Thomas Hartung: DIE GESCHÄNDETE RICHTERWAHL
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Die Causa Brosius-Gersdorf sagt alles über die Abgründe parlamentarischer Intrige, den Zerfall überparteilicher Kultur und die drohende Aushöhlung der verfassungsrichterlichen Autorität der BRD.
Was am 11. Juli 2025 im Bundestag geschah, war keine bloße Abstimmungsverzögerung – es war ein Fanal. Die geplante Wahl von drei Verfassungsrichtern – Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold (beide SPD) sowie Günter Spinner (CDU) – scheiterte spektakulär an der Eskalation parteipolitischer Grabenkämpfe. Der Bundestag, das Hohe Haus der Republik, entpuppte sich als Kulisse einer schlechten Tragikomödie, in der nichts mehr gewiss, aber alles kalkuliert ist. Dieser Vorgang legt den Finger in die offene Wunde eines tiefgreifenden Systemversagens: Das Bundesverfassungsgericht, einst parteiübergreifend sakrale Institution, wird zur Projektionsfläche ideologischer Fehden – und damit politisch kontaminiert.

Geplant war die Wahl im Konsens der Großen Koalition aus Union und SPD mit Stimmen von Linksgrün. Doch kurz vor der Abstimmung zog die CDU/CSU-Fraktion ihren Antrag überraschend zurück – mit Verweis auf Plagiatsvorwürfe gegen Frauke Brosius-Gersdorf. Der renommierte Plagiatsjäger Stefan Weber hatte auffällige Textüberschneidungen zwischen ihrer Dissertation von 1997 und der Habilitation ihres Ehemannes von 1998 festgestellt. Sein Verdacht: eine nicht deklarierte Kollaboration oder ein unzulässiger Wissenstransfer mit unklarer Urheberschaft. Die Union zog die Reißleine – in letzter Minute, öffentlichkeitswirksam und mit kalkulierter Sprengkraft.
Was folgte, war ein orchestrierter Eklat. Dirk Wiese, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, sprach von einer „Hetzkampagne gegen eine hochangesehene Staatsrechtslehrerin“ und warnte vor einem „verheerenden Zeichen für unsere demokratische Kultur“. Die Grünen erklärten die Vorgänge zu einem „Desaster für Merz und Spahn“, während die Union sich als Hüterin der Integrität gerierte. Inmitten dieser Kakophonie juristischer, moralischer und politischer Zuschreibungen versank das eigentliche Ziel – die Gewährleistung überparteilicher richterlicher Qualität – im parteitaktischen Schlamm.
Jens Spahn und Friedrich Merz hatten versucht, in einem plumpen Sommerpausen-Trick die Kandidaten durch den Bundestag zu schleusen, darunter die ultralinke SPD-Juristin Brosius-Gersdorf. Doch der alte CDU-Trick „Freitag vor Ferien“ scheiterte krachend. Die Mehrheit bröckelte, und am Mittwoch brachte Beatrix von Storch mit einer simplen Frage das Kartenhaus zum Einsturz: Ob Merz wirklich eine Richterin mittragen könne, die die Tötung lebensfähiger Kinder im Mutterleib befürworte? Merz’ eiskaltes „Ja“ war ein Faustschlag ins Gesicht aller, die glaubten, die CDU verteidige noch christliche Werte. Selbst die schläfrigen Kirchenvertreter, jahrzehntelang an staatliche Futtertröge gewöhnt, wurden wachgerüttelt. Immer mehr Unionsabgeordnete erklärten hinter verschlossenen Türen, Brosius-Gersdorf nicht mitwählen zu wollen. Nur wenige hatten den Mut, es öffentlich zu sagen.
Ein Gericht im parteipolitischen Fegefeuer
Merz und Spahn setzten auf den erprobten Druckapparat, um Abweichler einzufangen. Doch diesmal rebellierte das christliche Gewissen gegen die Parteipeitsche. In der Nacht vor der Abstimmung wurde klar: Die linke Kandidatin würde an den eigenen Leuten scheitern. Erst da krabbelten Spahn und Merz devot zur SPD, um ein Rückziehen zu erbitten – vergeblich. Am Freitag platzte die Bombe endgültig. Statt eines reibungslosen Durchwinkens kam es zur Sitzungspause, weil die SPD plötzlich Beratungsbedarf anmeldete. Die Union wollte nur Brosius-Gersdorf von der Tagesordnung nehmen, doch die SPD setzte durch, dass alle drei Wahlen verschoben wurden. Merz und Spahn standen blamiert, entzaubert und führungslos da.
Der wahre Skandal liegt nicht im Plagiatsvorwurf, sondern in der Zerstörung der überparteilichen Richterwahlkultur. Seit Jahrzehnten galt die Besetzung der Verfassungsbank als sakrale Handlung über ideologischen Differenzen hinaus. Der demokratische Staat bekannte sich in dieser Praxis zu seiner Rechtsstaatlichkeit – und zu seiner Selbstbegrenzung. Diese Zeit ist vorbei. Stattdessen erleben wir einen stillen Putsch der Gesinnung gegen die Funktion. Das Bundesverfassungsgericht wird zunehmend nach parteipolitischen Wunschprofilen besetzt. Politische Nähe zur Ampelregierung gilt inzwischen als Qualifikationsmerkmal, moralische Unangreifbarkeit ersetzt rechtswissenschaftliche Exzellenz. Die Ereignisse des 11. Juli 2025 legen den letzten Rest dieser Tradition in Trümmer.
Frauke Brosius-Gersdorf wurde zur Symbolfigur dieser Krise. Sie steht wie kaum eine andere für den linken Transformationskurs im Verfassungsrecht: Abtreibungs- und Genderrecht, Klimapriorisierung, Pandemienormen, Diskriminierungsdogmatik. Ihre Positionen im Ethikrat und ihre Nähe zu progressiven Narrativen machten sie zur Lieblingsjuristin der rot-grünen Mitte. Dass sie nun mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert wird, ist – so bitter es klingt – fast ironisch. Nicht weniger aufschlussreich ist die Reaktion der SPD: Anstatt Aufklärung zu fordern, beschwichtigt sie, diffamiert Kritiker und inszeniert die Kandidatin als Opfer „rechter Kampagnen“. Juristische Redlichkeit wird durch Gesinnungstreue ersetzt.
Und die ganze Verkommenheit der aktuellen Debatte spiegelten die Grünen. Fraktionschefin Britta Haßelmann kritisierte Merz und Spahn als „dilettantisch“ und forderte tatsächlich eine Sondersitzung in der Sommerpause, um das Verfahren mit denselben Kandidaten fortzusetzen. Zugleich aber attackiert sie den Vorgang als Angriff auf eine Frau – als ob es um das Geschlecht der Kandidatin und nicht ihre problematischen Rechtsauffassungen ginge. In dieselbe Kerbe schlug auch Annalena Baerbock: „Kein Zufall, mit welch diskreditierenden Methoden (erneut) eine hochqualifizierte Frau zu Fall gebracht werden soll”, twitterte sie.
Auf dem Weg zur Gesinnungsjurisdiktion
Das Perfide: Mit Helga Schmid brachte Baerbock selbst eine Top-Diplomatin zu Fall, wie FDP-Urgestein Gerhard Papke schimpfte: „Dass ausgerechnet Frau Baerbock, die eine hochqualifizierte deutsche Diplomatin eiskalt verdrängt hat, um sich als abgewählte Ministerin einen schönen Posten bei der UNO zu verschaffen, jetzt das Schicksal hochqualifizierter Frauen beklagt, ist doch wohl nur ein Witz, oder?” Den Gipfel der Abgefeimtheit bildeten bei der Pressekonferenz der Grünen Katharina Dröge, die am Ende mit purer Schadenfreude und gehässigem Lachen ein „Das wird ihn geheilt haben“ gegen Spahn schießt. Haßelmann drückt zwar noch das Mikrofon herunter, aber man hört es klar und deutlich.
Kann sich jemand erinnern, dass sich jemals die Opposition derart aufgeregt hat und sich fassungslos gab, weil die Regierung eine Abstimmung nicht durchbekam? Es muss doch wirklich für jeden klar werden, dass hier etwas nicht stimmen kann. Dieser „schmutzige Freitag” hat vor allem gezeigt, dass Vertreter linker Parteien ein grundsätzliches Problem mit demokratischen Prozessen haben: Sie akzeptieren sie in Wirklichkeit nur dann, wenn sie die von ihnen gewünschten Ergebnisse liefern. Entscheiden Wähler oder Abgeordnete anders als erwartet, dass ist das ein „Skandal", eine „Verschwörung", eine „Beschädigung des Parlaments". Die Union sollte spätestens jetzt realisieren, dass dies keine Partner sind, sondern Erpresser und Extremisten.
Die politische Radikalisierung des Rechtsstaats wird daneben von einer publizistischen Komplizenschaft begleitet, die kaum noch zwischen Berichterstattung und Meinungspflege unterscheidet. Die ZEIT betonte Brosius-Gersdorfs „wissenschaftliche Reputation“ und beklagte die „Hexenjagd der konservativen Medien“. Die Süddeutsche Zeitung sprach von einem „gefährlichen Einknicken der CDU vor dem rechten Rand“, ohne ein einziges juristisches Argument gegen die Vorwürfe zu liefern. Der Spiegel mutmaßte, die Personalie werde „mutwillig zerstört“, und stilisierte die Debatte zur moralischen Schlammschlacht, während jeder rechtsstaatliche Impuls unter dem Deckmantel des „antifaschistischen Anstands“ erstickte. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten schlossen sich der SPD-Lesart an: Der Rückzieher der Union sei ein Verrat an der „gemeinsamen demokratischen Kultur“. Die vierte Gewalt fungiert längst als Begleitmusik zur herrschenden Gesinnung, nicht mehr als Kontrollinstanz ihrer Exzesse.
Der liberale Rechtsstaat lebt vom Vertrauen in seine Unabhängigkeit – ein kulturelles Kapital, das durch Diskretion, Distanz und Demut entsteht. Dieses Kapital wird heute verspielt. Das Bundesverfassungsgericht, das einst gegen Parteiraison urteilte, wird selbst Teil dieser Raison. Die Bürger erleben keine unvoreingenommenen Wächter der Verfassung mehr, sondern Juristen, deren Parteibücher lesbarer sind als ihre Urteile. Es geht nicht mehr um die Frage, was rechtens ist, sondern was als gerecht empfunden wird – und zwar von den tonangebenden Meinungsmilieus.
Toleranz als neuer Schmittianismus
Was hier sichtbar wird, ist mehr als ein kurzfristiges Versagen – es ist der Systemwandel im Inneren des Rechtsstaats. Die Gewaltenteilung wird zur Schimäre, wenn der Gesetzgeber selbst zum medialen Angreifer auf die richterliche Neutralität wird. Der Bundestag missbraucht seine Verfassungsfunktion für Gesinnungsstrategien. Die politische Justiz ist keine Dystopie mehr – sie ist Regierungspraxis. Bereits in den letzten Jahren mehren sich Anzeichen dafür, dass das Verfassungsgericht Urteile fällt, die politisch gewollt, nicht aber juristisch zwingend sind. Man denke an die Klima-Entscheidung von 2021 oder die Pandemie-Rechtsprechung, bei der Grundrechtseingriffe im Namen der „Solidarität“ abgenickt wurden. Die Richterwahl 2025 markiert den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung: Der Schein der demokratischen Teilhabe dient der Legitimation einer geschlossenen politischen Klasse.
Carl Schmitt beschrieb bereits 1922 die Gefahr, dass das Recht in Momenten politischer Not suspendiert wird – nicht um sich zu retten, sondern um sich umzuwandeln. Seine Unterscheidung von „Freund und Feind“ ist im 21. Jahrhundert internalisiert. Heute entscheidet nicht mehr das Recht, sondern das Richtige; nicht das Verfahren, sondern die Gesinnung. Derjenige, der außerhalb des Mainstreams steht, hat keinen Anspruch auf objektive Verfahrensgarantien – sondern wird moralisch aus dem Diskurs entfernt. Der neue Schmittianismus trägt das Gewand der „Toleranz“.
Ernst-Wolfgang Böckenförde warnte vor einem Staat, der die Bedingungen seiner Existenz selbst unterminiert. Der freiheitliche Rechtsstaat müsse sich auf Voraussetzungen wie Vertrauen, Pluralität und parteiübergreifende Rationalität verlassen, die er nicht erzwingen könne. Wenn dieser Staat jedoch beginnt, jene Voraussetzungen durch moralisch motivierte Personalpolitik zu zerstören, wird seine Substanz porös. Das Bundesverfassungsgericht wird in diesem Prozess nicht Opfer, sondern Mittäter.
Der 11. Juli 2025 wird als Chiffre eines historischen Tabubruchs in die Geschichte des deutschen Parlamentarismus eingehen. An diesem Tag zerschellte der Anspruch eines Staates auf institutionelle Seriosität. Was als überparteiliche Geste verfassungsrechtlicher Verantwortung galt, wurde zur Bühne des moralpolitischen Opportunismus. Die Ablehnung der Richterwahl durch die Union, befeuert durch Plagiatsvorwürfe, war kein Ausdruck staatsbürgerlicher Integrität, sondern ein kalkuliertes Manöver im politisierten Spiel um die Hoheit über das höchste deutsche Gericht.
Ideal des juristischen Ernstes
Die SPD hat ihre Niederlage halbwegs weggesteckt, denn ihr Marsch durch die Institutionen geht weiter. Ihre Strategie, gesellschaftlich radikale Figuren zu platzieren, um das Verfassungsgericht nach links zu verschieben, scheiterte diesmal an einem Rest von Gewissen in der Union, das stärker war als Spahns Apparatschik-Logik. Doch es ist ein Pyrrhussieg, der die SPD nur taktisch bremst, nicht strategisch. Ulrich Reitz hat bei Focus treffend erkannt, dass die SPD ihr Recht, einen Vorschlag zur Richterwahl unterbreiten zu dürfen, schikanös überdehnt hat: Vorschläge haben so formuliert zu sein, dass sie das Gesicht des Adressaten wahren. „Wer Inakzeptables als Kompromiss bezeichnet, boykottiert die Grundlage des Aufeinanderzugehens”.
Für die Union ist das Debakel ein Offenbarungseid. Merz und Spahn wollten mit Brosius-Gersdorf die linke Wählerschaft umgarnen und landeten krachend auf dem Bauch. Die Partei, die angeblich für christliche Werte steht, hat gezeigt, dass sie bereit ist, alles zu opfern – außer ihren Posten. Das moralische Vakuum könnte kaum größer sein. Die Konservativen dürfen diese Entwicklung nicht bloß beklagen – sie müssen Alternativen formulieren. Eine neue rechtsstaatliche Bewegung müsste für die institutionelle Entmoralisierung des Rechts eintreten, den Begriff der Neutralität wiederherstellen und das Ideal des juristischen Ernstes gegen die Leichtigkeit des „sozialethischen Zeitgeists“ setzen.
Denn wenn auch die letzte Instanz nur noch ein Forum von Haltung ist, bleibt dem Bürger nur der Rückzug ins Private oder der Widerstand im Namen der Republik. Wenn das höchste Gericht des Landes nicht mehr durch Recht, sondern durch Rhetorik besetzt wird, wird es nicht mehr bewundert, sondern beobachtet. Die Politisierung der Richterbank ist nicht der Anfang, sondern das Ende der Republik im klassischen Sinne. Was folgt, ist ein System, das durch Gesetz regiert, aber nicht durch Recht gebändigt wird – eine moralpolitische Technokratie mit Robe. Die Frage ist nicht mehr: Wer sitzt in Karlsruhe? Die Frage ist: Wer traut sich noch, diesem Gericht zu widersprechen?
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
Beitragsbild Bundesarchiv, B 145 Bild-F083303-0001 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons
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