Thomas Hartung: DIE GROSSE KARTE UND DAS KLEINE DENKEN
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Die Weltkarte ist kein Orientierungsinstrument mehr, sondern eins zur Verschwörung: Corona-Spalter Christian Vooren will in der Zeit eine scheinheilige globale Einheit herbeikartographieren.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Gegenwart, dass man immer neue Gründe findet, um sich beleidigt zu fühlen. Wo früher der Blick nach außen gerichtet war, um die Welt zu verstehen und ihr Gewicht zu messen, ist er heute nach innen gekehrt, auf das eigene Empfinden. In dieser Logik erscheint nun selbst die Weltkarte nicht mehr als nüchternes Instrument der Orientierung, sondern als koloniale Verschwörung. Der ZEIT-Artikel „Afrikanische Union: Make Afrika groß again!“ von Christian Vooren erhebt die Mercator-Projektion in den Rang eines Unterdrückungsapparats. Was einst den Seeleuten die sichere Fahrt über Ozeane gewährte, soll heute nichts anderes gewesen sein als ein Akt symbolischer Gewalt des Nordens über den Süden.

Seit die Menschen den Globus auf Pergament oder Papier bannten, war jede Karte mehr als bloße Geometrie. Sie war immer auch Ausdruck eines Weltbildes. Die mittelalterlichen Mappa Mundi legten Jerusalem in die Mitte und ordneten die Länder um sie herum nicht nach Maßstab, sondern nach Heilsgeschichte. Kolumbus wiederum segelte in dem Vertrauen, dass seine Kugel kleiner sei, als sie ist – und entdeckte so, ohne es zu wollen, eine Neue Welt. Karten waren nie nur Rechenarbeit, sie waren Spiegel einer geistigen Ordnung. Doch gerade deswegen entlarvt sich die heutige Klage über die Mercator-Projektion als durchsichtiges Manöver. Nicht die Religion, nicht die Entdeckerlust, nicht die Wissenschaft prägt hier den Maßstab, sondern das Ressentiment. Aus einer technischen Konvention, die Jahrhunderte der Seefahrt ermöglicht hat, wird ein Symptom „kolonialer Unterdrückung“ gemacht. Das ist nicht Fortschritt, sondern Rückfall – ein Rückfall in jene magische Denkweise, die glaubt, durch die Veränderung der Darstellung die Wirklichkeit selbst zu verwandeln.
Nebenbei: Die nach dem Kartografen Gerhard Mercator (1512-1594) benannte Form der Zylinderprojektion, bei der die Projektion in Richtung der Zylinderachse adäquat verzerrt ist, um eine winkeltreue Abbildung der Erdoberfläche zu erreichen, ist keine Projektion in physikalischer Hinsicht und kann daher nicht geometrisch konstruiert werden. 1569 ermöglichte er Schiffen damit den konstanten Kurs und revolutionierte in den folgenden Jahrhunderten die Seefahrt. Der Name Mercator wird noch heute mit technischer Präzision, aber auch wissenschaftlicher Offenheit und Toleranz in Verbindung gebracht. Viele Institutionen tragen seinen Namen. Doch die nach Mercator benannte Projektion der Welt stieß in der globalisierungskritischen Rezeption schon ab den 1970er Jahren auf anhaltenden Widerspruch. So schuf der deutsche Historiker Arno Peters eine „gerechte“ Weltkarte unter Einbeziehung der realen Größenverhältnisse der Kontinente (Gall-Peters-Projektion).
Die Argumentation gegen Mercator folgt dabei einer vertrauten Dramaturgie. Zunächst wird ein technisches Detail – die Verzerrung am Rand des Globus – als moralisches Problem aufgeladen. Dann treten Aktivistinnen auf den Plan, die klagen, Afrika sei „verzwergt“, unterrepräsentiert, seiner wahren Größe beraubt. Schließlich tritt die Afrikanische Union als Chorführer hinzu und erhebt das Kartenformat in die Sphäre globaler Gerechtigkeit. So verwandelt sich eine mathematische Projektion in eine Bühne identitätspolitischer Empfindlichkeiten. Es ist das Muster der woken Gegenwart: Man sucht nicht die Ordnung, sondern den Anstoß, nicht die Wahrheit, sondern die Kränkung. Man glaubt, durch ein neues Kartenbild Afrika „groß“ machen zu können, so wie ein Kind, das eine Figur größer malt, um sich stark zu fühlen.
Heuchelei einer woken Elite
Besonders pikant an dieser Kolumne ist, dass ihr Autor, Christian Vooren, im selben Medium im November 2021 angesichts der Corona-Pandemie explizit zu einer Spaltung der Gesellschaft aufrief – etwa durch separate Jobs für Ungeimpfte, Querdenker-Schulen und Covid-Wurmkuren, um die „Querfront" von der Mehrheit zu trennen. Derselbe Journalist, der damals eine bewusste Polarisierung der Gesellschaft forderte, um Konflikte zu schärfen, predigt nun eine vermeintliche globale Einheit durch kartographische Korrekturen. Diese Inkonsistenz unterstreicht die Heuchelei einer woken Elite, die Spaltung sät, wo es ihr passt, und Einheit einfordert, wo sie moralische Überlegenheit demonstrieren will. Es ist ein Muster, das die offene Gesellschaft untergräbt: Man instrumentalisiert Krisen – sei es Pandemien oder Projektionen – nicht zur Lösung realer Probleme, sondern zur Pflege ideologischer Narrative.
Die Projektion – so lehrt schon die Psychologie – ist ein altes Verfahren der Selbsttäuschung. Man schiebt das, was man nicht an sich selbst sehen will, dem anderen zu. In diesem Fall wird die eigene Schwäche, das eigene Versagen, die eigene politische Unordnung nach außen verlegt: Schuld ist die Karte, Schuld ist der Norden, Schuld ist die „Verzwergung“. Die Afrikanische Union und ihre Aktivistinnen finden damit die ideale Bühne im Westen, der sich mit moralischem Eifer in diese Klagen einschaltet. Es ist kein Zufall, dass Bonhoeffer die Dummheit nicht als Defizit des Intellekts, sondern als moralisches Versagen beschrieb. Dummheit ist Gefangenschaft in fremden Schlagworten, in gängigen Phrasen. Was hier stattfindet, ist genau das: eine Übernahme westlich woker Begriffe, die die Selbstkritik lähmt und das Denken in ritualisierte Vorwürfe presst.
Die eigentliche Misere aber liegt darin, dass solche symbolpolitischen Ersatzhandlungen den Blick auf die wirklichen Ursachen afrikanischer Schwäche verstellen. Kein Kind in Lagos oder Kinshasa hungert, weil Grönland auf einer Karte zu groß aussieht. Kein Terrorist in Mali legt die Waffe nieder, weil die Projektion gewechselt wird. Kein korrupter Minister in Kenia tritt ab, weil der Globus neuerdings flächentreu dargestellt wird. Doch der moralische Furor, der sich an der angeblichen „Verzwergung“ entzündet, verschafft das wohlige Gefühl, man habe den Norden ertappt, man habe endlich die eigentliche Quelle der Demütigung gefunden.
Pädagogik statt Politik
So entlarvt sich der Diskurs als das, was er ist: ein weiterer Baustein im Opfermythos, den der Westen selbst fleißig mitträgt. Denn ohne westliche Feuilletons, ohne woke NGOs, ohne universitäre Seminare voller postkolonialer Theorien wäre die Kampagne „Correct the Map“ nur ein Randphänomen. Erst die moralische Industrie Europas und Amerikas macht daraus ein globales Ereignis. Damit bestätigt sich erneut die Ironie dieser Bewegung: Sie lebt von der ständigen Anklage des Westens, während sie zugleich auf dessen Aufmerksamkeit, Ressourcen und Legitimation angewiesen ist.
Besonders durchsichtig wirkt schließlich der Versuch, das Ganze mit einem Sicherheitsargument zu bemänteln. Weil Analysten des Economist angeblich nordkoreanische Raketen falsch eingeschätzt hätten, solle man die Kartenprojektion ändern. Als ob Weltpolitik je an Millimeterangaben in der Geometrie gescheitert wäre! Hier spricht das Bedürfnis, einem identitätspolitischen Projekt den Anstrich nüchterner Vernunft zu geben. Man will nicht als Symbolkrieger dastehen, sondern als Realist. Doch es bleibt bei der Simulation: Das Pathos der „wahren Größe“ dient nur dazu, den Globalen Süden im Spiegelbild größer wirken zu lassen, als er sich selbst zutraut. Spengler hatte recht, als er feststellte, dass jede Kultur die Welt nur durch ihre eigenen Formen begreifen kann. Die Antike tat es in geometrischen Harmonien, das Abendland in der Unendlichkeit des Raumes. Heute, in der Epoche des kulturellen Niedergangs, ersetzt man diese Größe durch moralische Kleinlichkeit. Karten werden nicht mehr entworfen, um den Raum zu beherrschen, sondern um das Gefühl des Gekränktseins zu pflegen.
Und so erscheinen die Beispiele, die der ZEIT-Artikel selbst zitiert, unfreiwillig komisch. Wenn Donald Trump mit dem Zeigestock auf eine Schulkarte tippt, wenn Smotrich vor einer Westbank-Karte posiert, dann zeigen sie, was Karten seit jeher waren: Instrumente der Macht, Insignien der Herrschaft. Wer dagegen eine „gerechte“ Karte fordert, verwechselt Politik mit Pädagogik. Er will nicht herrschen, sondern erzogen werden. Hinzu kommt die westliche Doppelmoral. Der Autor selbst räumt ein, dass der Globale Norden seine Gerechtigkeit stets als gönnerhafte Geste inszeniert. Genau darin liegt das Geheimnis des Erfolges solcher woken Kampagnen: Sie bedienen das schlechte Gewissen des Westens und verschaffen ihm zugleich die Gelegenheit, sich als moralische Weltmacht zu präsentieren. So wird die angebliche Befreiung Afrikas durch neue Kartenprojektionen zu nichts anderem als einem weiteren Geschäft westlicher Sinnstiftung.
Die Karte ist nicht das Reich
Wer den Ernst der Lage kennt, weiß, dass die Größe Afrikas nicht in Maßstäben auf Karten liegt, sondern in seiner Fähigkeit, sich selbst zu regieren, seine Ressourcen nicht zu verschleudern, die Bevölkerungsexplosion zu bändigen, Rechtssicherheit zu schaffen. Stattdessen verlegt man sich auf Empfindlichkeiten und macht sich von der Gnade woker Deutungsagenturen abhängig. Die ZEIT-Kolumne ist so gesehen ein Musterstück jener Selbsttäuschung, die die offene Gesellschaft seit Jahren prägt: Sie ersetzt politische Substanz durch moralische Geste, sie verwechselt Wissenschaft mit Pädagogik, sie erklärt die Welt zum Symbolraum, in dem Kränkungen wichtiger sind als Ordnung.
Wer aber wirklich Größe will, muss Verantwortung übernehmen. Karten können täuschen, aber sie können nicht regieren. Afrika wird nicht groß, weil man seine Konturen auf einem Globus ausweitet, sondern weil es Rechtsstaaten schafft, Gewalt eindämmt, Korruption überwindet, Bildung fördert und Geburten kontrolliert. Ohne diese Realitäten bleibt jede kartographische Korrektur ein potemkinsches Dorf, eine woke Tapete über den Rissen der Wirklichkeit. Die Wahrheit ist schlicht: Afrika ist groß – ungeheuer groß, reich an Bodenschätzen, reich an Menschen. Aber dieser Reichtum droht zum Fluch zu werden, solange er nicht durch Ordnung, Maß und Form gebändigt wird. Das alte Europa wusste, dass Größe nicht auf Papier entsteht, sondern in der Fähigkeit, das Chaos zu meistern. Wer dagegen glaubt, durch den Wechsel der Projektion die Welt zu verbessern, verrät das Erbe der Aufklärung und fällt zurück in magisches Denken.
„Die Karte ist nicht das Reich“, schrieb Alfred Korzybski, ein nüchterner Beobachter des 20. Jahrhunderts. Doch genau das verwechseln die heutigen Aktivisten. Sie halten die Darstellung für das Sein, den Maßstab für die Macht, die Fläche für die Wahrheit. So verraten sie, dass es ihnen weniger um Afrika geht als um die Fortsetzung einer woken Weltreligion, die überall Symbole jagt und nirgends Substanz berührt. Afrika wird nicht durch Karten groß, sondern durch Kultur. Und Kultur entsteht nicht im Ressentiment, sondern im Willen zur Ordnung. Der Rest ist Projektion – im doppelten Sinn des Wortes.
Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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