scheiße zurück.“ Propagiert wird also, nimmt man es mal biblisch, das wohl bekannteste Zitat aus der Bergpredigt: „Wer euch auf die rechte Wange schlägt, dem haltet auch die andere hin.“


Damit konnte das übergroße Kind in schrillen Klamotten nur als Fremdkörper wahrgenommen werden zwischen lauter Künstlern, die das, was sie taten, eben nicht ironisch und lustig meinten. Die dem Publikum Tiefe und Komplexität zumuteten – und dafür auch belohnt wurden, etwa Frankreich mit einem wunderbaren Chanson auf Platz zwei. Die Fremdwirkung vermittelte sich auch noch durch eine der tanzenden, grotesk verkleideten Begleiterinnen auf der Bühne, die in einem Hand-Kostüm steckte, das zeitweise als Peace-Zeichen betrachtet werden konnte - aber viel öfter als ausgestreckter Mittelfinger. „Die Schwerkraft ließ einen der beiden am Kostüm befestigten Finger des Peace-Zeichens abknicken“ analysiert die Welt die physikalische Seite des Malheurs. „Deutschland zeigt der Welt vier Minuten lang den Stinkefinger“, kommentierten internationale Presseorgane ‚die teutonische Komik des Moments‘, ergötzte sich Dirk Maxeiner auf achgut.


Sigwart selbst wirkte mit seinem Gepfeife und seiner Ukulele, über die er übrigens seine Bachelorarbeit geschrieben hatte, wie „ein Eichhörnchen auf Speed“, wie ein Facebook-Kommentator sarkastisch anmerkte, und erinnerte vom musikalischen Niveau an „Schni, Schna, Schnappi“. „Ich habe häufig gehört, dass Menschen die Message des Songs gut finden. Es gibt Fans, die mir geschrieben haben, dass ihnen das Lied Kraft gegeben hat und sie dadurch wieder gelernt haben, sich selbst zu lieben“, erklärt der homosexuelle Sigwart im Tagesspiegel. Offenbar hat ihm bis zum Auftrittsabend niemand erklärt, dass es sich um den ESC handelt, und nicht um den CSD, den Christopher-Street-Day, auf dem die queere Szene sich einmal im Jahr feiert.

Apropos Kraft: Ebenfalls niemand kam auf die Idee, die Botschaft des Liedes zu hinterfragen, die da „Ich fühle keinen Hass“ lautet. Abgesehen davon, dass sie auf Englisch verkündet wurde – schließlich wollen wir ja in Europa siegen und uns weltoffen geben – hätte ein Ausflug in die Emotionspsychologie gereicht, um sie als Unsinn, als gewollt statt gefühlt, zu entlarven. Alle Gefühle gehen durch das limbische System und rufen damit kognitive ebenso wie physiologische Reaktionen in Form etwa von Puls- und Herzschlag, Mimik, Atmung oder Hauttemperatur hervor. Wenn wir auch nur ein Gefühl nicht fühlen wollen und es versuchen abzuwehren, können wir alle anderen Gefühle ebenfalls nicht mehr wirklich fühlen: Wer sich weigert, Wut, Angst oder eben Hass zuzulassen, ist irgendwann auch nicht echten lebendigen Glücks mehr fähig.


Widerstand gegen ein inneres Gefühl zu leisten ist sinnlos und bewirkt im Endeffekt das Gegenteil, nämlich ein schwaches Selbstwertverständnis, das lediglich auf verstärkte Außendarstellung setzt: „Krafträuber sind weniger die unangenehmen Gefühle als unser Denken dazu, das dazu führt, dass wir den Gefühlen anhaften“, schreiben Elke Eberts und Stefan Ruhl im Krankenhausberater. Wir können nur durch das bewusste Wahrnehmen einer Situation, und zwar ohne diese zu bewerten, aus diesem Dilemma aussteigen und inneren Frieden finden: „Wenn Menschen ihren Emotionen gegenüber sehr kritisch eingestellt sind, leiden sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit darunter“, so die kanadische Therapeutin Brett Ford in Psychologie heute. Was verschwiegen wird, verschwindet nicht.


„Es war ein so toller Auftritt“, beharrte Urban in seinem Kommentar, er sei „bunt, schrill und sympathisch“ gewesen. Der Titel sei wohl zu schwierig und nicht verständlich für das europäische Publikum, mutmaßt er dann in völliger Realitätsverweigerung. Wie bitte? Deutschland wird also nicht verstanden in Europa? Das muss man ein Weilchen sacken lassen. Der ESC wurde 1956 ins Leben gerufen, um die Länder Europas zusammenzubringen: „Bitte Europa, hasst uns nicht für dieses Lied“, twittert prompt ein Kommentator. Der für den ESC zuständige NDR ließ das Peinlichkeitsfass dann überlaufen. Alexandra Wolfslast, ESC-Delegationschefin, erklärte: „Mein Herz schlägt für den wunderbaren Jendrik und sein Team: Das war ein perfekter Auftritt, eine in sich schlüssige Inszenierung mit einer wichtigen Botschaft. Dass Musik polarisiert und Geschmackssache ist, wussten wir auch. Trotz aller Enttäuschung – Jendrik hat seinen Traum vom ESC mit uns gelebt! Wir sind stolz auf ihn.“ Das ist kein Witz.



„Ich war mit mir zufrieden“


Viele Länder schickten 2021 dieselben Interpreten, die für 2020 vorgesehen gewesen waren. In Deutschland ließ der NDR jedoch in einem mehrstufigen Auswahlverfahren zwei unabhängige Jurys und die Unternehmensberater von Simon-Kucher einen neuen Teilnehmer suchen. Eine „Weltpremiere“ kündigte Wolfslast prompt bei einer digitalen Pressekonferenz Ende Februar an. Fünf sogenannte Songwritingcamps haben die Hamburger in ihrem internen Auswahlverfahren veranstaltet, darunter in Malmö und in England. 160 Lieder haben die teilnehmenden Musiker produziert - was für ein gebührenfinanzierter Aufwand. „Dem NDR fehlt Chuzpe. Denn am Ende können sich die Verantwortlichen bei schlechten Ergebnissen hinter einer 100-köpfigen Fach- und Expertenjury verstecken. Motto: Wir waren‘s nicht“, ärgerte sich Jens Maier im Stern.


„Diese Gremien-Entscheidungen sind nicht gut, um den besten Titel zu finden. So werden keine Hits kreiert!“, weist auch Dieter Bohlen in den Stuttgarter Nachrichten der ARD die Schuld zu. Allerdings: Am Ende gewann mit „I Don‘t Feel Hate“ ein Song, der bereits vorab eingereicht - und im Internet zerrissen worden war. Das bezeichnende Fazit eines ESC-Fans dazu lautete: „Ich habe mir eure Hasstiraden jetzt zwei Tage still angehört. Ihr habt Recht.“ Das Lied habe „das besondere Etwas, da kann man sich wirklich anschnallen“, schwärmte dagegen Wolfslast. Auf die Frage, in welches Genre er das Lied einordnen würde, sagte Sigwart: „Ich habe alles, was ich schön finde, reingepackt. In dem Sinne passt er nicht in ein Genre rein.“


Aus der Wahl spreche „eine Zwei-Drittel-Hoffnung, Leidvermeidung, irgendwie heil durchkommen“, befindet Marlene Knobloch in der Süddeutschen Zeitung. „Aber wer soll für dieses Lied anrufen? Diese Frage scheint sich offenbar niemand gestellt zu haben. Dabei ist sie entscheidend. So groß kann die Corona-Verzweiflung in Europa gar nicht sein, um sich ein Ilse-Werner-Gedächtnis-Lied schön zu hören“, erbost sich Maier. Schon die Buchmacher gaben Warnsignale: Kein Wettunternehmen hatte den deutschen Song auf dem Zettel. Die Chance auf einen Sieg schätzten die Experten mit unter einem Prozent ein. So schlecht war sonst nur Spanien bewertet - das letztlich noch vor uns einkam.

Hinzu kommen Aussagen Sigwarts, die in ihrer Überheblichkeit anfangs offenbar gar nicht wahrgenommen wurden. „Dabei zu sein war mein Traum – und den hab‘ ich geschafft", sagte er schon zur NDR-Pressekonferenz über seine ESC-Teilnahme. Da rücke die Platzierung in Rotterdam in den Hintergrund. Auch im Interview mit t-online hatte er im Vorfeld betont, dass es ihm nicht um den Sieg ginge: „Wenn ich ‚versage‘, dann nur in den Augen anderer. In meinen Augen kann ich nur gewinnen – so oder so.“ Ähnlich im Tagesspiegel: „Ich wäre auch mit dem letzten Platz zufrieden.“ Sein Lebensgefährte Jan Rogler bestärkte ihn am Auftrittstag darin: „Und egal welchen Platz du mit der fabelhaften Crew hinlegst, du hast schon gewonnen! Deine positive Art und deine Message hast du in ganz Europa verbreitet und sie hat bei vielen Tausend Menschen Anklang gefunden! #idontfeelhate ist hoffentlich erst der Anfang einer außergewöhnlichen Reise!“


„Ich war mit mir zufrieden, habe mich sehr wohl gefühlt und war happy. Es war einfach toll, diesen ESC-Vibe gelebt zu haben“, kommentierte der Deutschlandvertreter dann das Ergebnis live und entschuldigte sich für sein „Lallen“: Er sei angetrunken. Auf Instagram meldete er sich dann: „Um ehrlich zu sein, hatte ich schon damit gerechnet, dass das passiert. Aber eine gute Platzierung zu erreichen, war nie der Grund, warum ich am ESC teilnehmen wollte. Aber das wisst ihr alle. Ich wollte teilnehmen, um die Erfahrung persönlich machen zu können - Musik, Kulturen und Gemeinschaft zu feiern.“ Seinen Post beendete er mit den Worten: „Lasst uns dieses neue Kapitel startet“ [sic!]. Die jahrelange Pazifizierung junger Deutscher ist damit perfekt illustriert: Erlebnis statt Ergebnis, so das Credo.


Das Statement erntete fast nur wütende Reaktionen: „Mit dem Ziel nicht zu gewinnen, das muss man den Leuten erstmal erklären“, kommentierte einer; „Der ESC ist doch keine Erlebnisveranstaltung, sondern ein Wettbewerb!“ ein zweiter, „Dann besser verzichten als sowas“ ein dritter. „Man kann es getrost als die Arroganz einer öffentlich-rechtlichen Anstalt benennen, jedes Jahr völlig konsequenzlos einen neuen Verlierer zu produzieren“, ärgert sich Elmar Kraushaar in der BZ. Das einzig positive: Der langjährige ARD-Unterhaltungskoordinator und ESC-Beauftragte Thomas Schreiber hat am 1. Mai einen neuen Job angetreten – als Chef der ARD-Spielfilmproduktionsfirma Degeto. Wenn Sigwart dann noch seine Ankündigung aufgibt, es in ein paar Jahren mit „geilerer Musik“ noch einmal zu versuchen - „Beim nächsten Mal würde ich mit einem Song antreten, wo ich weiß, der würde nicht nur in Deutschland funktionieren, sondern auch international gut ankommen“ - kann es also nur besser werden.



„fachlich und politisch nicht korrekt gewählt“


Die Absurdität dieses Auftritts als individueller Wohlfühlevent und dieses Liedes als gesinnungsethische Weltverbesserungsbotschaft wird noch unterstrichen durch die erst recht absurden Vorgänge rings um „deutsche“ Musik parallel dazu in Deutschland. So wollte der Intendant der Düsseldorfer Tonhalle, Michael Becker, das örtliche Konzert der Tour „HEINO GOES KLASSIK - Ein deutscher Liederabend“ im Herbst nicht wie geplant mit diesem Titel bewerben. Er sei „fachlich und politisch nicht korrekt gewählt“, bezeichne ein „imaginäres Konzertformat“, überdies „tümelt“ er. Und geradezu grotesk ist die Begründung mit einem Antrag von SPD, Grünen und FDP vom März 2019, nach dem man „die Überlassung von Räumen für Veranstaltungen mit rassistischen, antisemitischen, salafistischen, antidemokratischen, sexistischen, gewaltverherrlichenden, oder anderen menschenfeindlichen Inhalten“ ablehne: „Städtische Räume sind kein Ort für Hetze“, heißt es wörtlich. Was das mit Heino, dem Konzert oder gar den Liedern zu tun hat, weiß Becker nicht zu erklären.


Die Idee, dass in deutscher Sprache zur Abendstunde dargebotener und entsprechend beworbener Gesang den Tatbestand der „Hetze“ erfüllt, muss allein als geistige Leistung des Geschäftsführers der Tonhalle gelten: Es geht um Brahms, Beethoven, Schubert, Bach, Mozart. „Ich bin und bleibe ein deutscher Sänger, der deutsche Lieder singt und die deutsche Sprache liebt“, teilte Heino mit. Den Befürchtungen des 82jährigen Sängers, dass Deutschland seine Identität verliert, wenn solches Vorgehen Schule macht, ist unbedingt beizupflichten: Niemand ist ein Hetzer, weil er deutsche Lieder singt. Und „Deutsch“ ist auch kein rechtspopulistisches Wort, sondern Amtssprache dieses Landes. Dann möge Becker auch die Deutsche Bank oder die Deutsche Bahn in seine ebenso nichtige wie politisch korrekte Aufgeregtheit einschließen. Es mutete seltsam an, dass die Tonhalle am 14. Oktober eine „Italienische Nacht“ veranstaltet und bisher niemand dagegen protestierte. Nach Tagen musste Becker dann zurückrudern, der erst frisch gewählte Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU) machte dem Spuk dann ein Ende.


Diesen Schritt ging der Rostocker Bürgermeister Claus Rune Madsen, wenn auch spät, ebenso und legte gegen die Entscheidung seiner Bürgerschaft Widerspruch ein, Xavier Naidoo im Rahmen der „Hin und Weg“-Tour am 22. August 2021 die Stadthalle zu verbieten. Begründet wurde der Beschluss unter anderem mit der Verbindung Naidoos zu Verschwörungstheorien und zu den sogenannten Reichsbürgern. Linke, Grüne und SPD hatten dazu im Stile der einstigen Nationalen Front der DDR einen gemeinsamen Antrag eingereicht, dem die Mehrheit der Bürgschaft folgte. Darin heißt es u.a.: „Er bedient in persönlichen Äußerungen und Texten antisemitische Verschwörungsmythen und schürt rassistische Ressentiments. [...] Die antragstellenden Fraktionen wollen nicht, dass einem Menschen, der solche Ansichten offen und wiederholt artikuliert, eine kommunale Einrichtung für Konzertauftritte zur Verfügung gestellt wird. Ein erneutes Auftrittsangebot würde den Ruf der Stadthalle der Hanse- und Universitätsstadt insgesamt schädigen.“


Die Rostocker Stadtverwaltung sah das genau umgekehrt und äußerte starke rechtliche Bedenken: Öffentliche Einrichtungen wie die Stadthalle seien zur Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes verpflichtet. Bei der Vermietung der Einrichtungen dürfe kein Veranstalter oder Künstler ausgeschlossen werden, weil die religiösen oder politischen Ansichten nicht geteilt werden. Zudem drohe ein Imageverlust für die Stadt, die bei künftigen, ähnlich gelagerten Fällen Gefahr laufe, dass Künstler, die sich öffentlich kritisch äußern, in Rostock nicht willkommen seien. Dem schloss sich Madsen ab. Zu fragen ist, muss man hinzusetzen, ob sich selbst rassistisch verhält, wer dem dunkelhäutigen und bestintegrierten Mannheimer Sänger Auftrittsverbot erteilt. Ihm Rassismus zu unterstellen zeugt von einem erbärmlichen ideologischen Verständnis eines entkernten Begriffs, der wahlweise so gedeutet wird, wie es ins linksgrüne Kalkül passt: Frei nach dem Motto „Wer Rassist ist, bestimme ich“.


Der Widerspruch hat nur aufschiebende Wirkung: Die Bürgerschaft befasst sich bei ihrer nächsten Sitzung erneut mit dem Thema. Sollte sie bei ihrer Meinung bleiben, kann der Fall dem Innenministerium als Kommunalaufsicht vorgelegt werden. Pikant: Die ARD hatte Naidoo 2015 noch angefleht, für Deutschland beim ESC 2016 anzutreten. Nur Stunden später wurde er auf medialen Druck wieder ausgeladen: „In verschwörungstheoretischem Geschwurbel“, so Carolin Gasteiger in der Süddeutschen schon damals, bediene er sich „demokratiefeindlicher und rechtspopulistischer Muster“. In der Debatte fällt auf, dass die Gefahr jugendgefährdender oder extremistischer Inhalte nicht besteht, wenn Künstler dem linken Spektrum angehören oder gar von linken Politikern unterstützt werden, etwa „Feine Sahne Fischfilet“, für die selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) warb.


Meinungs- und Kunstfreiheit gelten aber für jeden Künstler, eine Einflussnahme auf deren Auswahl ist der Beginn eines totalitären Kulturbetriebs und zeugt von einer ideologischen Verblendung, die vor Ausgrenzung und Existenzvernichtung nicht mehr Halt macht. Denn zuvor hatte Naidoo bereits seinen Platz in der Jury der RTL-Castingshow Deutschland sucht den Superstar DSDS verloren. „Ich mach da nicht mit, es kann gar nicht sein, euer Gift kommt in unsere Körper nicht rein“, singt er aktuell mit seiner Band Rapbellion. Wegen dieses Songs, der bei Amazon Platz 1 der Hip-Hop und Rap-Alben belegt, rät jetzt die Stadt Mannheim den Betreibern der SAP Arena zu einer Prüfung, ob sie Naidoo am 9. Oktober wirklich live auftreten lassen wollen – bereits 5.000 Karten dafür sind vorverkauft. Wann eigentlich wurde nach 1990 zuletzt ein Sänger aus politischen Gründen verboten?



„Feindseligkeit gegen klassische Musik“


Und als wäre das alles noch nicht absurd genug, sah sich die Ordinaria des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Heidelberg, Christiane Wiesenfeldt, zu einem bitteren Gastkommentar in der FAZ genötigt, um die „unangenehme ideologische Schlagseite“ zu kritisieren, die die Debatte um die musikalische Tradition aus west- und mitteleuropäischen Meisterwerken getroffen hat. Der auch wissenschaftlich akzeptierte Kanon sei, „und dies oft unreflektiert, zum pauschalen Sinnbild für falsche Realitäten in der Vergangenheit und Gegenwart geworden. Dabei wird nicht mehr zwischen dem von Menschen konstruierten Kanon und seinem künstlerischen Inhalt unterschieden, mit dem Ergebnis, dass eine Feindseligkeit gegen klassische Musik in akademischer Lehre, musikalischer Ausbildung und im Konzertwesen international Fahrt aufnimmt und seltsame Blüten treibt.“

Diese Debatte richtet sich gegen die sogenannte „European Classical Music“, deren Kanon als klingendes Denkmal repressiver Geschichte, als Ergebnis europäischer Kolonialpolitik und deren Dominanz im Musikbetrieb als unzeitgemäß verstanden wird. So fühlte sich Ende Märze Philip Ewell von der University of Oxford dazu berufen, der englischen Boulevardpresse seinen Entschluss mitzuteilen, künftig „less White European“ unterrichten zu wollen. Die neue Selbstevaluation der Musikszene umfasst auch das Hinterfragen didaktischer Praktiken und ihrer Angemessenheit, ärgert sich Wiesenfeldt über Mutmaßungen, „ob das weltweit etablierte Vom-Blatt-Singen in der Chorausbildung als ehedem missionarische und koloniale Praxis nicht abgeschafft werden müsste“.


Das in Oxford behandelte Repertoire würde zu viele Werke „weißer europäischer Komponisten aus der Ära der Sklaverei“ behandeln, hieß es in Dokumenten, aus denen The Sunday Telegraph zitiert. Gemeint sind damit die bekannten Klassiker wie Haydn, Mozart oder Beethoven. In Großbritannien wurde die Sklaverei 1807 abgeschafft, in den USA erst 1865. Sollte man weiterhin komponierte Musik lehren, die „ihre Verbindung zur kolonialistischen Vergangenheit nicht abgelegt habe“, wäre das ein „Schlag ins Gesicht“ für manche Studenten. Künftig solle mehr Wert auf andere Musikformen wie HipHop, Jazz sowie „nicht-eurozentrische Themen“ gelegt werden. Die westliche Kunstmusik und die Notation haben ihre Wurzeln jedoch in der liturgischen Musik des Mittelalters wie den Gregorianischen Gesängen und treten damit allein zeitlich weit früher auf als die Sklaverei in Europa.


Die Doppelstandards der Debatte belegt Wiesenfeldt an Ewells Satz „Music theory is white“, womit er die historischen Protagonisten des Faches ebenso meinte wie ihre Gegenstände. Dass Ewell mit Heinrich Schenker einen jüdischen Musiktheoretiker als „weißen“ Vertreter einer heute unzeitgemäßen Musiktheorie beschrieb, trug ihm sofort den Vorwurf des Antisemitismus ein – ein Zeichen dafür, wie verhärtet die Debatten schon geführt werden, klagt Wiesenfeldt. Angesichts von „Black lives matter“ seien gerade die angloamerikanischen Forderungen der „Dekolonialisierung des musikalischen Kanons, der im Wesentlichen von deutschsprachigen Komponisten stammt, mittlerweile dröhnend geworden, lassen immer neu aufhorchen und, nicht selten, aufschrecken“.


„Wir müssen anerkennen, dass der Kanon nicht gottgegeben ist, sondern ein menschliches Konstrukt“, sagt Ewell der Zeit. „Das Gleiche gilt für die musiktheoretischen Regeln, die etwa aus Bachs Werken abgeleitet wurden. Definiert und geschrieben haben all das weiße Männer, die damit die Deutungsmacht ergriffen haben. Was sie definierten, gilt als ästhetischer Standard für die Musik – und er gilt als überlegen.“ Dies sei, so Ewell, nichts Anderes als „die Definition von white supremacy“. Er verweist auf „Unsichtbare“ wie Chevalier de Saint-Georges, aus dessen Feder sechs Opern, 14 Violinkonzerte und 18 Streichquartette stammen; oder auf John Thomas Douglass, der mit „Virginia’s Ball“ die erste Oper eines schwarzen Amerikaners schrieb, die in den USA aufgeführt wurde.


Je komplexer das Bild des „kolonialen Missbrauchs von Musik“ werde, desto mehr häuften sich Sinnfragen, wozu sie dann überhaupt noch gut sei. Damit aber werde das Terrain finanzieller Ressourcen betreten: „Hat man durch die Dekolonialisierungs-Debatten nicht ein hübsch konsensfähiges Argument an der Hand, die Gelder der klassischen Kulturförderung in andere Bedarfe umzulenken?“, fragt Wiesenfeldt und zitiert den Komponisten Nebal Maysaud, der erklärte, er möge Beethoven gern, aber die Förderpolitik sei ungerecht, weil er als junger farbiger Komponist zu kurz komme. Übersetzt: Leistung war gestern, Können ebenso, Zugehörigkeit zur richtigen „Gruppe“ ist heute alles.



Musikethnologie als „Art kolonialer Praxis“


Damit schließen sich gleich zwei Kreise: Der eine zur Identitätspolitik (vgl. https://www.tumult-magazine.net/post/thomas-hartung-armageddon-ums-richtige-deutsch), der andere zur Cancel Culture (https://www.tumult-magazine.net/post/thomas-hartung-aus-dem-w%C3%BCrgegriff-befreien). Wiesenfeldt mutmaßt: „Wäre die 1977 ins All geschossene Raumsonde ‚Voyager‘ noch erreichbar, die von 27 Musikstücken des Planeten Erde dreimal Bach und zweimal Beethoven für extraterrestrische Finder dokumentiert, wäre sie längst von Kanonkritikern wieder zurückgewünscht worden.“ Da sei das Gedankenexperiment erlaubt, wie die Reaktion von Extraterrestriern ausfiele, würde man diese Musikstücke durch die 26 Songs des diesjährigen ESC ersetzen… Oder ist der Austausch der Schuhmanns, Schuberts und Suppès durch quietschbunte Sigwarts der eigentliche Plan?


Das New Yorker Institute for Composer Diversity empfahl also, Konzerte künftig mit bis zu fünfundzwanzig Prozent Musik von weiblichen sowie Komponisten „from underrepresented racial, ethnic, or cultural heritages“ zu besetzen. „Quoten sind auch nur Mittel der Kanonisierung, und was sicher niemandem hilft, ist das Ersetzen eines Kanons durch einen anderen“, erkennt Wiesenfeldt. Denn: „Es wäre fatal, den Rechenfehler zu begehen, erlittene Exklusion mit neuer Exklusion kompensieren zu wollen, denn minus eins plus minus eins ergibt minus zwei und damit zwei Verlierer.“ Doch genau dieser Rechenfehler bestimmte dann die natürlich auch nach Deutschland herübergeschwappte Debatte.


Gaby Reucher beklagte zunächst auf DW: „Kenntnisse zur Musik moderner nigerianischer Komponisten wie Joshua Uzoigwe und Olufęlá Şowándé oder über den indischen Hofmusiker Tansen aus dem 16. Jahrhundert werden in den Musikhochschulen weder abgefragt noch vermittelt.“ Sie verweist dann auf die UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005, die auch die Bundesregierung unterzeichnet hat. Der Generalsekretär des Deutschen Musikrats Christian Höppner, lobt sie dann, setze sich dafür ein, dass etwa Flüchtlingskinder aus Syrien sowohl Zugang zur westlichen Musiktradition bekommen als auch die Musik ihrer Heimat ausüben können: „Das ist ein ungeheurer Reichtum, der da an uns vorbeigeht, und letztendlich entspricht das auch nicht der soziodemografischen Zusammensetzung in unserer Bevölkerung“, lässt sich Höppner auf DW zitieren.


Zwar findet er es indiskutabel, vergangene Musikepochen als koloniales Erbe anzusehen, das „zurückgefahren“ werden müsse. Doch für die Musikpublizistin Julia Gerlach ist es „eine Art kolonialer Praxis“, wenn einige Hochschulen in Deutschland „Musikethnologie“ anbieten und damit das Fach und die europäische Musik trennen. Es habe sich schon viel geändert, aber es sei immer der Blick des Europäers, der sich eine Musiktradition anschaut, ihre Musik transkribiert und dann in Archiven aufbewahrt. Die Akademie der Künste diskutierte auf einem Symposium zur Dekolonialisierung der zeitgenössischen europäischen Musik bereits die Frage, warum heute noch klassische Musik als „kultivierter“ empfunden wird als indische Kunstmusik? „Das fängt schon damit an, dass man die Musik von Komponisten aus Indien oder Südamerika gar nicht als zeitgenössische Musik sieht, sondern als traditionelle Musik“, sagt Gerlach auf DW.

„Bis heute sind im Kanon die Lebensrealitäten von Nichtmännern und Nichtweißen kaum sichtbar“, dekretiert Hannah Schmidt in der Zeit. Also sei denen eine Bühne zu geben, die „aufgrund diskriminierender Strukturen bis heute weitgehend stumm“ geblieben sind, und „damit die klassische Musik in ihrem eigentlichen Reichtum abzubilden“. Das bedeutet für sie: „Im Musikwissenschaftsstudium würden in den Einführungskursen nicht nur Analysen von Bachs Chorälen die Theorie prägen, sondern auch von George Russells Lydian Chromatic Concept und von Valentina Kholopovas Rhythmustheorien, von indischem Raga und türkischem Maqam. Die Professuren wären diverser besetzt…“



fremde Einflüsse als kulturelle Aneignung?


Abgesehen von der Überfrachtung der Studienpläne, blendet diese kunterbunte Welt nicht nur hunderte weiße Komponisten aus, die kaum erwähnt und unbekannt sind, sondern auch, dass eben nicht nur alte weiße Männer kanonisiert sind: Schubert, Mozart und Mendelssohn waren alle unter 40, als sie starben. Dann ist es nur noch ein Schritt bis zum Vorwurf, dass fremde Einflüsse umgekehrt als kulturelle Aneignung begriffen werden müssten: Wer dürfte da noch Gitarre oder gar Ukulele spielen, sind sie doch allesamt aus Nabla bzw. Oud hervorgegangen… Und welche asiatischen Klavierkonzerte hat eigentlich Lang Lang im Repertoire?


Zu konstatieren sind im Spätfrühling 2021 hierzulande also mindestens zwei musikpolitische Grotesken. Bekannte deutsche Interpreten werden wegen ihres traditionell deutschen Repertoires beschimpft oder wegen ihrer Gesellschaftskritik an Deutschland mit Auftrittsverboten belegt. Unbekannte deutsche Interpreten dürfen dagegen als infantile Ichlinge ihr Land mit englisch gesungenem Gesinnungstralala blamieren, für das auch noch Fernsehgebühren verschwendet wurden. Bekannte traditionelle deutsche Komponisten werden wegen ihres Wirkens zu Zeiten der Sklaverei als Vertreter einer weißen kolonialistischen Vergangenheit musikalisch in Frage gestellt und aus ersten Studienplänen getilgt. Unbekannte internationale Komponisten werden dagegen politisch erhoben und ihr künstlerischer Rang ohne ästhetisch-emotionale, kulturtradierte Basis in Medien und Bildungsinstitutionen mit dem Versuch ihrer Kanonisierung aufgewertet.


Spätestens damit aber verfestigen sich Tendenzen der Abwertung/Ausgrenzung bei paralleler Gleichmacherei. Das australische Multitalent Nick Cave („Bad Seeds“) befindet im Online-Magazin Alias, dass Kreativität als „Akt der Liebe … bis an unsere grundlegendsten Überzeugungen heranreichen kann und so neue Wege hervorbringt, die Welt zu sehen. Eine Kraft, die ihren Sinn in einer Absage an solche schwierigen Ideen findet, behindert den kreativen Geist der Gesellschaft und greift das komplexe und vielfältige Wesen ihrer Kultur an.“ Er konstatiert eine Kultur im Umbruch: Es könne sein, „dass wir uns auf eine gleichberechtigtere Gesellschaft zubewegen – ich weiß es nicht. Aber welche essenziellen Werte werden wir im Zuge dessen aufgeben?“


P.S. Die ästhetischen Absurditäten erreichten Ende Mai mit dem Finale von Heidi Klums Casting-Format Germany's Next Topmodel GNTM (Pro 7) den vorläufigen Höhepunkt. Da gewann nämlich die 23-jährige Kölner Studentin Alex Mariah Peter gegen 17.000 Bewerberinnen - als Transgenderfrau: Sie war einst ein Mann und wollte nach ihrem Sieg „erst mal ‘n Schnitzel essen“. Zuvor hatten Aktivistinnen halbnackt vor der Senderzentrale gegen die Show demonstriert – mit Bannern wie „Körpernormen überwinden“. Dabei hatte der Sender selbst die aktuelle Staffel unter das Motto „Diversity“ gestellt, weil die Konzentration auf „dünne, weiße Personen“ nicht mehr dem Zeitgeist entspreche. Damit ist aktuell eine dritte Groteske perfekt: Genderfluide Wesen dürfen politisch korrekte Model-Wettbewerbe gewinnen, während echte (gutaussehende) Frauen diskriminiert und bewusst nach hinten gewertet werden. Es steht zu befürchten, dass auf uns noch weitere Grotesken zukommen.




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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.




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