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Thomas Hartung: KRANKER MANN ODER KRANKE REPUBLIK?

  • vor 14 Stunden
  • 11 Min. Lesezeit

Zur Verteidigung konservativer Souveränität gegen die Psychologisierung des Dissens‘: Ein Einspruch gegen Martina Lackners absurde These.


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Es ist das alte Spiel mit neuen Mitteln: Wer der hegemonialen Kultur widerspricht, wird nicht mehr widerlegt – er wird behandelt. Statt Auseinandersetzung gibt es Diagnose. Statt Widerrede: Einordnung. Und statt politischen Ernstes: Fernanalysen aus der Soziothek. Martina Lackners Focus-Text „Isoliert und plötzlich radikal” zur eskapistischen Radikalisierung von Ü 60-Männern im digitalen Raum ist ein Paradebeispiel dieser herrschaftlichen Einordnungspädagogik: analytisch getarnt, aber autoritär in Wirkung und Absicht. Was Lackner beschreibt, ist nicht Radikalisierung – sondern Repräsentationsverweigerung durch das System. Was sie „Eskapismus“ nennt, ist der gesunde Rückgriff auf eine alternative Öffentlichkeit. Was sie „digitale Blasenbildung“ nennt, ist Schutzraum gegen mediale Dauervergiftung. Und was sie letztlich als psychologisch defizitär etikettiert, ist in Wahrheit: politische Urteilskraft.


Psychologin Lackner behauptet in ihrem Online-Aufsatz, dass sich in Foren, Kommentarspalten und alternativen Plattformen eine gefährliche Subkultur bilde: ältere, oft politisch rechtsorientierte Männer, die sich der Realität verweigerten, sich in Wutblasen flüchteten und dabei zunehmend radikalisierten. Doch ihre Diagnose folgt einem vertrauten Muster: Wer sich der linken kulturellen Hegemonie entzieht, wird nicht argumentativ bekämpft, sondern pathologisiert. Die Motive der Kritiker zählen nicht – nur deren Alter, Geschlecht und vermeintliche Frustration. Die intellektuelle Substanz wird durch psychologische Etiketten ersetzt: „Eskapismus“, „Verlustängste“, „Filterblase“, „toxische Nostalgie“, „digitale Regression“.


Diese Begriffe sind verräterisch: Sie sind keine politologischen Kategorien, sondern therapeutische Kampfbegriffe. Lackner hat keine Gespräche geführt, keine Biographien untersucht, keine tiefergehenden Analysen der Inhalte vorgenommen. Stattdessen schaut sie von oben herab in eine anonyme Masse älterer Männer – wie ein Pfleger auf eine geschlossene Station. Man erinnert sich an Michel Foucaults Diagnose zur modernen Macht: Die Gewalt des Systems kommt nicht mit Knüppel und Kaserne, sondern mit Diagnose und Disqualifikation. Die neue Unterdrückung geschieht nicht durch Zensur, sondern durch Pathologisierung. Der neue Dissident ist kein Staatsfeind mehr – sondern ein Fall für den Verhaltenstherapeuten.


Der „alte weiße Mann“ als kulturelles Totem


Was in Lackners Text ungenannt mitschwingt, ist das kulturelle Totem unserer Zeit: der „alte weiße Mann“. Nicht mehr konkret, aber omnipräsent. Er steht für alles Rückständige, Reaktionäre, Belastende. Doch Lackner geht weiter: Der Mann ist nicht nur gefährlich, sondern auch krank. Seine Radikalisierung sei eskapistisch – ein Fluchtverhalten vor einer überkomplexen Welt. Seine Ablehnung von Gender-Ideologie, Migrationsromantik und Klimamoral sei nicht rational, sondern emotional getrieben, ja regressiv. Früher hätte man das „Frauenhass“ genannt, heute ist es „Entwicklungsstörung“. In beiden Fällen dient es einem Zweck: die Delegitimierung des Arguments durch das Herabwürdigen des Absenders. Man diskutiert nicht mit Geisteskranken. Man schließt sie aus – fürsorglich natürlich, therapeutisch korrekt.


Eskapismus, wie Lackner ihn verwendet, ist ein Begriff aus der Medienpsychologie. Er beschreibt den Rückzug in eine Phantasiewelt, um sich einer – oft als bedrohlich empfundenen – Wirklichkeit zu entziehen; der Science Fiction wurde diese literarische Funktion häufig unterstellt. Lackner überträgt dieses Konzept auf ein politisches Phänomen: ältere Männer, die sich „nicht mehr wiederfinden“ in der Welt der Genderdebatten, der multikulturellen Normalität, der Klimapolitik und der digitalen Geschwindigkeit. Sie unterstellt, dass diese Männer keine politischen Gegner seien, sondern Desorientierte – mithin Patienten. Ihre Kritik an der Gegenwart sei keine ideologische Position, sondern eine pathologische Reaktion. Ihre Abwendung vom öffentlichen Diskurs sei kein Misstrauen gegenüber den Institutionen, sondern ein Rückfall in infantile Regressionsmuster. Diese Deutung entpolitisiert die Wirklichkeit. Sie entzieht dem konservativen Argument seine Würde, indem sie es zum Symptom erklärt.


So wird aus der Sorge um kulturellen Zerfall ein nostalgisches Bedürfnis, aus dem Widerstand gegen Entgrenzung eine Angststörung. Der politische Mensch wird durch das psychologische Objekt ersetzt. Was einst als Meinungspluralismus galt, wird heute zur Auffälligkeit. Dissens ist nicht mehr erlaubt, sondern auffällig. Und was auffällt, wird eingeordnet. Man kennt das längst von anderen Beispielen: Genderkritik? Gilt als „transfeindlich“, also als Ausdruck eines „starren binären Denkens“ – ein möglicher Indikator für rigide Persönlichkeitsmuster. Regierungskritik? Gilt als „Verschwörungsaffinität“, als „institutionelles Misstrauen“, oft Ausdruck einer narzisstischen Kränkung oder autoritären Sehnsucht. Medienkritik? Gilt als „Feind der Pressefreiheit“, als Ablehnung rationaler Diskursformate – verbunden mit einer antisozialen Persönlichkeitsstruktur.

Und erst recht Heimatliebe oder Traditionsbewusstsein? Wird schnell als „reaktionärer Identitätsersatz“ gedeutet – pathologischer Selbstwertersatz im Spätpatriarchat. Der Konservative wird so zum Fall. Der Dissident zum Defizit. Und der abweichende Bürger zur psychischen Störung auf zwei Beinen. Lackner macht keinen Hehl daraus, dass es vor allem „ältere weiße Männer“ seien, die sich radikalisierten. Das ist kein Zufall – es ist Strategie. Denn das Alter erlaubt es, Kritik als „nicht mehr zeitgemäß“ zu etikettieren. Und das Geschlecht erlaubt es, jede Form von Autorität als Relikt patriarchaler Strukturen zu diskreditieren.


Doch vielleicht sind es nicht „die alten Männer“, die sich radikalisieren – sondern die junge Gesellschaft, die sich infantilisiert. Vielleicht ist es keine Rückzugsreaktion, sondern die Letztverantwortung des Alters, die sich artikuliert: ein letztes Aufbegehren gegen die Preisgabe alles Gewachsenen. Die Wahrheit ist: Diese Männer haben Verantwortung getragen, haben Familien ernährt, haben Gesellschaft gebaut – und jetzt sollen sie ruhig sein, weil ein 23-jähriger Diversitätsreferent meint, die Welt neu zu ordnen? Man nennt das nicht Eskapismus – man nennt das Würde.


Flucht oder Gegenöffentlichkeit?


Lackner spricht von „Radikalisierung in digitalen Echokammern“. Aber was ist die ARD, wenn nicht eine Echokammer? Was sind die Twitter-Feeds von Grünen-Politikern, wenn nicht monokulturelle Meinungsblasen? Der Unterschied ist nur: In den digitalen Räumen der Dissidenz herrscht keine Moderationshoheit, keine semantische Dressur. Dort wird nicht geschnitten, sondern ausgesprochen. Nicht gegendert, sondern gedacht.


Dass sich gerade dort ältere Männer versammeln, ist kein Zeichen ihrer Entfremdung – es ist ein Indikator ihrer Urteilskraft. Sie haben lange genug zugeschaut, wie ihre Stimme marginalisiert wurde. Nun nutzen sie ihre Mittel – nicht um zu fliehen, sondern um zu sprechen. Lackner will suggerieren: Diese Männer fliehen aus der Debatte. In Wahrheit retten sie sie. Denn ohne diese digitalen Räume gäbe es keine Gegenöffentlichkeit mehr. Keine Kritik an Corona-Exzessen, an Migrationsdogmen, an Klima-Zwangslogiken. Ohne Telegram, X, freie Blogs und unzensierte Kommentarspalten gäbe es nur das Rauschen der Einheitsmeinung.


Was Lackner als Fragmentierung beklagt, ist der Ausdruck eines elementaren demokratischen Reflexes: die Reaktion auf die Homogenisierung der öffentlichen Meinung. Der digitale Raum wird deshalb nicht zur Parallelwelt – sondern zur Korrekturfläche. Was viele ältere Männer im digitalen Raum eint, ist nicht Wut, sondern Enttäuschung. Sie erleben sich als entrepräsentiert – von Parteien, Medien, Kulturbetrieb. Ihre Erfahrung wird nicht mehr gefragt, ihr Urteil nicht mehr akzeptiert, ihre Sprache nicht mehr erlaubt.


Wenn ein 65-jähriger Maurermeister, der vier Kinder großgezogen, Steuern gezahlt und im Verein Verantwortung übernommen hat, heute als „rechtsoffen“ gilt, weil er Gendern ablehnt oder Multikulti nicht feiert, dann ist nicht er das Problem – sondern das System, das ihn zum Problem erklärt. Die vermeintliche Radikalisierung ist oft nichts anderes als die Reaktion auf den Ausschluss aus dem Diskurs. Wer nirgends mehr vorkommt, gründet eigene Räume. Wer nicht mehr sprechen darf, schreit. Und wer nicht mehr ernst genommen wird, wird zynisch.


Die radikalisierte Normalität


Was man diesen Männern vorwirft, ist nicht etwa Gewalt oder Hetze – es ist der Versuch, normal zu bleiben in einer Zeit, die Normalität für verdächtig erklärt hat. Sie sprechen über Nation, Grenzen, Familie, biologische Geschlechter, über Verantwortung, Ordnung, Identität. Das alles war noch vor 20 Jahren Teil jedes politischen Diskurses. Heute ist es „Radikalisierung“. Tatsächlich hat sich die Gesellschaft radikalisiert – nicht die Männer. Wer heute sagt, dass ein Mann kein „Mutterperson“ ist, dass Migration gesteuert sein muss, dass Kinder Mütter und Väter brauchen, dass Heimat nicht rassistisch ist – der steht plötzlich außerhalb des Sagbaren. Was für eine Umkehrung!


Die Psychologisierung politischer Opposition ist ein Zeichen politischer Schwäche. Eine gefestigte Demokratie braucht keine Diagnosen – sie braucht Debatte. Wer aber nicht mehr diskutieren kann, beginnt zu analysieren: den Ton, den Habitus, die Altersgruppe, das „Framing“. Und wo das nicht reicht, kommen Deutungsmacht und Gesinnungsforensik. Man könnte sagen: Die Demokratie stirbt nicht am lautstarken Dissens der Alten – sondern an der geräuschlosen Therapie der Anderen.


Was Lackner übersieht – oder ausblendet – ist die rationale Dimension des konservativen Dissenses. Es geht nicht um Eskapismus, sondern um Urteilskraft. Nicht um Rückzug, sondern um Widerstand. Und nicht um die Flucht vor der Welt, sondern um den Versuch, sie vor ihrer Auflösung zu bewahren. Dass ältere Männer in besonderer Zahl in alternativen Milieus präsent sind, liegt nicht an ihrer Flucht, sondern an ihrem Gedächtnis. Sie erinnern sich an ein anderes Land. Und sie wissen, wie sich politische Umbrüche anfühlen – nicht als rhetorisches Konstrukt, sondern als biografisches Faktum.


Es ist nicht das Alter, das radikalisiert – es ist die Erfahrung. Wer 30 Jahre politisches Engagement, kulturelle Umbrüche, Werteverschiebungen, mediale Einseitigkeit und juristische Asymmetrien erlebt hat, kommt oft zu anderen Schlüssen als ein 22-jähriger Sozialarbeitsstudent. Hier wirkt keine Demenz – hier wirkt Geschichte. Lackner wertet Telegram-Gruppen, YouTube-Kommentare und private Foren als digitale Fluchträume. Doch sie verkennt ihre Funktion: Diese Räume sind nicht Rückzugsorte, sondern Alternativen. Dort wird nicht die Realität verweigert, sondern die verordnete Realität hinterfragt. Die „eskapistische Radikalisierung“, von der sie spricht, ist in Wahrheit ein Aufstand gegen eine politische Sprache, die Alternativlosigkeit behauptet und Zweifel kriminalisiert.


Entwirklichung der Kritik


Binnen weniger Stunden waren auf Facebook und X hunderte Kommentare aufgelaufen. Die überwältigende Mehrheit der Kommentatoren lehnt die These der Psychologin ab, empfindet die Argumentation als absurd oder übertrieben und sieht sie als unbegründet, ideologisch gefärbt oder gar als Versuch, kritische Meinungen zu pathologisieren. Die Stimmung reicht von spöttischer Ablehnung bis hin zu ernsthafter Sorge über eine mögliche politische Überwachung oder Umerziehung. Dabei waren die X-Posts direkter, emotionaler, mit einem starken Fokus auf politische Polemik, etwa  „Wenn mich links/Rot/Grün und deren Vorplapperer dafür halten, muss ich ja alles richtig gemacht haben“, und auf Humor wie „Ich würde sie ins Kabarett schicken“.


Die Idee, dass der Ruhestand einen Identitätsverlust auslöst, der zu Radikalisierung führt, wird als vereinfachend oder unbegründet abgelehnt. Ein Nutzer schreibt: „Warum sollte man eine ‚Ersatzidentität‘ in der Politik suchen? Wenn man älter wird, hat man immer weniger Lust auf diesen Kram.“ Könnten die Diskussionen um die „Rente mit 70“ auch damit zu tun haben, dieser Bevölkerungsgruppe einen kürzeren Ruhestand und damit weniger digitale Resonanz zu verschaffen? Viele Kommentatoren argumentieren auch, dass ältere Männer aufgrund ihrer Lebenserfahrung und politischen Bildung eher kritische, oft konservative Ansichten entwickeln, die nicht zwangsläufig radikal sind. Ein Rentner (78) erwähnt: „Die Weisheit kommt von sehr vielem Lesen, recherchieren und vergleichen.“ Einige Nutzer fragen auch, warum nur ältere Männer ins Visier genommen werden, und deuten an, dass auch ältere Frauen oder jüngere Menschen radikale Tendenzen zeigen könnten.


Ein besonders problematischer Aspekt von Lackners Argumentation ist ihr Glaube, dass die digitale Radikalisierung älterer Männer auf „Realitätsverweigerung“ beruhe. Doch wer verweigert hier wem die Realität? Sind es die Männer, die den Verlust von Innerer Sicherheit, Meinungsfreiheit und ethnischer Kohärenz beklagen – oder die Autorin, die in jedem Warnruf einen Angriff auf die Demokratie sieht? Ist es eskapistisch, auf Zahlen zu verweisen, auf Wahlergebnisse, auf Kriminalstatistiken, auf Entfremdung im öffentlichen Raum? Oder ist es eskapistisch, all das durch den Filter des Vorwurfs zu tilgen: Das sind nur „alte weiße Männer“, die nicht loslassen wollen. Die Kritik an der Migrationspolitik? Biographisch motivierter Frust. Die Ablehnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Projektion. Die Sorge um Meinungsfreiheit? Empörungssehnsucht. Was hier geschieht, ist eine kollektive Entwirklichung der Kritik – eine semantische Zersetzung des politischen Arguments.


Extinction Burst als Aufschrei


Man kennt das aus der Verhaltenspsychologie: Wenn ein zuvor belohntes Verhalten plötzlich keinen Erfolg mehr bringt, erfolgt nicht etwa sofortige Anpassung, sondern zunächst eine Eskalation – ein letzter, verzweifelter Versuch, das alte Muster doch noch zum Funktionieren zu bringen. Diese Phase nennt sich Extinction Burst: Verhalten wird lauter, krasser, aggressiver, irrationaler. Es ist das letzte Aufbäumen vor dem Zusammenbruch. Das Kind, das keine Süßigkeiten mehr bekommt, schreit heftiger. Der Spielsüchtige, der verliert, setzt alles. Der Influencer, dem niemand mehr zuhört, polarisiert radikaler. Und die Ideologie, deren kulturelle Selbstverständlichkeit bröckelt, beginnt zu hyperventilieren.


Das illustriert ein parallel zu Lackner erschienener SPIEGEL-Text: „Warum das Patriarchat gerade deshalb so laut ist, weil es stirbt“ – eine Tirade gegen „Christfluencer“, „Alpha-Bros“ und die letzte Bastion männlicher Urteilskraft. Die gerade 34jährige Autorin Tara-Louise Wittwer glaubt, darin einen biologisch erklärbaren Todeskampf männlicher Machtstrukturen zu erkennen – doch ungewollt beschreibt sie genau das, was ihre eigene Ideologie längst betrifft: Ein Weltbild, das immer schriller wird, weil es keine Selbstverständlichkeit mehr besitzt. Wenn Privilegien sichtbar werden, werden ihre Träger laut. Und wenn die Diskurshoheit zu entgleiten droht, wird jeder Dissens als Gefahr geframed.


Das Phänomen „Extinction Burst“ lässt sich vor der Eskapismus-Folie als Aufschrei derer lesen, die nicht mehr vorkommen sollen, aber nicht verstummen wollen. Nicht nur der Zerfall schreit, sondern auch die Erinnerung. Nicht nur das Alte, das stirbt – sondern das Verworfene, das nicht sang- und klanglos untergehen will. Im Unterschied zu feministischen Untergangsszenarien geht es den „alten Männern“ nicht um Herrschaftssicherung, sondern um Sinn- und Deutungsbehauptung. Ihre Reaktion ist nicht primär aggressiv, sondern existenziell: ein letztes Bemühen, in einer Welt voller Entwertung noch zu zählen, noch etwas gelten zu dürfen – als Stimme, als Erfahrung, als biografische Autorität.


Was als „toxischer Aufschrei“ diskreditiert wird, ist oft der letzte politische Akt eines bürgerlichen Selbst, das von allen Seiten delegitimiert wird: durch Moralphilosophie, durch Gesinnungspädagogik, durch Diskursrestriktion. Der 75-jährige, der sich in einem Kommentarforum Gehör verschafft, der Pensionär, der einen Blog betreibt, der Maurermeister, der gegen das Gendern protestiert – sie schreien nicht, weil sie Macht erhalten wollen, sondern weil sie erleben, dass ihre Lebensleistung ausgelöscht werden soll: als verdächtig, als rückständig, als unzeitgemäß.


Der Extinction Burst ist so betrachtet nicht nur der Schrei des Systems, das zusammenbricht – sondern auch der letzte Atemzug einer existenziell herausgeforderten Generation, die nicht verstanden wird, aber verstanden werden will. Diese Männer sprechen nicht mehr „von oben herab“. Ihr Pathos ist kein patriarchaler Gestus – sondern die Form, in der sie gegen ihre symbolische Löschung ankämpfen. Es ist diese ambivalente Dialektik, die dem Phänomen seine politische Sprengkraft verleiht. Der gleiche Akt – das lauter Werden, das Verharren auf Tradition, das Ringen um Sprache – kann aus beiden Richtungen gedeutet werden: als letztes Zucken der Macht oder als letzter Ausdruck von Würde.


Wer das Phänomen auf eine Seite verkürzt – auf bloßen Machterhalt im Sinne eines Krisensymptoms einer hegemonialen Diskursordnung, die in ihrer finalen Phase um Kontrolle kämpft; oder bloße Selbstaufgabe –, verfehlt seine Tiefenschärfe. Der Extinction Burst ist nicht bloß regressiv. Er ist auch ein Appell. Nicht: „Gebt uns die Deutungshoheit zurück“, sondern: „Erkennt an, dass auch wir Erfahrung haben – Urteilskraft, Verantwortung, Geschichte.“ Wenn das System das nicht hören will, ist es nicht die alte Welt, die scheitert – sondern die neue, die sich verweigert. Der Schrei dieser Männer ist nicht der Schrei des Patriarchats. Es ist der Schrei einer Demokratie, die ihre Väter nicht mehr kennt.


Der Konservative als Gedächtnis der Demokratie


Denn der Konservative hat in jeder Gesellschaft eine unverzichtbare Funktion: Er erinnert an das, was war, und fragt, ob es bleiben soll. Er will bewahren, nicht verweigern. Doch in einer Zeit, in der „Veränderung“ als höchste Tugend gilt, wird Bewahrung zur Sünde. Lackner erkennt diese Funktion nicht. Für sie ist der Konservative ein Defekt in der gesellschaftlichen Modernisierung. Dabei wäre es gerade heute nötig, auf jene zu hören, die nicht in den Algorithmus der Veränderung fallen – auf die Langsamen, Bedachten, Überlegten. Auf die, die noch wissen, wie es war, als Politik sich am Bürger und nicht an Moralbildern orientierte.


Die Konstruktion des „radikalisierten alten Mannes“ erfüllt auch eine systemstabilisierende Funktion: Sie externalisiert den Dissens. Wenn nicht das System falsch liegt, sondern nur ein überforderter Teil der Gesellschaft, dann braucht man nichts zu ändern – man muss nur therapieren. Lackners Text ist deshalb nicht emanzipatorisch, sondern konformistisch. Er liefert eine beruhigende Deutung für all jene, die nicht mehr wissen, warum so viele Menschen abwandern, aussteigen, protestieren. Es liegt nicht an der Politik, sondern an den alten Männern. Eine bequeme Antwort – aber eine falsche. Nicht Eskapismus – sondern Provokation. Und sie ist nicht irrational, sondern die letzte Form rationaler Verteidigung in einem System, das seine Bürger längst durchleuchtet, einsortiert und entmündigt hat.


Was Lackner als „eskapistische Radikalisierung“ beschreibt, ist in Wahrheit der Versuch, kulturelle Selbstachtung zu bewahren – in einer Welt, die dies zunehmend delegitimiert. Die konservativen Milieus älterer Männer sind nicht Symptome eines Rückzugs, sondern Zeichen eines Aufbegehrens – eines zivilen, klugen, historisch informierten Aufbegehrens. Diese Männer suchen nicht die Flucht – sie suchen Resonanz. Sie sind keine Bedrohung für die Demokratie – sie sind deren Gedächtnis. Und sie verdienen nicht Therapie – sondern Respekt. Wer das nicht sehen will, kann sich weiter mit Diagnosen trösten. Oder er hört diesen Männern endlich zu – bevor sie wirklich verstummen



Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.




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