Thomas Hartung: DAS LANGE, TRÜGERISCHE LÄCHELN
- vor 19 Stunden
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Der Westen stirbt, der Osten triumphiert – so lauten mit Rekurs auf Spengler die jüngsten Befunde kritischer Essayisten. Berechtigter Fatalismus? Dekadenter Optimismus? Eine Bestandsaufnahme.

Der Westen stirbt. Nicht mit einem dramatischen Knall wie die totgebombte barocke Dresdner Frauenkirche vor 80 Jahren, sondern mit langem, trügerischem Lächeln, das das Elend der Selbsttäuschung verhüllt. Oswald Spengler beschrieb in seinem epochalen „Untergang des Abendlandes“ den unausweichlichen Kreislauf der Kulturen: Aufstieg, Blüte, Alter, Verfall. Heute, in einer Zeit globaler Umbrüche, erscheint seine Diagnose so schmerzhaft aktuell, dass offenbar unabhängig voneinander verschiedene Publizisten ihrem Unbehagen darob größeren Raum geben.
Da war zunächst Andre Knips, der diesen Prozess hier auf TUMULT einen „verfallenden Kathedralenbau“ nannte – eine Zivilisation, die sich selbst nicht mehr zutraut, was sie einst auszeichnete. Eine Zivilisation, die ihre eigene Schöpfungskraft verloren hat und nur noch die Fassaden ihrer Vergangenheit poliert. Und da war parallel dazu der Franzose Philippe Dessertine, der in der Welt den „historischen Zyklus“ des Westens für beendet erklärte und eine nüchterne wirtschaftliche Perspektive lieferte, die Spenglers kulturelle Vision ergänzt.
Das tertium comparationis beider Texte, wie im Folgenden erarbeitet werden soll, ist die Interpretation von Erscheinungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als Indikatoren für den Übergang von einer lebendigen Kultur im Sinne Spenglers zu einer erstarrten Zivilisation. Nur erwähnt sei, dass Marc Saxer, der Leiter des Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung für Regionale Zusammenarbeit in Asien, unter dem Titel „Abschied vom Hegemon“ das aktuelle Cicero-Titelthema schreiben durfte – das sich allerdings abstrakter dem Kollaps der Deutungsmacht liberaler Normen und Institutionen angesichts „der Erosion der westlichen Dominanz“ widmet und hier unberücksichtigt bleibt.
Der Verfall des Westens beginnt im Geist. Dessertine konstatiert eine „tiefe Skepsis gegenüber der Zukunft“, die sich in einer kollektiven Unfähigkeit zeigt, neue Visionen zu entwickeln. Die westlichen Eliten, so der Sorbonne-Ökonom, flüchteten sich in die Selbstverteidigung ihrer Privilegien, in ein aristokratisches Beharren, statt den Mut zur Erneuerung aufzubringen. Spengler hätte dies als „caesarische Stagnation“ bezeichnet – eine Phase, in der Machtstrukturen erstarren und der Wille zur Schöpfung erlischt.
Dessertine beschreibt diese Haltung als „Versuchung, sich abzuschotten“: Der Westen zieht sich in eine defensive Haltung zurück, nicht um sich zu reformieren, sondern um den Status quo zu bewahren. Diese Abschottung zeigt sich vor allem in protektionistischen Handelskriegen und in einer Politik, die Innovation durch Bürokratie erstickt. Knips formuliert schärfer: „Der Westen verwaltet seinen Untergang, statt ihn zu überwinden.“ Es ist eine Dekadenz der Vernunft, die nicht mehr nach vorne blickt, sondern in der Nostalgie einer vergangenen Größe verharrt.
Westliche Tugendrhetorik
Dessertine nennt vier gleichzeitige Umbrüche, die den Westen in die Knie zwingen: die Klimapolitik (über deren Modi mag man streiten), die Aszendenz Asiens, die Schuldenberge und die demografische Überalterung. In Spenglers Begrifflichkeit sind dies Symptome des biologischen Alterns einer Kultur – der Verlust ihrer organischen Energie, während fremde Kulturen wie Asien in jugendlicher Vitalität aufblühen und triumphieren. „Asien wird dynamisch, während Europa erstarrt“, schreibt Dessertine und verweist auf die wirtschaftliche und technologische Überholung durch Länder wie China und Indien. Zwischen 2000 und 2020 wuchs Chinas BIP von 1,2 Billionen auf über 14,7 Billionen US-Dollar, während Europa und die USA mit stagnierenden Wachstumsraten kämpfen.
Dieses sinozentrierte Szenario entwirft, als eines unter dreien, auch Thomas Assheuer in der Zeit, dessen linksliberale Durchhaltepropaganda „Was macht den Westen aus?“ hier nur randständig berücksichtigt wird, obwohl sie formal in die Reihe mit Knips und Dessertine gestellt werden könnte – allerdings unter reziproker ideologischer Perspektive, steht Assheuer doch für die „Idee des Westens als normatives Projekt“ seit der „Atlantik-Charta“ 1941 von Churchill und Roosevelt. Aber wer den Westen “normativ” begreift, hat ihn nie begriffen. Assheuer hält für möglich, zweites Szenario, dass der Traum von der „One World“, die „ihre brennendsten Probleme gemeinsam löst“, nach Trumps Verschwinden wieder Oberwasser erhält. Denn „der Westen sagt Menschheit und will nicht betrügen”. Carl Schmitt dreht sich im Grabe um.
Sollte sich Europa nach Trump, drittes Szenario, nicht wieder mit den USA zusammenraufen, wird es eigene Wege gehen, „zum Museum des Westens“ werden und im „staubigen Archiv des europäischen Humanismus“ verschwinden. Darüber mag man ein Weilchen nachsinnen. In einem Leserbrief gegen Assheuer behauptet dagegen der Tai-Chi-Lehrer Reinhard Koine aus Bad Honnef, der Niedergang des Westens sei eine „herrschaftsstabilisierende Erzählung totalitärer Systeme”. Das kann man nun nicht mal mehr mit Weltfremdheit erklären.
Die Werte, die den Westen einst auszeichneten – individuelle Freiheit, Gleichberechtigung, Respekt vor Schwächeren –, sind laut Dessertine noch immer ein „Exportgut“, das verteidigt werden muss. Doch diese Verteidigung wirkt zunehmend hohl. Knips spricht von einer „westlichen Tugendrhetorik“, die zur „Kulisse einer zivilisatorischen Leiche“ geworden ist. In den Demokratien des Westens werden diese Werte in Sonntagsreden beschworen, während sie in der Praxis durch Cancel Culture, soziale Polarisierung und wirtschaftliche Ungleichheit untergraben werden.
Dessertine verweist auf die wachsende Kluft zwischen den Eliten und der Bevölkerung, die sich in der Erosion des Vertrauens in Institutionen zeigt. In den USA etwa sank das Vertrauen in die Regierung laut Pew Research von 73 % im Jahr 1958 auf unter 20 % im Jahr 2020. Und laut Edelman Trust Barometer 2024 vertrauen nur 43 % der Bürger in westlichen Demokratien ihren Regierungen. Diese Entfremdung ist kein Betriebsunfall, sondern ein Zeichen für den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts, den Spengler als Vorbote des Untergangs sah: „Der vergessene Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu behalten“, orakelte Adorno schon 1950.
Das Drama des Westens spielt sich auf der politischen Bühne als Farce ab. Dessertine beschreibt Donald Trump als „Symbol für die Spaltung Amerikas“, doch diese Spaltung ist nur die Oberfläche einer tieferen Erschöpfung. Knips nennt es eine „politische Komödie“, in der das endlose Gerede über den „Kampf gegen rechts“ oder „Populismus“ von der eigenen Machtlosigkeit ablenkt. Spengler hätte hier von der „Zivilisation“ gesprochen, in der Politik zur bloßen Verwaltung wird, während die großen Visionen fehlen. Der Westen fällt nicht, er entleibt sich selbst – in der Weigerung, noch einmal „zu werden“ statt nur „zu sein“. Auch der Politologe Peter Graf Kielmansegg spricht in seinem Alterswerk von der „postnationalen Selbstentleibung“.
Maschine statt Mythos
Dessertine weist auf die Unfähigkeit westlicher Demokratien hin, globale Herausforderungen wie die technologische Konkurrenz Chinas zu meistern. Stattdessen flüchten sich Politiker in symbolische Kämpfe, die die eigenen Gesellschaften weiter spalten. „Der Westen debattiert sich zu Tode“, lautet Knips‘ lakonischer Befund in der Tradition Carl Schmitts. In einem anderen Onlinetext konstatierte er – auch hier Schmitts Bruder im Geiste, der ja anstelle des parlamentarischen ein System vorschlug, das auf der Einheitlichkeit und der Autorität des Herrschers beruhte – das Fehlen echter Herrscher: „nicht als Funktion, sondern als Form.“ Stattdessen herrschten Funktionäre, Verwaltungsakteure, ja Stimmen einer Partei: „Wir sehen Manager, Medienfiguren, Taktiker. Keiner spricht aus Tiefe, keiner aus Berufung. Man spricht in Talkshows, nicht aus Stille. Man denkt in Umfragen, nicht in Verantwortung. Unsere Politiker sind nicht Träger einer Ordnung. Sie sind Träger einer Agenda. Sie wollen nicht hören, sie wollen gehört werden.“
Spenglers Untergang des Abendlandes ist keine bloße historische Theorie, sondern ein Rahmen, um die Gegenwart zu verstehen. Seine Idee, dass Kulturen wie Organismen einem Lebenszyklus folgen, findet heute Resonanz in der Analyse globaler Machtverschiebungen. Der Westen, einst Träger der industriellen Revolution und der Aufklärung, zeigt Anzeichen des „Alters“: Überalterung der Bevölkerung, Bürokratisierung, Verlust des Glaubens an Fortschritt. Europas Medianalter liegt bei 44 Jahren, das Indiens dagegen bei 28. Laut OECD-Prognose für Deutschland werden 2040 rund 25 % der Bürger über 65 Jahre alt sein.
Diese Vergreisung ist das Fanal einer Kultur, die ihr vitales Fundament – Geburt und Familie – verloren hat. Interessanterweise greifen weder Knips noch Dessertine oder auch Assheuer die Frage auf, ob sich diese Vitalität, wie seit 2015 praktiziert, „von außen“ wiederherstellen ließe. Die Antwort allerdings kann nur „Nein” lauten. Der demographische Wandel ist nicht mit fremden Geburten zu kompensieren, denn ein Volk ist mehr als eine Statistik. Es ist Herkunft, Sprache, Erinnerung, Bindung.
Spenglers Begriff der „Zivilisation“ – die Phase, in der eine Kultur ihre Kreativität verliert und in mechanistische Strukturen erstarrt – spiegelt sich in der westlichen Obsession mit finanziellen Krücken (z. B. Nullzinspolitik) und der Unfähigkeit, neue Narrative zu schaffen. Stattdessen schafft sie neue Schuldenberge und euphemisiert sie als „Sondervermögen”. Die „unermesslichen Gelddruckmaschinen“, die Dessertine kritisiert, sind der ökonomische Pfusch einer Zivilisation, die nur noch auf Pump lebt – fiskalisch durch expansive Geldpolitik, geistig durch den Verlust an Innovationskraft. Spengler hätte dies als genau die Phase gedeutet, in der äußere Formen die innere Substanz ersetzen.
Und nicht zuletzt sah Spengler das technokratische Denken als Zeichen des Altersstadiums – „Maschine statt Mythos“. KI-Entwicklung oder digitale Kontrolle wie die geplante Bildungs-ID oder gar das Social Scoring, wie es in den Bereichen Versicherung und Kreditvergabe hierzulande schon praktiziert wird, erscheinen dann als Ausdruck einer letzten Technisierung, die zugleich das Ende der schöpferischen Kultur markiert. Algorithmen statt Ideale, Datenflüsse statt Ideen – das ist die technokratische Grableuchte eines Westens, der alles verwalten, aber nichts mehr gestalten kann.
Da mutet es seltsam ehrlich an, dass Ex-Grünenchefin Ricarda Lang jüngst in einem Interview auf web.de zugab: „Politik muss mehr sein als die Verwaltung von Verlusten", und dass Politik sich „manchmal ihre eigene Inszenierung der Machtlosigkeit" schafft. Spenglers Theorie fordert dazu auf, die eigene Zeit, so lange es geht, mit Klarheit zu betrachten. Heute könnte dies bedeuten, die Stärken des Westens – etwa seine wissenschaftliche Tradition oder seine Fähigkeit zur Selbstkritik, die auch der deutsche Historiker Heinrich August Winkler betont – neu zu beleben, statt sich in Nostalgie, Selbstbespiegelung und Fatalismus zu verlieren.
Spenglers Relevanz liegt in seiner Mahnung, dass Kulturen nicht an äußeren Feinden, sondern – auch und gerade mangels Selbstkritik und geschwundenem Veränderungswille – an innerer Lähmung sterben. Ein Indiz: Laut Kriminalstatistik ist die Zahl jugendlicher Gewalttäter in Deutschland von 20.220 (2015) auf 31.383 (2024) gestiegen. Spenglers These zeigt sich in den Klassenzimmern, wo Lehrkräfte mit Angst unterrichten und migrantische Clans eigene Reviere abstecken, sowie in den Freibädern, wo „Respekt“ mit Pommes „frittikettiert“ werden soll. Es ist ein Untergang, der nicht von außen kommt, sondern aus der inneren Entleerung einer Kultur, die sich ihrer Werte schämt und ihre Autorität aufgibt, ja ihre Nationalflagge inzwischen als potentielle Beleidigung von Migranten interpretiert.
Labyrinth der Selbstbespiegelung
Diese allgemeine Lähmung des Westens war zuvor schon mehrfach diagnostiziert worden. Zuletzt befand Harald Martenstein in der Welt, dass sich der Westen kaum noch gegen seine Feinde wehrt, „denn er glaubt nicht mehr an sich selbst“. Die wichtigste Tugend der Gesellschaft sei inzwischen „die Anpassung und weder der Mut noch der Leistungswille.“ Der französische Historiker Emmanuel Todd identifizierte in „Der Westen im Niedergang“ (2024) als wesentliche Ursachen dafür einen Rückgang des Bildungsniveaus in westlichen Ländern sowie das Verschwinden des Christentums als moralisches Rückgrat, das einen Verlust an gesellschaftlicher Kohäsion nach sich zieht.
Einerseits brachte der Pisa-Schock 2022 an den Tag, wo Deutschland und andere westliche Länder gegenüber asiatischen liegen – ein Menetekel für uns, die wir uns immer noch für ein Bildungsland halten. Diese Krise ist keine Frage von Lehrplänen, sondern von kulturellem Willen. Denn Bildung ist nicht nur Wissenstransfer, sondern Weltdeutung, das Einüben von Formen und Mythen. Heute dagegen erleben wir eine „marktwidrige Pseudo-Akademisierung”, wie Ex-Lehrerverbandspräsident Josef Kraus Mitte Juni in der Welt beklagte. Quote statt Qualität ist angesagt. Das Abitur ist immer seltener ein Attest für Studierbefähigung, sondern allenfalls für Studierberechtigung: „Die Herzkammer Abitur hypertrophiert, die Herzkammer Berufsbildung atrophiert.”
Anderseits besuchen nur 20 % der Bürger regelmäßig Gottesdienste. Europa ist entkirchlicht; während in China, Indien oder den islamischen Ländern Religion, Spiritualität, ja metaphysische Sinnstiftung florieren. Indien lebt einen hinduistisch geprägten Sakralnationalismus, Chinas Legitimationsquelle ist der Konfuzianismus. Der Westen hingegen hat seinen Gott in moralische Ersatzreligionen exportiert – Gender, Klima, Diversität. Doch diese Surrogate nähren nicht, sie lähmen. Aber eine Kultur, die sich in „Vielfalt“ und „Wokeness“ verliert, hat ihren inneren Kompass nicht nur verloren, sondern bewusst auf die Müllkippe der Historie geworfen.
Winkler konstatierte in „Zerbricht der Westen?“ (2017) eine politische Instabilität sowie einen massiven Vertrauensverlust, der sich als schwindender Glaube der Bürger in die Fähigkeit demokratischer Institutionen manifestiert, effektive Lösungen für komplexe Probleme zu bieten. Der britische Historiker Niall Ferguson warnte in „Der Westen und der Rest der Welt“ (2011), dass dieser Westen seine eigenen Erfolgsrezepte – Wettbewerb, Wissenschaft und Arbeitsethos – vernachlässigt. Da mag man fast noch neidvoll nach Italien blicken, wo Art. 1. der Verfassung sagt: „Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik.”
Dessertine setzt eine vorsichtige Hoffnung auf Europas Universitäten, die er als „einzigartigen Vorteil“ des Westens bezeichnet. Ihre globale Vernetzung und intellektuelle Tradition könnten, so seine These, eine Grundlage für Erneuerung bieten. Doch dieser Optimismus wirkt fragil, wenn der innere Wille erloschen ist. Spengler hätte hier eingewendet, dass die Spätzeit einer Kultur stets von „gelehrtem Gerede“ geprägt ist, das sich für Weltgeist hält, aber keine schöpferische Kraft mehr entfaltet. Knips geht noch weiter: Die akademische Welt des Westens ist ein „Labyrinth der Selbstbespiegelung“, das weniger Lösungen als Symptome produziert.
Veränderung ist Pflicht
Universitäten, einst Zentren der Innovation, sind heute oft in ideologischen Debatten und bürokratischer Selbstverwaltung gefangen. Wenn es hierzulande inzwischen ein „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit” braucht, um das Bewusstsein für die Bedeutung der freien und kontroversen Debatte und einer von Argumenten getragenen Streitkultur in allen Wissenschaftsbereichen zu stärken und gegen zunehmende moralisch-politische Einengungen zu kämpfen – was sagt das über den Pluralismus von Forschungsfragen, Forschungsansätzen und Forschungsmethoden aus; und was über die Begrenzung von Debattenräumen? Die Vernetzung, die Dessertine preist, droht zur digitalen Echokammer zu werden, in der der progressivistische Westen seine längst verlorene Bedeutung feiert, während die Welt weiterzieht.
Was bleibt? Dessertine fordert: „Veränderung ist Pflicht.“ Doch diese Veränderung erfordert mehr als politische Reformen oder wirtschaftliche Anpassungen. Knips formuliert es drastisch: „Wer heute nicht sieht, dass wir am Rande einer neuen Weltordnung tanzen, wird morgen vom Orchestergraben verschluckt.“ Spenglers Bild der Kultur als Organismus wird zur Warnung: Eine Zivilisation, die ihre Lebensgesetze leugnet, stirbt an innerer Lähmung. Der Westen steht vor der Herausforderung, seine Werte nicht nur zu predigen, sondern zu leben – oder er wird von dynamischeren Kulturen überholt, allen voran jenen aus Asien, weil sie, wie Dessertine betont, „keine Angst vor der Zukunft haben“.
Während der Westen seine kulturelle Substanz verspielt, formiert sich im Osten ein neuer Vitalismus. Der Aufstieg Chinas mit seiner Belt-and-Road-Initiative, die BRICS-Erweiterung, der globale Süden als neue Achse: Hier zeigt sich, was Spengler als „frisches Blut“ bezeichnete. Nicht aus Tradition, sondern aus dem Willen zur Macht schöpfen diese Zivilisationen ihre Dynamik. Sie machen Front gegen einen Westen, der sich nur noch in moralischer Selbstüberhebung gefällt. In Putins Imperiumsdenken, in Xi Jinpings globalem Ehrgeiz, ja selbst in Trumps Agieren spiegelt sich die Gewissheit, dass Geschichte nicht verhandelt, sondern erzwungen wird. „Der Krieg ist die Urpolitik alles Lebendigen“, schrieb Spengler. „Das Leben ist hart, wenn es groß sein soll. Es lässt nur die Wahl zwischen Sieg und Niederlage, nicht zwischen Krieg und Frieden.“
Der „Untergang des Abendlandes“ gemahnt beharrlich an die mephistophelische Weisheit, dass alles, was entsteht, wert ist, dass es untergeht. Der Untergang des Westens ist kein Makel, sondern eine Gelegenheit zur Klarheit. Spengler sah im Untergang eine Form von Größe – die Würde, die aus der Erkenntnis des eigenen Schicksals erwächst: Wer an eine dauerhafte Zukunft des Okzidents glaubt, ist für die Wahrheit zu ängstlich. Knips endet in diesem Geist: „Das Ziel ist nicht, das Unvermeidliche zu verhindern, sondern es zu verstehen. Und sich nicht länger selbst zu belügen.“ Der Westen stirbt – doch in diesem Sterben liegt die Chance, sich zu erinnern, was er war: eine Zivilisation der Schöpfung, der Freiheit, der Vernunft. Nur wer diese Wurzeln wiederfindet, vielleicht unsere Ururenkel, kann hoffen, in einer neuen Weltordnung nicht nur Zuschauer, sondern Gestalter zu sein – oder in den Strudeln der Geschichte unterzugehen.
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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